Corona, die linke Bazille

Vom Virus lernen

von Dirk Jürgensen …

Ich weiß, diese Überschrift ist irreführend, denn eine Bazille ist ein Bakterium und weist mit den Viren keinerlei verwandtschaftliche Beziehung auf. Für den naturwissenschaftlich falsch verwendeten Begriff bitte ich um Verzeihung. Aber ich konnte nicht anders, denn er zeigt in eine Richtung, in die unsere Gedanken während der verordneten Zwangspause und besonders nach der hoffentlich recht bald überstandenen Pandemie gehen sollten.

Corona ist ein antikapitalistisches Virus

Dabei ist die Lungenkrankheit Covid-19 beziehungsweise SARS-CoV-2, wie Corona weniger anschmiegsam ebenfalls firmiert, ein völlig Ideologiefreies Wesen. Es hat kein Hirn, es hat keine Zunge die ideologische Leitsprüche formulieren kann. Dennoch lässt es mit beinahe wunderbarer Leichtigkeit die Börsenkurse und Ölpreise sinken, es zeigt, wie wenig rational unser Konsumverhalten gesteuert ist, wie fatal die Gewinnorientierung im Gesundheitswesen ist und dass es jenseits der allgemein duldsam hingenommenen Wachstumsreligion Alternativen geben muss oder gar gibt. Kurz gesagt bringt es vollkommen unmotiviert unser ökonomisches System ins Wanken. Ganz nebenbei besetzt es sogar den lange nur noch von »ewiggestrigen Linken« verwendeten Begriff der Solidarität wieder positiv. Beinahe könnte man also vermuten, Corona sei der potentielle Zünder einer Revolution, wie sie Marx und Engels nicht erträumen konnten.

Manchmal bedarf es eben nur eines völlig unschuldigen und planlosen Auslösers. Auch der Urknall vor ungefähr 14 Milliarden Jahren wird nicht zum Ziel gehabt haben, dass wir uns mindestens alle zwei Jahre ein neues Handy genehmigen können. Anhand der Opfer weltweit kann man leider nicht von einer friedlichen Revolution sprechen, denn jedes Todesopfer ist eines zuviel. Dennoch und gerade angesichts der Be- und Überlastung unserer Sozial- und Gesundheitssysteme weltweit können wir Menschen Lehren aus der Pandemie ziehen. Wenn wir es denn wollen. Nur drei mehr oder weniger bedeutende Beispiele:

Corona versus BWL im Krankenhaus

Vor Corona wurde das deutsche Gesundheitswesen immer weiter nach betriebswirtschaftlichen Maßstäben zusammengespart. Auch der heute so gelobte Gesundheitsminister ist ein Vertreter dieser Marktorientierung. Das Virus hat für ein hoffentlich nicht nur kurzfristiges Umschwenken gesorgt, denn Gewinnmaximierung hat im Gesundheissystem nichts zu suchen. Eventuelle Sparmaßnahmen müssen immer gleichzeitig eine Optimierung der Versorgung bewirken. Nur dann sind sie sinnvoll. Ebenso darf es kein Mehrklassensystem in der Gesundheitsversorgung und Krankenversicherung geben. Die pharmazeutische Industrie muss sich am Gemeinwohl und nicht am Börsenkurs orientieren. Die medizinische Versorgung ist zu wichtig, um sie den Mächten des Marktes auszusetzen. Pflegekräfte müssen ihrer gesellschaftlichen Relevanz in einer alternden Gesellschaft entsprechend gut bis sehr gut bezahlt werden. Dass jede Altenpflegerin gesellschaftlich bedeutender als eine ganze Clique von Börsenmaklern ist, ist schließlich eine Binsenweisheit. Die aktuell im Netz verabredeten Applausaktionen sind nett gemeint, helfen jedoch nur, wenn sie ein Zeichen für einen ausdauernden Sinneswandel sind. Der Bereich der Alten- und Krankenversorgung muss zum Leuchtturmprojekt für die notwendige Neuordnung des Wirtschaftssystems werden. Hier wie übermall muss die Gemeinwohlorientierung als ökonomisches Prinzip vorangestellt werden. Wachstum ist nur im Sinne eines Zugewinns an Lebensqualität zu verstehen. Zufriedenheit darf nicht länger als Wachstumsbremse, sie muss als Abbild von Lebensqualität zum Ziel des Handelns erklärt werden. Wie gesagt, Corona ist eine im positiven Sinn linke Bazille. Doch nicht nur das.

Corona ist Klimaaktivist

Ganz nebenbei beweist Corona, dass die Gesundung des Klimas und das Erreichen der gesteckten Klimaziele möglich ist, dass es ein grünes Virus ist. Sollte die Pandemie noch einige Monate andauern, könnte das Jahr 2020 als echtes Jahr des Fortschritts für die Umwelt in die Geschichte eingehen. Kein Klimastreik, kein öffentlicher Auftritt Greta Thunbergs, keine monatelangen Verhandlungen zwischen Klimaaktivistinnen und Wirtschaftsbossen hätte das jemals erreichen können. So wichtig die Bewegung der Fridays for Future war und bleiben wird, so beweist erst die Zeit der Seuche, woran es in der globalen Umweltpolitik hapert. Es fehlt die Bereitschaft des Menschen, sich in seinem Konsum zu mäßigen. Plötzlich bleiben die meisten Flugzeuge am Boden, Urlaubsreisen mit kleinerem CO2-Fußabdruck oder der Ersatz von Geschäftsreisen durch Vidokonferenzen werden interessant, der globale Handel mit eher überflüssigen Gütern wird ein bisschen infrage gestellt, die Vorteile einer lokalen Produktion wichtiger Güter – Europa ist in diesem Sinne schon als lokal zu betrachten – werden erkannt. Erst wenn die Pandemie überstanden ist, werden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre nicht nur negativen Auswirkungen nachweisen können. Ich bin gespannt, ob wir mit den Ergebnissen der entsprechenden Untersuchungen etwas anzufangen wissen.

Corona lässt Blasen platzen

Der Kapitalismus, das wissen wir noch von der Bankenkrise vor ein paar Jahren, neigt zur Bildung von Blasen, die irgendwann platzen. Kommen wir in diesem Zusammenhang zum Fußball und damit zu einem griffigen Sinnbild für eine dieser Blasen, die Corona zum Platzen bringen kann. Der allein von vermeintlich rettungslosen Romantikern gescholtene »moderne« Fußball, so stellen wir gegenwärtig fest, ist auf die Fernsehübertragungen reduziert tatsächlich bedeutungslos. Die ins Aberwitzige gestiegenen Spielergehälter und Ablösesummen werden nicht mehr zu bezahlen sein, wenn die ebenso jedem Vernunftsgedanken widersprechenden Beträge für die Übertragungsrechte ausbleiben. Wie lange es mit der Pandemie noch dauert, ist nicht abzusehen. Abzusehen ist jedoch der mögliche Ablauf einer Katastrophe, wie sie den Romantikern unter uns sogar Hoffnung schenken kann:

Der moderne Fußball im Zeichen von Corona - Foto: © Dirk Jürgensen - Düsseldorf

Die Pandemie verhindert Spiele – Geisterspiele, also Spiele ohne Publikum in den Stadien, sind aufgrund fehlender Stimmung weniger attraktiv – Bezahlsender wie Sky verlieren ohne Fußballübertragung ihren Zweck und damit ihre Abonnenten – Bezahlsender ohne Abonnenten können nichts mehr für die Übertragungsrechte bieten – Vereine und Ligen müssen ihre Etats kürzen – überzogene Ablösesummen werden einfach nicht mehr gezahlt und die Spielergehälter gleichen sich an – eine Liga wird ohne Solidarität der Vereine untereinander nicht bestehen können, da sie ohne Gegner sinnlos ist – reine Kommerzprodukte, die dem Solidaritätsgedanken widersprechen, dürften ihre Geldgeber verlieren oder sie gründen eine eigene kleine, vielleicht internationale Liga – die verbliebenen nationalen Ligen werden ausgeglichener und damit spannender – die Romantiker haben gewonnen. Das ist doch utopisch, werden die Anhänger (noch) finanzkräftiger Vereine einwenden. Ja, das ist es.

Von Corona lernen

So hat mich das Beispiel des ruhenden Fußballs in der Corona-Krise endlich wieder auf das Thema der so notwendigen Utopien zurückgebracht, das mich seit Jahren umtreibt. Es darf natürlich nicht bei diesem Beispiel bleiben, denn Utopien – Modelle für eine bessere Gesellschaft, für ein besseres Wirtschaftssystem, für mehr Zusammenhalt und Toleranz – haben wir in allen Lebensbereichen und Weltgegenden bitter nötig.

Aktuell sollen wir zur Vermeidung weiterer Ansteckungen möglichst zuhause bleiben. Jenseits der hart arbeitenden Menschen in den Krankenhäusern, Arztpraxen und Supermärkten fährt die Gesellschaft um einige Stufen herunter. Die lange geforderte Entschleunigung ist endlich da. Wer in diesen Tagen aus dem Fenster blickt, kann aufgrund der freiwilligen oder erzwungenen Ausgangssperren und des »Social Distancings« selbst in einer sonst hektischen Großstadt eine zunehmende Gelassenheit wahrnehmen. Es ist kurzum die beste Zeit, Post-Corona-Utopien zu entwickeln, die wir möglichst bald unseren politischen Vertreterinnen und Vertretern beibringen sollten, wenn diese es denn angesichts des Drucks der Lobbyisten zulassen. Ansonsten müssen wir also selber ran. Falsch wäre es jedenfalls, nach überstandener Pandemie in die alten Verhaltensmuster und die von fragwürdigen Zeitgenossen erzeugten Ängste vor Fremdem und Neuem zurückzufallen.

Nach den Terroranschlägen vom 9. September 2001 hieß es angesichts des großen Entsetzens in wiederkehrender Tonspur, nichts würde mehr so wie vorher sein. Eine Aussage, die schnell zur Plattitüde wurde. Nichts Entscheidendes hat sich seitdem wirklich geändert – zumindest nicht im Positiven. Sollte dieser Spruch nach dem Besiegen des Corona-Erregers wieder im Mediengewirr auftauchen, müssen wir sehr wachsam sein. Corona als Zäsur zu verstehen, wäre ein Zeichen der Hoffnung und des Aufbruchs.

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