Abgerissen – Vergänglichkeit und Schicksal
Bis dass der Tod uns scheidet
Die Geschichte einer unerfüllten Sehnsucht
Hundertsiebenundzwanzig Kilo waren es, die er täglich durch die Gegend schob. Dabei waren nur sechzig erlaubt. Sein Wagen war um etliche Taschen erweitert und er freute sich jeden Morgen auf den frühen Nachmittag. Dann hatte er die Hälfte der Briefe verteilt und die Last wurde leichter. Postbote war nicht sein Traumjob gewesen, er hatte Lehrer werden wollen. Seine schulischen Leistungen reichten für ein Studium nicht aus und er wünschte sich einen Beruf, der ihm ebenfalls einen frühen Feierabend verhieß. Doch rund 1500 Briefe, diverse Kleinpäckchen und Zeitungssendungen wollten in den Briefkästen landen und da hieß es oft, sich im Laufschritt zu bewegen, wenn man abends früh auf der Couch sitzen wollte. Jeden Tag legte er im Schnitt sieben Kilometer Weg zurück. Weiterlesen
Manchmal bin ich unsichtbar
Eine Geschichte über das Alter
Gertrude entriss das Halstuch dem Haken und verstaute es in den Plastiktüten, die inzwischen bis zum Rand mit Kleinteilen aus den Abteilungen des Kaufhauses gefüllt war. Der Detektiv hatte den Hörer bereits am Ohr und wählte die Nummer des Reviers um die Ecke, als er auf dem Bildschirm Gertrude zur Kasse spazieren sah und innehielt. „Bitteschön“, sagte Gertrude zur Kassiererin und überreichte ihre Sammlung mit einem freundlichen Kopfnicken. Die Verkäuferin nahm die Tüten verwirrt entgegen, warf einen Blick hinein und sah Gertrude fragend an. „Ich habe meinen Koffer verloren“, antwortete sie. Weiterlesen
Scherzmanns Rettung
Ein Mann in Angst
Scherzmann schloss die Tür hinter den letzten Besuchern und schob jeden der fünf Riegel langsam und sorgfältig zu, nicht ohne ihren stabilen Halt noch einmal zu überprüfen. Er drehte sich zur Wand, zog seine getigerten Pantoffeln aus und griff zu der Drahtspule auf dem hellblauen Dielenstuhl. Auf blanken, blassen Füßen, auf deren rechtem Zeh kleine schwarze Haare wuchsen, während der linke ganz kahl war, schlich er in die Küche, vorbei an den kleinen Türmen voller gesammelter Schätze, die von der Diele nur noch einen schmalen Gang sehen ließen. Weiterlesen
Taube Ohren
Aus dem Leben der Therèse Brecht
Therèse Fließheim geborene Brecht sagte man nach, sie ruhe in sich, was sie Zeit ihres Lebens als unbefriedigend empfand. Ihren neunundneunzigsten Geburtstag feierte sie im Kreis ihrer Familie, der aus einem Sohn und einer Tochter, zwei Schwiegerkindern, vier Enkelkindern und drei Urenkeln bestand. „Mir geht es gut, doch, wirklich“, schrie sie fast, denn ihr Hörgerät erfasste kaum noch Geräusche der Außenwelt und kaum noch ihre eigene Stimme. „Alle mögen mich noch, glaube ich. Und das ist doch die Hauptsache“, pflegte sie hinzuzufügen und tat es auch jetzt. Niemand stritt das ab oder gar mit ihr. Niemand hörte, was eigentlich nicht zu überhören war. Weiterlesen
Wenn der Bagger kommt – Buchversion der vierteiligen Reportage
Über die letzten Bewohner eines untergehenden Dorfes
David gegen Goliat. Ich habe Inge Broska angerufen und gefragt, wie ich zu ihr komme. „Du fährst durch Jüchen und dann immer gerade aus und dann kommst Du zu uns“, sagt sie. Zu uns. Ungefähr 17 Menschen wohnen noch in ihrem Dorf. Es waren einmal über 1600. Auf dem Weg nach Otzenrath, gerade mal 50 m entfernt, tut sich ein riesiges Loch auf. Braunkohletagebau. Dieser Goliath kämpft sich vor. Nur hat der kleine David hier keine Chance mit seiner Steinschleuder. Er hat schon eine Menge Beulen davon getragen. Doch sein Zuhause liegt im Sterben. David hat protestiert, hat auf den energiepolitischen Widersinn hingewiesen, geklagt, versucht zu argumentieren, ist mit Fackeln durch den Ort gezogen. Nichts hat genützt. Goliath ist stärker. Goliath zerstört – Rittergüter, mittelalterliche Gänge und Gebäude, Kultur und gewachsene Struktur. Goliath hat Geld. Man hat David erzählt, er verliere seinen Arbeitsplatz, wenn er seine Heimat nicht aufgebe und an einen anderen Ort ziehe. David hat es schließlich geglaubt und hat zum Wohl der Allgemeinheit – wohl eher zum Wohl des Konzerns – sein Zuhause, seine Vergangenheit, seine Erinnerungen und seinen Kindheit hingegeben und wurde – noch lange nicht im Rentenalter – entlassen. Jetzt hat er weder ein Zuhause noch den Job. Weiterlesen
Wenn der Bagger kommt – Teil 1
Über die letzten Bewohner eines untergehenden Dorfes. Ein Gespräch in vier Teilen.
David gegen Goliat. Ich habe Inge Broska angerufen und gefragt, wie ich zu ihr komme. „Du fährst durch Jüchen und dann immer gerade aus und dann kommst Du zu uns“, sagt sie. Zu uns. Ungefähr 17 Menschen wohnen noch in ihrem Dorf. Es waren mal über 1600. Auf dem Weg nach Otzenrath, gerade mal 50 m entfernt, tut sich ein riesiges Loch auf. Braunkohletagebau. Dieser Goliath kämpft sich vor. Nur hat der kleine David hier keine Chance mit seiner Steinschleuder. Er hat schon eine Menge Beulen davon getragen. Doch sein Zuhause liegt im Sterben. David hat protestiert, hat auf den energiepolitischen Widersinn hingewiesen, geklagt, versucht zu argumentieren, ist mit Fackeln durch den Ort gezogen. Nichts hat genützt. Goliath ist stärker. Goliath zerstört – Rittergüter, mittelalterliche Gänge und Gebäude, Kultur und gewachsene Struktur. Goliath hat Geld. Man hat David erzählt, er verliere seinen Arbeitsplatz, wenn er seine Heimat nicht aufgebe und an einen anderen Ort ziehe. David hat es schließlich geglaubt und hat zum Wohl der Allgemeinheit – wohl eher zum Wohl des Konzerns – sein Zuhause, seine Vergangenheit, seine Erinnerungen und seinen Kindheit hingegeben und wurde entlassen, da war er noch gar nicht im Rentenalter. Jetzt hat er weder ein Zuhause noch den Job. Ich halte bei Goliath an. Schaue in das Loch und auf die riesengroßen Schaufelbagger. Außer mir steht hier noch ein Grüppchen Menschen und fotografiert. Einige Kinder spielen auf Steinen. Hier ist es laut. Ich fahre weiter. Weiterlesen
Wenn der Bagger kommt – Teil 2
Über die letzten Bewohner eines untergehenden Dorfes. Ein Gespräch in vier Teilen.
Sich mit dem Sterben des sogenannten „Geisterdorfes“ abzufinden, ist nicht leicht. Inge muss täglich dabei zusehen. Geisterdorf … die Erinnerung spukt hier, vielleicht auch die Seelen derjenigen, die nicht gehen wollten und konsequent Entscheidungen trafen. Und so machen sie und ich zunächst bei Kaffee und Keksen und nicht zum letzten Mal einen Ausflug auf den Friedhof. „Ich hab gehört, dass eine alte Dame aus Otzenrath, als sie von der Umsiedlung hörte, geäußert hat, sie ginge nicht mehr mit. Und die ist dann auch noch hier im Ort gestorben, quasi auf Entschluss“, werfe ich ein. „Das passiert oft. Gerade hast Du ja gesehen, dass meine Nachbarin, die 88 Jahre alt ist, gerade um zieht, nach langem Hin und Her…“ Inge seufzt „… also ich wünsche ihr, dass sie noch lange lebt, aber meistens sterben sie dann ganz plötzlich. Eine Dame war 93 und ist innerhalb von ein paar Wochen gestorben und das ist ganz oft so… nicht nur Frauen sterben, auch Männer.“ Umziehen werden auch die Leichen. Weiterlesen
Wenn der Bagger kommt – Teil 3
Über die letzten Bewohner eines untergehenden Dorfes. Ein Gespräch in vier Teilen.
Hermann, Inges Kater, macht sich gähnend auf in den Garten. Mäuse und Futter für den alten gibt es in diesem zur Wildnis mutierenden Ort genug. Wenn der Bagger Alt-Otzenrath in baumlose Gruben verwandelt, hätte Hermann keine Chance mehr.
Ich habe vom Engagement einiger Dorfbewohner Otzenraths gehört, die zurück-gelassenen Hermanns, Mietzis und Hassos nicht ihrem Schicksal zu überlassen. „Auch die Tiere werden heimatlos. Und ihr initiiert hier was, “ setze ich an und Inge berichtet gleich eifrig: „Am Besten kann ich das erklären, wenn ich von diesem Haus ausgehe. Hier gab es früher Schweine, Gänse, Enten, Hühner, Kaninchen und Ziegen – mein Opa hatte sogar ein Ziegendiplom – er hatte die schönsten Ziegen – Nicolaus Jansen – das waren ja mehr oder weniger alles Nutztiere, jetzt gibt es hier nur Katzen. Weiterlesen
Wenn der Bagger kommt – Teil 4
Über die letzten Bewohner eines untergehenden Dorfes. Ein Gespräch in vier Teilen.
Wir gehen schließlich die weiße Holztreppe hinauf in die erste Etage, in die drei hellen, kleinen Räume. Die Holzdielen knarren und ich stoße mir, obwohl ich recht klein bin, beinahe den Kopf an einer Tür. Hier riecht es wie früher in den Räumen, in denen meine Oma zu Hause war … nach einer Mischung aus Kölnisch Wasser, süßlicher Wärme und Schokolade. In diesen Räumen zu sein, fühlt sich wie eine herzliche, lange Umarmung nach einem Wiedersehen an. Wir verlassen die erste Etage nach einem recht langen Pläuschchen wieder, um durch die schmale Küche, in der Hermann wieder vor sich hin schnurrt, in den Garten zu gehen. Inge hat die Äpfel von den uralten Bäumen ihres Gartens zum Reifen auf eine alte Tür gelegt, die übergangsweise als Tisch dient. Eine Regentonne wartet bis zum Letzten auf die Gießkanne. Auf einem Ziegelstein vor Inges geliebten Wildblumen, die sie auch noch umpflanzen will, steht eine Blechtasse mit leicht verwelkten Rosen. Eine alte Toilettenhäuschentür in bäuerlichem Grün ist ebenfalls ausgebaut und wartet darauf, von Inge in ihr neues Domizil gebracht zu werden. Weiterlesen