Simone Scharbert – Rosa in Grau

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...

Ich bin Malerin und habe Sprachen, nicht Kunst studiert. Der intellektuelle Background, die akademische und auch technische Ausbildung fehlen mir persönlich nicht. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum das Malen dadurch weitgehend ein Schöpfen aus dem Unterbewussten ist, trotz aller Übung, trotz Wachsen der Fertigkeit, Beherrschen der Technik, trotz der Betrachtung fremder Kunstwerke, trotz aller darauf folgender Nachahmung. Ich beginne meist mit einer Bleistiftzeichnung und nehme anschließend den Pinsel in die Hand. Das Bild verändert sich, ich folge dem Zufall, dem Zerfließen der Farbe, der intuitiv entstehenden Form. Der Charakter eines Portraits verändert sich, bekommt ein Eigenleben, nimmt meine Bewegungen, mein Ego auf. Es ist – nahezu immer – ein sehr befreiender, im Idealfall ein beglückender Prozess, in dem sich jede Intellektualität auflöst, die gesamte Chemie meines Körpers anders funktioniert. Dass das helfen kann, heil zu bleiben, habe ich am eigenen Leib erfahren. Denn auch ich war in der „Irrenanstalt“. Und ich hatte Glück.

Simone Scharbert – Rosa in Grau

Genau wie mir erging es Simone Scharberts Hauptperson in „Rosa in Grau“. Nun unterscheidet sich die Diagnose ihrer Protagonistin stark von der meinen und die Zeit ihres Aufenthalts in Haar-Eglfing liegt in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts, das exakt macht den Unterschied und der ist gewaltig. Als Basis für Simones Geschichte dienen historische Berichte von InsassInnen jener Heilanstalt, bringt die Sammlung Prinzhorn Steine fürs Fundament und das künstlerische Schaffen von Erkrankten mit. Die Ich-Erzählerin beschreibt, sie nehme die Welt wie durch eine Scheibe wahr. Während des Lesens habe ich ständig genau das empfunden. Zwar wird in der ersten Person geschildert, ich hatte aber durchweg den Eindruck, als befände sich ein zweigeteiltes Wesen vor mir, das zugleich von außen beschreibt und vor sein Ich tätig einen Riegel schiebt, ein Unverständnis, eine Spiegelwelt, zu der nicht jeder Zugang haben darf. Nur nicht zu tief abtauchen, erfroren sein, nach außen blicken, aber nicht gesehen werden oder auch – nicht sich selbst sehen wollen.

Die Ich-Erzählerin schreibt zwar über das, was sie und ihre MitpatientInnen tun und fühlen – skizziert Verzweiflung, Wahn, Leere – aber immer mit Abstand, mit einem Schritt hinter dem Fühlen. Da ist vom Weinen die Rede – einer „Wasserflut, einer eigenen Sprache“ – die alle sprechen und die nur an diesem Ort verstanden werde.

Eugen fasziniert zugeschaut habe, wie dann meine Stirn die Wand berührt habe. Zu Beginn fast zärtlich. Als habe ich eintrauchen wollen. In dieses Weiß, in die Wand. Dass er mich, meinen Namen gerufen habe. Dann, als mein Wippen stärker wurde. Dass ich nicht reagiert hätte. Im gegenteil: Ich meine Stirn nun gegen die Wand geschlagen hätte. Immer wieder. Ohne langsamer zu werden. Mit Druck. Wut, offensichtlich. Dass er nicht gewusst habe, was zu tun sei. Und dann diese Schreibe. Hoch, dünn. Schwer zu fassen. Langgezogene Töne. Dass er an Pfauen gedacht habe. Pfauenschreie. Ich ihm Angst gemacht hätte. Mein Körper, meine Stsitmme, mein Wesen. Er ein paar Schritte auf mich zugegangen sei. Mich habe berühren wollen, abhalten. Vom weiteren Wippen. Die Haut auf der Stirn schon aufgeplatzt sei. Ich offenbar nicht bemerkt, es mir nichts ausgemacht habe. Dass ich vielleicht nichts mehr spürte. Meinen Körper, den Shcmerz. Dass er mir helfen, das Blut habe stillen wollen. Er die Hand ausgestreckt habe. Aber zurückgezuckt, schließlich gerannt sei. Den Gang entlang zu ihrem Zimmer. Ich höre ihr zu. Sie erzählt ohne Pause, aber ruhig. Ich kann mich an nichts erinnern. So viel ist also sicher. Meine Erinnerung ist ein schwarzes Geschöpf. Sie wohnt in mir. Sie ist still, erzählt nichts mehr. Seit längerem schon. Schweigt. Kein einziges Wort. Ich habe mich daran gewöhnt. An diese Schwärze. In mir. Und dass andere Menschen mehr darüber wissen, als ich selbst.“

Die – sicher nicht unbeabsichtigt – namenlose Mutter hat sich und ihren Kindern offenbar aufgrund ihrer schizophrenen Erkrankung Gewalt angetan. Man lässt sie einweisen. Eines ihrer Kinder – Rosa – erscheint ihr, ist ständig bei ihr und zugleich ein Spiegelbild ihres eigenen Selbst. Je länger sich der Klinikaufenthalt hinzieht, umso weniger werden die Halluzinationen, der Zugang zum Kindlichen. Für die Gesundung wird in der Klinik allerdings wenig getan, im Gegenteil – Gefangenschaft und fragwürdige medizinische Praktiken zeichnen ein Bild von Entmenschlichung und Vernachlässigung der Patientinnen. Einzig Schwester Käthe kümmert sich, zumindest zu Beginn und bevor sie nach einer langen Zeit die Anstalt verlässt. Sie erzählt von nationalsozialistischen Zeiten, in denen an Menschen Experimente vorgenommen wurden. Sie verschweigt nicht, dass aus dieser Zeit noch Vieles in heutigen Tagen steht und praktiziert wird.

Als die Mutter schließlich entlassen wird, hat sie Schwierigkeiten, ihr Leben wieder aufzunehmen. Ein Aufenthalt in der „Irrenanstalt“ und der Makel der geschiedenen Frau sind Kainsmale, die isolieren. Sie schafft es nicht, muss wieder zurück in die Anstalt und das für sehr lange Zeit.

In all der Ödnis schimmern Lichter. Lichter, die ich kenne und von denen ich oben geschrieben habe: Ein Patient, der malt, eine Patientin, die aus ihren eigenen Haaren das Gesicht eines Mannes auf einen Fetzen Stoff stickt, eine, die aus kleinen Streifen auf dem Boden ihres Zimmers einen Sternenhimmel baut und schließlich die Mutter selbst, deren Zuflucht, Verbindung zu Ding oder Mensch und Kraftquelle Wörter sind.

Wann immer ich kann, male ich Wörter. Mit dem Zeigefinger… auf alles, was mir unterkommt, male ich Wörter. Ich male auf Wände, auf Fenster, auf Tischplatten. Ich male auf Haut, auf Kleidung, auf Laken.“

Doch anders als bei mir gibt es in den 50er Jahren wenig Raum in solchen Einrichtungen dafür. Und so nagt die Zeit auch an unserer Hauptperson und nimmt ihr, was sie tröstet und hält. Denn zu all dem addiert sich, dass jemand, der mit psychischer Erkrankung umzugehen hat, das oft ein Leben lang tun muss – und in Anstalten wie diesen, in Zeiten wie diesen vergessen wird.

2017 erzählt der Sohn des kommissarischen Leiters der Anstalt, Peter Schmidt, in der Süddeutschen Zeitung von seinen Erlebnissen. Man habe noch lange nach Bekanntwerden der Verbrechen hinter diesen Mauern geschwiegen. Erst in den 80er- und 90er Jahren habe sich das verändert. Der Direktor Peter Brieger habe damals die Aufarbeitung vorangetrieben.

Im Haar-Eglfing wurden während des zweiten Weltkriegs Verbrechen begangen, die mancher KZ-Praktik in nichts nachstanden. Wie Brieger ermittelt, wurden bis zu 2000 PatientInnen, unter ihnen viele Kinder, umgebracht. Noch einmal 2100 PatientInnen wurden in Tötungsanstalten gebracht. Man habe direkt nach dem Krieg das Personal mit Waffengewalt zwingen müssen, den PatientInnen Essen zu geben. Das alte System, so sagt er, sei so verinnerlicht gewesen, dass nach dem Krieg brutal weitergemacht wurde wie zuvor, ohne überhaupt ein Unrechtsbewusstsein zu entwickeln. Schmidt selbst wurde abgesetzt, offenbar, weil alte Instanzen ihre Macht und ihre Methoden nicht aufgeben wollten. In der Zeit, in der das Buch spielt, sind also solche Praktiken durchaus noch Usus.

Schön auch ist die Gestaltung des Buches, bei der Bilder von KünstlerInnen aus psychiatrischen Einrichtungen als Illustrationen verwendet wurden. Mir gefallen Einband und Satz sowie das Format ebenfalls ausnehmend gut. Was an diesem Buch besonders hervorzuheben ist, ist Simone Scharberts unnachahmlich poetische Sprache, ihr Zeichnen von Wortlandschaften, auf denen ich als Leserin mit Wonne gesegelt bin. Leseempfehlung!

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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