Besser leben mit dem Rücken zur Wand

Gedanken über den Rücktritt und andere Schritte

 von Dirk Jürgensen …

Wer mit dem Rücken zur Wand steht, kann nicht zurücktreten. Diesen Satz sollten nicht nur Politikerinnen und Politiker einen Moment wirken lassen.

Denn er ist in seiner bildhaften Bedeutung überraschend richtig, nur verstehen wir ihn in seiner alltäglichen Verwendung anders.

Wer mit dem Rücken zur Wand steht, hat die wohl sicherste Position inne, muss nicht allein auf sein Vertrauen bauen.

Wand © Dirk Jürgensen

Wie bitte?

Ich stehe immer hinter dir, kann eine Drohung sein.

Nur wer mit dem Rücken zur Wand steht, hat einen Dolch im Rücken nicht zu fürchten. Gefahr kann allein von vorne kommen. Nicht einmal ein Absturz in hinter uns lauernde gefährliche Tiefen – nicht Untiefen, schließlich wären diese gar nicht tief – ist möglich.

Gut, wer mit dem Rücken zur Wand steht, kann nur die Flucht nach vorne oder zur Seite antreten. Das mag zunächst ein Nachteil im Sinnes eines gerne im Mittelpunkt Stehenden sein, der die jederzeit mögliche ausweichende Bewegung in alle Richtungen als Sinnbild der Freiheit versteht und für den die Sicht auf die Dinge eine notgedrungen kurzfristige ist. Eine Freiheit bis zur Beliebigkeit. Das Fähnchen im Wind. Liberal im liberalen Sinne, ist, in Erinnerung an den großen Loriot, eben nicht nur liberal. Der Standpunkt in der Mitte ist recht instabil und erfordert eine immer schneller werdende Rotation. Aus allen Richtungen droht ein Hinterhalt, und die aus Überforderung wachsende Sehnsucht nach einer sicheren Wand im Rücken, einem Rückhalt, wird verständlich.

Früher wurden Kinder zur strafenden Demütigung in die Ecke gestellt. Eine Ecke besteht sogar aus zwei Wänden. Dabei hat man schon mit dem Gesicht zu nur einer Wand stehend Freund wie Feind unsichtbar in seinem Rücken – sieht nur die Wand, die selten transparent oder ein Spiegel ist, spürt Unsicherheit. Außer ihr hat dieser bedauernswerte Mensch nichts und niemanden, der sich schützen vor ihm aufstellt. Jeder Schritt zurück führt tiefer ins Ungewisse, was im vorangestellten Beispiel der Rohrstock des Lehrers die Häme der ganzen Klasse war.

Ein Zurücktreten wäre mit dem Gesicht zur Wand zwar möglich, doch an einen Gewinn an Gewissheit, an Sicherheit und das Verhindern eines für beide Seiten schmerzhaften Anrempels ist nur nach einer Drehung zu denken. Hoffnung böte höchstens ein offenes Hintertürchen. Das fehlt meistens. Der Fortschritt bei einem zur Wand gerichteten Blick bedeutet ohne vorherige Drehung kostet bestenfalls eine platte Nase. Da ist sie wieder, die beruhigende Wirkung eines Rückens zur Wand. Wer wünscht sich schon am Ende seines Lebens, dass die einzige hinterlassene Spur ein blutiger Abdruck der Nase an einer Wand ist?

Wer mit dem Rücken zur Wand steht, kann nicht zurücktreten. Und, das möchte ich den letzten Zweiflerinnen und Zweiflern ans Herz legen, ist wirklich für alle Seiten von Vorteil. Unsere anonyme Musterperson kann beim Versuch seines physikalisch eigentlich unmöglichen Rücktritts – also nicht einmal aus Versehen – niemandem auf die Füße treten.

Wer mit dem Rücken zur Wand steht, hat die ganz große Zukunft vor sich.

Wer zurücktritt, wer nach hinten ausweicht, hofft möglichst bald die Wand im Rücken zu spüren, sein Gesicht weiterhin in Würde zeigen zu können, sein Gesicht nicht zu verlieren. Wer zurücktritt, hofft damit bestenfalls dem Doch entgangen zu sein. Julius Cäsar hätte einst wohl besser mit dem Rücken zur Wand gestanden.

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