Virginia Woolf – Ein Lesebuch

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...

Virginia Woolf war eine der außergewöhnlichsten AutorInnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Ihre Belesenheit veranlasste sie zunächst dazu, Rezensionen für diverse Zeitschriften zu verfassen, bevor sie sich der erzählenden Literatur zuwandte. Sie erfuhr Missbrauch durch einen ihrer Stiefbrüder in der Kindheit und frühen Jugend und erkrankte an einer bipolaren Störung, die schließlich dazu führte, dass sie sich, befürchtend, in eine neue Episode der Depression zu verfallen, das Leben nahm.

Virginia Woolf – Ein Lesebuch

Sie verfasste mit „Ein Zimmer für sich allein“ einen Text, der wegbereitend für die folgende Frauenbewegung sein sollte und noch heute nichts an Aktualität verloren hat. Selbst dann nicht, wenn man von der ein oder anderen Forderung ihres Buches nicht überzeugt ist. Allein die Tatsache, dass sie sich der Thematik zuwandte und Frauen in ihrem Streben, eine gesellschaftlich relevante Position anzunehmen, unterstützte, war zukunftsweisend. Ihre Rolle, die sie gemeinsam mit ihrer Schwester Vanessa und ihrem Bruder Toby bei der Gründung der Bloomsbury Group einnahm, ist revolutionär zu nennen. Innerhalb der Gruppe wurden gesellschaftliche Konventionen über Bord geworfen, Ansichten und Beziehungen neu definiert, neue Lebens- und Kunstformen etabliert.

Virginia Woolfs Sprache ist unverwechselbar. Bildreich und verwoben erinnern mich ihre Romane und ihre Kurzprosa zuweilen an eine fein ziselierte Stickarbeit auf hauchdünnem Gewebe. Manchmal gerät ein Regenschauer darauf oder jemand zieht daran, bis es einen Riss gibt, den man wieder flicken muss. Als gäbe es immer einen kleinen Misston im Hintergrund eines flüssigen Musikstücks, eine lauernde Gefahr im hohen Gras eines Sommers.

Ihre Essays bedienen sich einer ähnlichen Couleur. Sie sind fokussiert, gelegentlich ironisch und gespickt mit Anspielungen und Metaphern. In ihren Tagebüchern und Briefen nimmt sie Bezug auf ihr tägliches Leben, beschreibt Landschaften, Erlebnisse, Zweifel und Verzweiflung und bekennt, dass sich Außen- und Innenleben manchmal eklatant unterscheiden.

Das vom S.Fischer-Verlag zusammengestellte Lesebuch erschien bereits 2006, ist aber immer noch zu haben. Versammelt sind Auszüge aus ihren Romanen, Tagebüchern, Briefen und eine Auswahl ihrer Essays und Kurzprosa. So erhält man einen kleinen Einblick in ihr Gesamtwerk. Die Romane nur in Auszügen zu lesen, ergab für mich wenig Sinn. Für den ersten Eindruck ihres Schreibens sind sie sicher hilfreich. Allerdings nehmen sie fast die Hälfte des Buches ein. Das Lesebuch beginnt mit ihnen und so wird mancher Leser erst gar nicht bis zu den für dieses Format weitaus geeigneteren Texten gelangen, da die Unvollständigkeit enttäuscht. Wenn man sich damit zufrieden gibt, eine schöne Auswahl an Texten für den Einstieg vor sich zu haben, ist es genau dafür gut genug.

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