Scherzmanns Rettung

Ein Mann in Angst

ScherzmannScherzmann schloss die Tür hinter den letzten Besuchern und schob jeden der fünf Riegel langsam und sorgfältig zu, nicht ohne ihren stabilen Halt noch einmal zu überprüfen. Er drehte sich zur Wand, zog seine getigerten Pantoffeln aus und griff zu der Drahtspule auf dem hellblauen Dielenstuhl. Auf blanken, blassen Füßen, auf deren rechtem Zeh kleine schwarze Haare wuchsen, während der linke ganz kahl war, schlich er in die Küche, vorbei an den kleinen Türmen voller gesammelter Schätze, die von der Diele nur noch einen schmalen Gang sehen ließen.

Unter der Decke hing eine durchlöcherte Gießkanne, in die eine Lampe eingepasst war. Ihr Licht war kaum der Rede wert. Mehrere Uhren tickten aus allen Winkeln der Wohnung leise vor sich hin und durchbrachen die Stille. Als Scherzmann die Küchentür öffnete, bimmelte eine kleine Glocke begleitend. Der Puppenkopf an der Stirnseite der Sitzbank, an dem eine Schnur befestigt war, die bis zum Türrahmen reichte, rollte vielsagend mit den Augen, als wolle er sagen: „Du schon wieder!“. Scherzmann blieb stehen. Er nickte begrüßend zum Puppenkopf hinüber. Dann goss er sich aus einer großen Flasche Weißwein in ein altes Wasserglas und trank den übrig gebliebenen Bodensatz direkt aus der Flasche. Mit einem Zug leerte er das Glas, nahm sich das letzte Schmalzbrot vom sonst nur noch mit Krümeln bedeckten Teller und wandte sich zum Tisch, auf dem ein Berg von Zeitungen lag. Sein Hemd zog er aus, warf es achtlos in den Wäschekorb neben dem Ofen, der am Mittwoch erst zur Hälfte gefüllt war und richtete die Hosenträger.

Er legte die Drahtspule auf den Stapel und stakste wieder in den schummerigen Flur. Jaroslav Scherzmann bückte sich zu einem einsam stehenden Karton und hob ihn auf, nicht ohne beschwerlich zu stöhnen und sich eine dünne Schicht Schweiß von der Stirn zu wischen. Wieder in der Küche angekommen, setzte er den Karton neben den Zeitungen ab. Scherzmann schob das Brokatkissen weg von sich auf das Eckteil der Bank, hob den Deckel und holte die Romeo & Julietta Zigarrenkisten aus der Truhe und stellte sie neben die Keksdose auf den Tisch. Bedächtig begann er, einzelne Gegenstände aus dem Karton zu heben und vor sich zu verteilen. Scherzmann setzte sich und betrachtete besonders interessante Stücke von allen Seiten. Eine Thermoskanne mit Bambushülle, der der Stopfen fehlte, zwei leere Welthölzerdosen mit klitzekleinen Holzspänen, die offenbar von Buntstiften stammten, eine ausgewaschene Minikonserve, auf deren Etikett noch blass zu erkennen war, dass sich in ihr französische Paté befunden hatte, eine Blechschachtel mit Hirschhornknöpfen und jenen von Kinderstrickjacken, ein kleines, angebrochenes Geweih, drei leere Flaschen russischen Bieres, eine Minispielorgel, der die Kurbel fehlte, Trennnadeln und angestaubte rosa Wolle. Dann durchwühlte er den Zeitungsstapel und zog eines der Exemplare hervor.

Scherzmann blätterte hastig und suchend. Sein Blick blieb haften. Der Artikel, der seine Aufmerksamkeit auf sich zog, berichtete über das nördliche Polarmeer und ein Unterseeboot, das 150 Meter tief auf den Grund der Barentssee gesunken war. In ihm seien 107 Mann gefangen und man wisse nicht, ob sie zu retten wären. Er nahm eine Schere zur Hand und begann den Artikel ordentlich auszuschneiden. Ein Stück schwarze Pappe wurde auf exakt dieselbe Größe geschnitten. Dann nahm er einen Pinsel, tauchte ihn in Leim und bestrich zunächst das Foto des U-Boots und der darauf in Reih und Glied aufgestellten, ernst dreinschauenden Mannschaft mit der zähflüssigen Masse, bevor er sich den Text vornahm und ihn in derselben Weise bearbeitete.

Scherzmann verband die schwarze Pappe, die bei Berührung mit dem Leim leichte, feuchte Falten schlug, mit dem noch dünneren Papier, das antwortend viele, kleine Runzeln schlug. Das schwarze Rechteck lag vor ihm auf dem Tisch. Andächtig drehte er es um. Sanft schimmerten die leicht verzogenen und durch Pinselstriche gegerbten Gesichter der Seeleute durch einen Bericht über die Finanzwelt in Indien. Scherzmann befreite weitere Gegenstände aus dem Karton und verteilte sie in der gesamten Küche. Mit nach hinten verschränkten Armen durchschritt er den Raum und würdigte jedem von ihnen eine nachdenklichen Bewegung, indem er den Kopf einmal zur rechten, dann wieder zur linken Seite hin neigte.

Er wog die Drahtspule in der Hand, löste Teile von ihr und begann mit seiner Arbeit. Manchmal nahm er eine Zange zur Hand. Ein Lötkolben bruzzelte tönend vor sich hin und verströmte einen penetranten, vertrauten Geruch. Dann schwang Scherzmann wütend einen Hammers, der ihn noch einmal schwitzen machte. Dort erkannte man noch den Deckel der Welthölzerschachtel, da zierte die Patékonserve eine Plastikrose, eine Glasmurmel leuchtete durch schmutziges, cremefarbenes Seidenpapier und das Geweih trug einen kleinen gelben und einen hellblauen Knopf in seinen Augenhöhlen. Der Draht verband die Bruchstücke miteinander wie winzige Ärmchen, die mit ihren in Fäustlinge verpackten Händen Wichtiges weiterreichen. Ein Kreis aus Segmenten von Gebrauchsgütern und Draht umschloss das Rechteck mit dem Artikel, der als solcher nicht mehr zu erkennen war. „Sicher…“, murmelte Scherzmann leise vor sich hin, „endlich sicher.“ Er sprach mit ihm, wie immer, wenn er eines seiner kleinen, heilenden Werke vollendet hatte. „Ja, ich weiß“, antwortete Scherzmann, „aber ich habe immer noch Angst.“ Eine einsame Träne ran über seine Wange. „Angst habe ich. Ich kann da nicht raus. Sie können hereinkommen und uns herausholen. Können sie doch, sie sind immer nahe dran!“ Er schwieg. Scherzmanns Hände zitterten und so ließ er sich erschöpft auf der Küchenbank nieder. „Ich weiß. Ich muss da raus, der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert“, sagte er noch und hustete angestrengt, wissend, dass nur die sich ständig wiederholende Tat und die Erinnerung daran ihm Schutz zu bieten im Stande war.

Er stand auf, öffnete die Kühlschranktür und entkorkte eine weitere Literflasche Wein. Das Glas bemühte er nicht. Als er absetzte, war die Hälfte der Flasche geleert. Scherzmann verließ die Küche in Richtung Schlafzimmer. Es unterschied sich nicht wesentlich von den anderen drei Räumen der Wohnung. Auch hier gab es Regale mit eigentümlichen Gebilden. Die an der Wand gestapelten Kisten waren fein säuberlich mit den Jahrgängen der sich in ihnen befindlichen Zeitschriften beschriftet. Eine von ihnen stand auf dem Flickenteppich davor und war leer. Scherzmann faltete sie und stellte sie zu den anderen an die gegenüberliegende Seite des Raumes. Er nahm die Tretleiter und holte den nächsten Karton aus der Höhe hinunter, öffnete ihn, blätterte kniend. „Kapitän aus Ungarn hält seinen Sohn 13 Jahre im Keller fest“. Scherzmann hielt inne. Er stopfte die Zeitung in die Tiefe des Stapels und brachte ihn in die Küche. Den Stapel auf dem Tisch verbannte er zu dem weit höheren am Fenster und ersetzte ihn durch den neuen. Er verkorkte die Weinflasche, als es an der Tür bimmelte. Der Blick auf eine der Uhren verriet ihm, dass es Zeit war. Auf den Jungen konnte man sich verlassen. Scherzmann steckte die Drahtspule in die Hosentasche, nahm sein fertiges Werk in beide Hände und ging damit in den Flur. Dort stellte er es auf das Bord zu den anderen.

Er zog die Tigerpantoffeln an, legte die Drahtspule auf den blauen Dielenstuhl und öffnete, den Regenschirm und das Tuch schon in der Hand. Der Junge sagte nichts und stand mit dem Rücken zu ihm vor dem Flur zur Treppe. So war es damals am Telefon vereinbart worden. Der Korb stand auf dem Abtreter. Scherzmann fischte ihn mit dem Regenschirm ins Innere, wischte seinen Griff mit dem Tuch ab, entledigte sich beidem und stellte den zweiten Korb mit der Butterbrottüte, in der sich das Geld befand, auf die Schmutzmatte. Sorgsam verschloss er die Riegel wieder, horchte, hörte das vertraute Rascheln vor der Tür und die Füße auf den Stufen und brachte die Einkäufe in die Küche. Er packte Brot, Schmalz, Wein, das Obst, die Eier und den Rest der Lebensmittel aus und verstaute das meiste davon in routinierter Reihenfolge im Kühlschrank. Den Einkaufskorb brachte er zurück in den Flur. Dann nahm er den kleinen Schlüssel vom Brett, öffnete das Sparschwein, prüfte den Inhalt, nahm eine Butterbrottüte von der Ablage, leerte Scheine und Groschen in ihren Bauch und legte die Tüte in den Korb. In der Küche spülte er das Messer sorgfältig ab, ebenso Gläser, Besteck und Teller und begann dann mit dem Schmieren der Schmalzbrote. Er deckte sie mit Klarsichtfolie ab und räumte sie in den Kühlschrank. Scherzmann ordnete die Gläser und Teller. Er entkleidete sich noch in der Küche und gab die Wäsche zu seinem Hemd in den Korb. Dann löschte er das Licht, bevor er sich wieder in Richtung Schlafzimmer machte. Jaroslav Scherzmann sah auf die Uhr auf dem Schemel, begab sich zu Bett und schlief, auf dem Rücken liegend, sofort ein.

Um fünf Uhr früh erwachte er wie jeden Tag und begab sich ins Bad. Wenig später ging er mit frisch gekämmten, noch nassen Haaren zurück ins Schlafzimmer, öffnete den Kleiderschrank, entnahm ihm Unterwäsche, ein weißes Hemd und eine Cordhose und zog sich an. Anschließend kochte er in der Küche Kaffee, trank ihn aus einer großen, weißen Tasse, aß einen Apfel und beseitigte die Spuren des Frühstücks. Dann setzte er sich auf die Eckbank und wartete. Die Uhren tickten leise und Scherzmanns Zehen wippten ab und zu begleitend mit. Schließlich holte er die Schmalzbrote aus dem Kühlschrank und entkorkte eine neue Flasche Wein. Beides fand seinen Platz neben Gläsern und Tellern auf die Anrichte. Es klingelte. Der Blick auf eine der Uhren verriet ihm, dass es Zeit war. Auf die Besucher konnte man sich verlassen. Scherzmann ging in den Flur und schloss die Küchentür. „Sicher,“ murmelte Scherzmann, „sicher!“ Er zog die getigerten Pantoffeln an und öffnete die Haustür. Die Besucher sahen ihn erwartungsvoll an, einige grüßten. Er nickte nur und sagte nichts. Mit einer Handbewegung bat er die Gäste einzutreten und ging voran in die Küche. Die Glocke bimmelte und der Puppenkopf nickte. Die Besucher betrachteten neugierig die vollgepfropften Wände, gestapelten Dinge und die von der Decke hängenden Seltsamkeiten. Alles schien einer obskuren Ordnung zu folgen. Zögerlich schritten sie hinter ihm her, unsicher, ob das Scherzmanns Intention gewesen war.

In der Küche wies dieser auf Gläser, Schmalzbrote und Wein und gab mit einer weiteren Handbewegung zu verstehen, dass sie sich bedienen konnten. Die meisten griffen zu den Broten, einige sogar zum Alkohol. Man flüsterte miteinander, wagte nicht, diese seltsame, nur vom Ticken der Uhren unterbrochene Stille mit aller Vehemenz zu durchbrechen, obschon sie dazu verleitete und ihr Gastgeber sie erwartungsvoll ansah. Scherzmann sprach in das Flüstern hinein: „Sehen Sie sich um, begreifen Sie. Geöffnet wird um acht und 16 Uhr. Jeden Tag. PÜNKTLICH.“ Die Besucher wandten sich ihm zu und schwiegen, da sie weitere Erklärungen von ihm erhofften. Doch Scherzmann sagte nichts mehr. Einige Mutige machten sich auf den Weg durch die Wohnung und besahen sich jeden Winkel. Aus einigen Ecken hörte man Lachen und Sätze wie „Guck mal da, das ist ja irre!“ und Antworten wie: „Ja, irre ist das richtige Wort.“ Scherzmann saß in der Küche und hoffte. Als einige sich zurück in die Küche trauten und ihm die Frage stellten, ob man die Exponate auch kaufen könne, sah er sie nur mit großen Augen an, sagte nichts, schüttelte den Kopf. Begreifen sollten sie, nicht kaufen. Das taten sie nicht. Sein Wunsch auf die erlösenden Worte würde ein Wunsch bleiben. Kaum resigniert lud er mit einer Handbewegung erneut dazu ein, die Reste der Brote zu verspeisen und ein Glas Wein zu nehmen. Unschlüssig blieben immer mehr Besucher in der Küche stehen und warteten, was nun geschähe. Als alle zurückgekommen waren, stand Scherzmann auf, bahnte sich den Weg in den Flur und wies zur Tür. Die Besucher verstanden und verließen die Küche in Richtung Ausgang. Scherzmann zeigte auf das Sparschwein. Hastig griffen sie zu ihren Portemonnaies und füllten es. Er öffnete die Haustür und ließ sie hinaus. „Der ist wirklich leicht meschugge, der ist irre“, hörte er jemanden sagen.

Scherzmann schaute in seine Richtung und sagte: „Sicher“, machte eine Pause und wiederholte, „sicher doch. Wenn Sie das meinen.“ „Sie müssen mal raus hier“, antwortete ihm eine Frau. „Ja, ich weiß“, antwortete Scherzmann, „aber ich habe Angst.“ Fragte sie doch warum. Aber die Zeit war um. Scherzmann schloss die Tür hinter den letzten Besuchern und schob jeden der fünf Riegel langsam und sorgfältig zu, nicht ohne ihren stabilen Halt noch einmal zu überprüfen. Er drehte sich zur Wand, zog seine getigerten Pantoffeln aus und griff zu der Drahtspule auf dem hellblauen Dielenstuhl.

Ersterscheinungsdatum: 7.8.2011 auf einseitig.info

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen des Texts, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

© Zeichnung: Marie van Bilk/Maria Jürgensen

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