Wenn der Bagger kommt
Über die letzten Bewohner eines untergehenden Dorfes
David gegen Goliath
Ich habe Inge Broska angerufen und gefragt, wie ich zu ihr komme. „Du fährst durch Jüchen und dann immer gerade aus und dann kommst Du zu uns“, sagt sie. Zu uns. Ungefähr 17 Menschen wohnen noch in ihrem Dorf. Es waren einmal über 1600. Auf dem Weg nach Otzenrath, gerade mal 50 m entfernt, tut sich ein riesiges Loch auf. Braunkohletagebau. Dieser Goliath kämpft sich vor. Nur hat der kleine David hier keine Chance mit seiner Steinschleuder. Er hat schon eine Menge Beulen davon getragen. Doch sein Zuhause liegt im Sterben. David hat protestiert, hat auf den energiepolitischen Widersinn hingewiesen, geklagt, versucht zu argumentieren, ist mit Fackeln durch den Ort gezogen. Nichts hat genützt. Goliath ist stärker. Goliath zerstört – Rittergüter, mittelalterliche Gänge und Gebäude, Kultur und gewachsene Struktur. Goliath hat Geld. Man hat David erzählt, er verliere seinen Arbeitsplatz, wenn er seine Heimat nicht aufgebe und an einen anderen Ort ziehe. David hat es schließlich geglaubt und hat zum Wohl der Allgemeinheit – wohl eher zum Wohl des Konzerns – sein Zuhause, seine Vergangenheit, seine Erinnerungen und seinen Kindheit hingegeben und wurde – noch lange nicht im Rentenalter – entlassen. Jetzt hat er weder ein Zuhause noch den Job.
Das Reich der trügerischen Stille
Kein Ortsschild mehr. Ich sehe die ersten eingeschlagenen Fensterscheiben, die ersten abgerissenen Häuser, Brachen – Felder, in denen man Bruchstücke von Kacheln, Ziegelsteine, Glas finden kann. Die evangelische Kirche hat ihre Spitze verloren, an der Bushaltestelle haben sich Kinder mit Filzstift verewigt und hinterlassen, wer in wen und wann verliebt oder wer einfach nur „doof“ war. Ich erreiche die Düsseldorfer Straße, wo Inge schon vor der Haustür auf mich wartet und winkt.
Inge kocht Kaffee und holt Kekse. Ich schaue mich um: An den Wänden hängen Fotos aus ihrer Kindheit, ein Diplom für Ziegenzucht von ihrem Großvater, eine Bleistiftzeichnung, Postkarten, Grüße, Kunstobjekte. Das Haus ist verwinkelt, mit einer alten, schmalen und knarrenden weißen Holztreppe, einem Fenster mit Blick in den verwilderten Bauerngarten und auf die dort verborgenen Schuppen. Auf dem Schrank am Küchenfenster sitzt Hermann, der alte Kater und blinzelt in die Herbstsonne. „Was machen wir jetzt?“, fragt Inge und setzt sich zu mir an den Tisch. Viel „machen“ kann man nicht mehr, außer zu warten, bis der Bagger kommt, um Inges Heimat dem Erdboden gleich zu machen.
1997 gab es die Umsiedlungsanordnung, damit wurde das, wovor sich viele gefürchtet hatten, Realität. Vom Tagebau bedroht wurde Otzenrath schon seit den 70ger Jahren. Man hat nicht geglaubt, dass der Schaufelbagger über die Autobahn vordringen könnte. Dann war es plötzlich soweit. Inge erzählt:„Damals haben wir mit ganz vielen aus dem Dorf gekämpft und es waren nahezu 95 % dagegen und die gingen auch alle immer zu den Versammlungen und dann ging es richtig hoch hier. Da mussten sich die Rheinbraunleute richtig in Acht nehmen, dass sie nicht verprügelt wurden. Doch der Widerstand der bröckelte ab, nicht nur weil die Leute nicht mehr kämpfen wollten, sondern weil die einfach …vielleicht…“ Inge stoppt und sinniert, „ … müde waren“, fahre ich fort. „Ja, weil sie einfach müde waren“, sagt Inge „Trotzdem meine ich bis heute noch, wenn wir alle durchgehalten hätten, das ist ein frommer Wunsch und Theorie auch, leider – dass wir dann nicht weg gemusst hätten, das meine ich bis heute! Und jetzt wo fast alles weg ist und nur noch ungefähr 17 Leute hier wohnen, würde ich immer noch hierbleiben, auch wenn das um mich herum alles kaputt ist. Ich würde einfach ein Zeichen setzen und hier bleiben!“ Ihr Blick ist entschlossen. Hierbleiben ist ein Traum.
Inge hat aus ihrem Haus ein Otzenrath-Museum gemacht, in dem jeder willkommen ist, der sich dafür interessiert.
„Das Herzstück vom Hausmuseum, das sind die Fotos meiner Mutter. Wir haben das alles gesammelt, damit das nicht verschwindet. Dann war mal ein Journalist hier, Herr Erkens, ich glaube von der Rheinischen Post, ein älterer Herr. Der hatte ganz viel Sensibilität für dieses Thema. Der hat zu mir gesagt, das ist ja eigentlich kein Heimatmuseum, das ist ein Hausmuseum. Und ich finde, das war der Begriff, nach dem ich gesucht hatte“ Inge hat inzwischen ein neues Zuhause in Hochneukirch. Doch das ist nicht dasselbe: „Auch wenn das Haus, wo ich hinziehe schön ist. Aber es ist für mich nicht schöner. Hier ist es am Schönsten.“ „Du bist auch hier aufgewachsen…“, werfe ich ein. „Weißt Du, mein ganzes Hausmuseum ist dort gar nicht mehr authentisch. Die ganzen Fotos meiner Mutter von den Tieren und von den Räumlichkeiten und von den ganzen Kindern, die hier gespielt haben, die Tiere, die hier gezüchtet wurden, von den Bäumen, die hier im Garten waren … welche Schlitten und welche Kinderwagen hier modern waren und … also zum Beispiel Ziegen und Schafe und Schweine und Kaninchen … alles wurde hier gezüchtet auf dem kleinen Grundstück und wenn man das hinterher zeigt, dann ist das ja reine Nostalgie in dem Haus, das ja gar nicht zu mir passt …“
Das neue Haus ist weiß und alt und wirklich wunderschön. Doch ist es nicht das alte Backsteinhaus auf der Düsseldorfer Straße mit der knarrenden Treppe, die Inge raussägen und mitnehmen will, um sie im neuen Wohnzimmer zu platzieren – ohne, dass sie irgendwo hinführt. Jetzt, noch führt die Treppe in die 1. Etage, die ca. 50qm ausmacht, in 3 Zimmer aufgeteilt ist. Hier hat Inge mit ihrem ersten Mann und ihrer Familie gewohnt. Dielenböden, niedrige Decken, kleine Stufen ins Schlafzimmer hinunter, in dem ein großes, altes weißes Holzbett mit schnörkeligen Beinen steht und eine kahle Birne von der Decke hängt. Diese Räume haben viel erlebt. Hier hängen gerahmte Bruchstücke von Inges Vergangenheit. Sie zeigen das Otzenrather Kapellchen, Kinder auf dem Stroh für die Tiere, Schlittenfahrt auf der verschneiten Düsseldorfer Straße, die Oma mit den Hühnern im Garten. „Hier ist es passiert, hier auf diesem Tisch…“, Inge schlägt mit der Hand auf den vor uns stehenden kleinen Holztisch, „ …da wurde das Schwein auseinander genommen. Das wurde draußen auf dem Hof geschlachtet. Sowas hat meine Mamma damals natürlich nicht fotografiert…das durften wir auch nicht sehen, aber wir guckten dann durch die Ritzen der Rolladen. Das Schreien der Schweine war zu hören. Das vergisst man ja nie. Und dann isst man das wohl, das Fleisch. Aber bei den Schafen war es schon wieder ganz anders – das konnten wir zum Beispiel nicht essen, das Schafsfleisch.“ Man sieht Bilder von Inge und ihren Geschwistern mit den kleinen Schafen, die alle Namen hatten.
Kohle machen
Goliath schleicht sich ins Hirn. „Bis 2045 soll es weitere 10 Dörfer geben, die in dem riesigen Loch verschwinden. Insgesamt 1,3 Milliarden Tonnen sollen abgebaut werden. Das ist eine Menge, die Nordrhein-Westfalen simple 3 Monate lang versorgen könnte. Nur 15% des Gesamtenergiebedarfs der Bundesrepublik werden von der Braunkohle gedeckt. Eine Energie, die sehr CO2-lastig ist und immens zum Treibhauseffekt beiträgt. Nur ein Drittel der erzeugten Energie wird wirklich zur Stromgewinnung gebraucht. Für diese unzeitgemäße Energie verlieren Menschen Heimat, Vergangenheit und Orte, an denen sie ihren Kindern von ihrer Kindheit erzählen können. „Wie geht es Dir damit?“ frage ich Inge. „Das steht überhaupt nicht im Verhältnis“, sagt Inge, „ …und das wird ja auch gar nicht richtig rausgestellt, dass eben alternative Energie überhaupt unverzichtbar ist, ganz unabhängig davon. Das wird aber nicht forciert.“ Inge plädiert für Umdenken und Zivilcourage.
„Die Otzenrather haben protestiert und mussten sich als Arbeitsplatzvernichter beschimpfen lassen, es ist wirklich die Frage, ob so viele Arbeitsplätze geschaffen wurden, wie hier vernichtet wurden. Die brauchen ja immer weniger Leute in diesen Gruben. Das müsste man wirklich mal vergleichen.“
Inge erzählt, dass Kleinunternehmer in Neu-Otzenrath nicht mehr zu finden sind. Tante Emma-Läden, der Plausch zwischen Brötchen und Plunderteilchen beim Bäcker, der Blick ins Portemonnaie der betagten Oma, der Weg durchs Dorf beim Einkauf fallen weg. „Da gibt es gar keine Infrastruktur. Einen Metzger und einen Bäcker vielleicht. Die alte Struktur an Läden geht kaputt. Zwischen den Dörfern gibt es Supermarktketten mit riesigen Flächen und Parkplätzen und da gehen dann alle hin. Auch die ganzen Nachbarschaften sind auseinander gerissen. Ganz abgesehen von der Sprache, die man in einem Dorf hatte. Früher war es so, dass Du merken konntest, wenn jemand drei Kilometer weiter in nördlicher Richtung wohnte.“ Das gab es hier noch. Mit dem neuen Dorf wird es verschwinden. Die Alten sind zum Teil „vorsorglich“ gestorben.
Stillstand wäre schön…
„Du hast mal gesagt, Du lebst in einem Stillstanddorf. Was hast Du damit gemeint?“, will ich wissen. „Also Stillstand ist eigentlich nicht mehr ganz richtig. Es wäre eigentlich schön, wenn es ein Stillstanddorf wäre, dann würde hier nichts mehr abgerissen“, sagt Inge.
„Für Dich ist Stillstanddorf also nicht mehr das, was Du ursprünglich damit meintest – Natur nimmt sich ein Dorf zurück und das Efeu bevölkert Ruinen, bewächst sozusagen ein Grab – sondern Stillstanddorf wäre jetzt etwas Positives, ein Dorf, wo der Bagger nicht mehr abräumt?“ „Ja. Und auch das Zurücknehmen durch die Natur ist zwar einerseits auch was Positives, aber nur eine ganz, ganz kleine Facette und nur eine geliehene Zeit für die Natur, bis der Abriss kommt. Es ist eine Sackgasse. Jetzt muss man auch sagen, dass diese Rekultivierung, wovon ja auch gesprochen wird, eine ganz ekelhafte und langweilige Sache ist. Das ist eine Monokultur aus aufgeschütteten Trümmern und Pappeln … und Rüben wachsen da dann vielleicht noch. Aber es ist eine ganz andere Landschaft als die heutige. Eine nicht gewachsene Landschaft. Rekultivierung ist ein Witz.“ Inge ärgert sich. „Ja, und unsere Häuser werden alle gemahlen und damit werden die anderen Gruben wo sie die Keller gerade ausgehoben haben, wieder zugeschüttet – sehr makabres Recycling. Da drüben gibt es Berge, da kannst Du dann Dein Badezimmer anschauen gehen! Im Dorf sind höchstens vier kleine Bagger, von verschiedenen Firmen, die machen ein ganzes Dorf platt – da braucht man nur vier Männer für, um das ganze Dorf abzureißen. Meistens sind es sogar nur zwei Männer und zwei Bagger, die das mit Leichtigkeit schaffen. Ein großer Bagger steht vor den Toren von Otzenrath für die Grube.“ Der schaufelt sozusagen das Grab für die Leiche.
Sich mit dem Sterben des Dorfes abzufinden, ist nicht leicht. Inge muss täglich dabei zusehen. „Geisterdorf“ wird ihr Otzenrath zum Leidwesen Inges’ genannt, sie hasst dieses Wort. Die Erinnerung spukt hier, vielleicht auch die Seelen derjenigen, die nicht gehen wollten und konsequent Entscheidungen trafen.
Leben und Sterben
„Ich hab gehört, dass eine alte Dame aus Otzenrath, als sie von der Umsiedlung hörte, geäußert hat, sie ginge nicht mehr mit. Und die ist dann auch noch hier im Ort gestorben, quasi auf Entschluss“, werfe ich ein. „Das passiert oft“, Inge seufzt, „eine Dame war 93 und ist innerhalb von ein paar Wochen gestorben und das ist ganz oft so… nicht nur Frauen sterben, auch Männer.“ Umziehen werden auch die Leichen. Die Gräber sind mit Holzschildern bestückt, die zeigen, wer wann auf den neuen Friedhof umzieht und auf welcher Seite er zukünftig zu liegen kommt. „Vor dem Schrecken haben die alten Leute Angst und später laufen sie durch den neuen Ort, der so vollkommen fremd ist und man sieht sie dann da laufen und sie wissen gar nicht wohin. Der neue Friedhof ist auch wie eine kalte Platte. Früher gingen die Alten zum Friedhof und trafen sich auf den Bänken. Sie sagten dann immer – Ich gehe zum Probeliegen – ganz verschmitzt. Auf dem neuen Friedhof kann man nicht sitzen, da sind nur „kalte Platten“, ganz ordentlich, da ist nichts – wer will denn da schon sitzen? Da ist kein Bäumchen, kein Garnichts.“ Man hört Inges Wut. „Selbst diese Friedhofskultur ist weg!“
An anderer Stelle wird Otzenrath wieder aufgebaut. Ein völlig neuer Lebensraum entsteht.
Ein unterhöhltes Dorf
„Ich meine, was das neue Dorf angeht, so ist es sicher so, dass das, was hier in Jahrhunderten entstanden ist, erst werden muss, “ setze ich erneut an. Inge trauert um das alte Dorf: „Das kann ja gar nicht mehr so urban werden. Das wird ja jetzt mehr oder weniger, wie aus der Fabrik kommend hergestellt. Das ist ja nicht gewachsen, das kann nicht mehr urban werden… naja vielleicht denkt man in 100 Jahren das wäre urban… aber das ist ja nicht richtig urban, wenn alles zu gleicher Zeit entsteht. Hier… das Otzenrath, das ist ja… da gibt es die ersten Aufzeichnungen von 1174, die Hofstelle von Leuffen und die Hofstelle von früher Lamberti, später Brockerhoff, also… das sind uralte Hofstellen, nicht dass die Gebäude so alt wären, aber… da hat es Grundmauern gegeben, auf diesen Grundstücken. Da wird auch jetzt noch geforscht. Da graben sie jetzt.
Das ganze Dorf Otzenrath ist von Gängen aus dem 30jährigen Krieg unterhöhlt. Mittelalterliche Dorfstrukturen gibt es noch. Hier gegenüber, als da die Schreinerei abgerissen wurde – ich hatte einen Schlüssel von diesem Haus, weil ich mir da ein Treppengeländer abgebaut habe … da hab ich gesehen, dass da ein Gang war, der zum Hof nebenan ging. Von jedem Haus ging so ein Gang ab zum Nachbarn, der später zugemauert wurde. Jeder Nachbar war mit dem anderen verbunden und an einer Stelle – ich weiß jetzt nicht, wo das bei uns war – da ging quer über die Straße ein Gang zu irgendeinem Bauernhof und von dort ging wieder ein Gang zum nächsten Gehöft. Die Häuser, die später gebaut wurden, wurden dann an dieses System angeschlossen. Ja… unter dem Dorf konnten sich alle versammeln. Das ganze Dorf ist unterhöhlt, also das wäre hier Unesco-verdächtig.“
Mit Otzenrath werden auch diese Gänge ein für allemal verschwinden. Inge fährt fort: „Als ich das der Bodendenkmalpflege mitgeteilt hab, da gab es einen schönen Artikel und die Männer waren auch ganz erstaunt und haben gesagt – wir schicken Ihnen eine Abordnung von Studenten, die werden das alles messen und dokumentieren und das ist ganz toll! Und eines Tages höre ich hier den Bagger krachen, ich wusste gar nicht, dass die hier abbauen – da fangen die ja morgens um halb 6 an. Es krachte also fürchterlich und alles wurde abgerissen. All das macht mich richtig wütend: Mensch, in Köln kannst Du keinen Neubau errichten, ohne dass vorher mal das Römisch-Germanische Museum da war, um Ausgrabungen zu machen und jede Tonscherbe zu nummerieren.“ Inge lacht bitter: „Der Bagger hat ja nichts zu sagen – aber von keiner Stelle wird da wenigstens noch etwas dokumentiert … das bin ich nur, die das tut – aber das interessiert ja keinen.“
Für Geld lässt sich nicht alles kaufen
„Rheinbraun, Behörden, Bistümer etc. haben, als es in die Vollen ging, versprochen, Entschädigungen zu zahlen für die Häuser. Sehr oft ist es aber so, dass die Entschädigungen, obwohl sie hoch sind, nicht ausreichen, um wirklich im neuen Dorf hinzugehen und sich ein neues zu bauen. Viele Häuser sind einfach alt und eben nicht so viel wert wie ein Neubau“, behaupte ich. „Ja, ja. Das ist genauso“, bestätigt Inge. „Man bekommt für sein altes Anwesen zwar relativ viel Geld. Das bekäme man auf dem freien Markt nicht. Wenn man geschickt ist, kann man gut verhandeln. Aber das kann man trotzdem nicht als guten Tausch ansehen. Denn ich wäre ja hier nie weg gegangen und ich finde es schön hier. Ich bräuchte eigentlich nicht weg zu gehen. Wenn man jetzt ein anderes Haus kauft und nicht im Auge hat, was die Renovierung kostet oder was das neue Haus wirklich kostet, dann kann man sich ganz fies in die Nesseln setzen. Viele bauen ja auch größer, als sie eigentlich wollten, weil die Kinder dann zum Teil wieder zurück kommen. … Das ist dann auch wieder etwas Schönes an der Sache… es entstehen wieder viele Großfamilien… Aber im Großen und Ganzen kommen sie dann mit ihrem Geld nicht aus.“
Verlassene Reviere
Inge macht das Radio an, weil sie mit mir eine Tour durch den Ort Otzenrath machen will. „Das Radio wird eingeschaltet, damit man glaubt, wir sind zu Hause. Das hat sich aber in einschlägigen Kreisen sicher längst rumgesprochen“, erklärt Inge die Maßnahme. Nein, wirklich Angst vor Einbrechern hat sie nicht.
Nun wird es abenteuerlich. Inge macht mit mir eine Reise in ihre Kindheit. Wir betreten einen Gutshof, der sich ehemals auf Äpfelanbau und Viehzucht spezialisierte. Eine eigenartige Stille ist gegenwärtig. Es riecht noch nach Vieh, obschon nicht ein Karnickel, geschweige denn Kühe, Hühner oder Schweine hier noch ihr Zuhause haben. Eine alte Apfelsortiermaschine, eine Holzlegeeinrichtung für Hühner, eine Kartoffelmiete ist stehen geblieben. In dem Raum, in dem offenbar Autos und Traktoren repariert wurden, riecht es in der Grube noch nach Öl. Der Boden ist lehmig, nicht betoniert, einfach festgetreten. Die Menschen hier scheinen schon länger weg zu sein. Auch hier erobern sich die Pflanzen das Gebiet zurück. Ein alter Kaninchenstall trägt die Aufschrift „Molly und ihre Kinder“ und die Namen der kleinen Besitzer der Nagetiere.
Wir ziehen weiter durchs Dorf. Gegenüber der Bäckerei, die längst von der letzte-Brötchen-Bäckerin verlassen wurde, obwohl das „Vorsicht bewohnt“ noch aufmüpfig zu verhindern scheint, dass sie abgerissen wird, wächst Gras über ein ehemals dicht besiedeltes Fleckchen. „Das erscheint einem viel kleiner, wenn man das als Fläche sieht. Hier standen so viele Häuser und hier…“, Inge markiert eine Flucht, „… war mal eine kleine Gasse, die ich oft entlanggegangen bin.“ Die typischen Kacheln der Brachen findet man hier, Reste von Glas. Wir sammeln Kachelreste in allen Farben ein, wie wertvolle römische Tonscherben. Und nicht viel weniger sind sie.
Wir gehen alte Straßen entlang, an denen es rechts und links nur noch Verfallenes, Verlassenes oder schlicht gar nichts mehr gibt. Aus einem kleinen Versteck holt Inge ein paar ausgemachte Blumen, als könne sie das alte Otzenrath komplett an einen anderen Ort verpflanzen. Wie mit den Menschen, gelingt es auch hier nur ein kleines Stück. Auf dem Weg durch das Dorf sehen wir von Ferne einen jungen und einen älteren Mann, die einen Container durchforsten. „Da plündern sie wieder“, sagt Inge zunächst. Schon auf dem Weg sind uns einige langsam fahrende Autos begegnet, die Inge als potentielle Abstauber identifizierte. Doch dann erkennt sie die ehemaligen Nachbarn, die sich nach dem Ausmisten doch das ein oder andere Stück wieder aus dem Container herausholen. Abschiednehmen scheint also doch nicht so einfach zu sein. Oder doch? Auf die Nachfrage, wie es denn so im neuen Dorf sei, antwortet der jüngere von den beiden Männern: „Schön, alles neu!“ Der Alte schweigt. Und auch Inge hat es nicht so mit Abschied. Als ich schließlich auf der Düsseldorfer Straße „Auf Wiedersehen“ sage, lasse ich ein ernstes Gesicht zurück und mir kommt wieder in den Kopf, was Inge kurz vorher noch sagte: „Wenn ich könnte, würde ich bleiben. Auch jetzt noch, wo schon so viel kaputt ist.“
Gekürzte Version der vierteiligen Reportage: „Wenn der Bagger kommt…“
Erschienen auch in: „Die schöne Kunst der Einseitigkeit“, Edition Einseitig, 2
© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen des Texts, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.
© Fotos: Marie van Bilk/Maria Jürgensen