Prolog

Der vorläufige 1. Teil der Norderschauholm-Chronik

 von Dirk Jürgensen ...

Marquard Brodersen, der Dichter

Landschaft in Angeln © Dirk Jürgensen - Düsseldorf

Irgendwann, nicht sehr lange nach dem Krieg – es dürfte aber schon 1952 gewesen sein – war Marquard Brodersen da. In Süderbrarup.

Sein einst edler Anzug staubig, etwas zerlumpt, in diesen Zeiten nicht ungewöhnlich, so entstieg er gemeinsam mit vier Kindern, die eine kleine Tafel mit Namen und Ziel um den Hals trugen und von einer Diakonisse in Empfang genommen wurden, so entstieg also dieser Brodersen mit einem kleinen Koffer unter dem einen Arm und einer unverpackten Reiseschreibmaschine Marke Erika unter dem anderen dem Hamburger Zug.

Er schaute sich um, ohne wirklich etwas zu sehen; ein Ritual, das Menschen immer wieder vollführen, wenn sie irgendwo angekommen und bereit sind, das Unbekannte in Besitz zu nehmen.

Brodersen suchte nach einem Taxi und entdeckte nur das kleine auf dem Vorplatz wartende Pferdefuhrwerk und ließ einen mächtigen Koffer, es war einer dieser altmodischen Überseekoffer, von zwei Dienstmännern – Bauernburschen, die sich im Sommer an den Badegästen etwas dazuverdienten – aus den Gepäckwagen des gleich nach Flensburg weiterfahrenden Zuges ausladen und hinten auf das Gig festschnallen, wobei dessen Blattfedern bedenklich quietschend nachgaben.

Brodersen reichte den Jungen wortlos ein paar Groschen, bestieg die Kutsche und setzte sich neben den Fahrer. Dieser, Hans-Otto Otzen, der aufgrund seiner seltenen Fahrgäste berufsbedingt geduldigste Bürger Süderbrarups, wartete drei Minuten, vielleicht auch vier oder fünf, erhielt auch nach sechs Minuten noch keine Ansage, wohin die Fahrt denn nun gehen sollte. Sein Fahr- oder besser Sitzgast, saß nur da, mit der Schreibmaschine auf dem Schoß und dem kleinen Koffer zwischen den Füßen, schüttelte ab und an bedächtig seinen von der Bahnfahrt bei offenem Fenster zerzausten und vom Ruß der Dampflok gefärbten Kopf und sagte nichts.

Es mag die zehnte Minute gewesen sein, Hans-Otto bekam langsam Durst und hatte gerade die Entscheidung getroffen, sich in der Bahnhofswirtschaft eine Erfrischung und dem Manne in seinem Pferdewagen noch etwas Bedenkzeit zu gönnen, da brachte dieser völlig unerwartet und angesichts der eben gefassten Planung im falschen Augenblick so etwas wie zwei ganze Sätze über seine Lippen:

»Ich komme aus Hamburg, eigentlich von viel weiter weg. Ich bin Schriftsteller und brauche meine Ruhe.«

Damit konnte Hans-Otto wenig anfangen. Dennoch bestätigte er mit einem zackigen »Jau« den Empfang der Botschaft. Und da er ein so geduldiger Mann war, hoffte und wartete er auf weitere Informationen oder sogar Anweisungen.

Diese folgten nach einigen weiteren Minuten.

»Ich brauche eine Unterkunft, eine ruhige, möglichst abgelegen. Ich muss nachdenken können.«

»Hier in Süder vermieten alle an Badegäste. Mit Vollpension und auch ohne.«

»Badegäste? Die sollen mir wegbleiben.

Essen? Das mache ich mir selbst.

Abgelegen soll es sein.

Fahr doch endlich mal los.

Dir fällt schon was ein.«

Hans-Otto Otzen wunderte sich nicht über das ungefragte Du, denn dazu kam es viel zu selten vor, dass ihn jemand siezte.

»Ich fahr zu Petersen-Hof, da ist bestimmt was frei.« So lautete der Entschluss des Kutschers.

Hans-Otto Otzen nahm die Zügel zur Hand, was dem alten Kaltblüter Anlass genug war, ein paar recht unkoordinierte Schritte ungefähr nach vorne zu machen.

Nachdem sich Pferd und Fahrer nach einer kurzen Diskussion über die Reiserichtung geeinigt hatten, hoppelte der Einspänner über das Kopfsteinpflaster durch das von Ost nach West langgestreckte Städtchen, dessen Häuser sich mit ganz wenigen Ausnahmen nur entlang der geraden Dorfstraße gruppierten.

Von Nord nach Süd gequert, verwandelte sich Süderbrarup in ein winziges Dorf. Das hat sich bis heute kaum geändert.

Etwas außerhalb, dort, wo die Dorfstraße zur Landstraße geworden war, wies ein Zimmer-frei-Schild in eine Kastanienallee, die vor dem malerisch am Ufer der Schlei gelegenen Petersen-Hof mündete.

Wer diesen Landstrich mit Namen Angeln nicht kennt, das sei bemerkt, würde diesen hier recht üblichen Dreitseithof für einen noblen Gutshof halten.

Links und rechts je ein Stall oder eine Scheune aus leuchtend rotem Backstein, in der Mitte ein mit englischem Schiefer gedeckter weißer Prachtbau, das Bauernhaus.

Auf dem Hofplatz parkte einer dieser neuen Barockengel von BMW. Autos waren hier in diesen Zeiten noch rar. Die Ersten, die sich eines leisten konnten, waren die etwas größeren Bauern, schließlich konnten sie in den Kriegsjahren gute Tauschgeschäfte – Lebensmittel für Sachgüter – machen. Manche hatten in ihren Scheunen Lager bester Orientteppiche angelegt, die sich mit dem eben beginnenden Wirtschaftswunder als wahre Schätze erwiesen.

Die Bäuerin, mit Kittelschürze bewehrt und ihren unter dem Kopftuch hochgesteckten Haaren, hatte von der Küche aus einen idealen Blick auf die Kastanienallee und stand, als das Fuhrwerk den Hof endlich erreichte, schon vor ihrer Haustür.

»Moin.«

»Moin.«

»Ik hev hier‘n Badegast för Di.«

»Ich bin kein Badegast. Ich brauche eine ruhige Unterkunft für längere Zeit. Zum Schreiben.«

»Jo. Da hab ich doch noch ne Stube ünnern Dach. Mit Frühstück und Blick auf die Schlei und …«

»Nein, nein, nein. Ich will alleine bleiben. Nicht im Haus mit … Also nein, nicht … Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich brauche einfach meine Ruhe. Ich bin Schriftsteller.«

Es entstand eine gedankenschwere Pause, eine Ruhe, die nur durch ein lautes Muhen unterbrochen wurde, das das Gebäude rechts als Stall auswies.

»Nee, denn wird das wohl nix« entschied die Bauersfrau.

Brodersen stubste den Kutscher an: »Fahr weiter.« Und zur Bäuerin gerichtet, die schon wieder ins Haus gehen wollte: »Nichts für ungut, Frau, äh. Wiedersehn!«

Hans-Otto lenkte den Kaltblüter zurück zur Kastanienallee, blieb vor dem Einbiegen auf die Hauptstraße stehen und überlegte, welche Unterkunft seinem Fahrgast gerecht sein könnte. Nach schier endlosen Minuten hatte er eine Idee.

Um es an dieser Stelle kurz zu fassen:

Diese Idee war in den Augen Brodersens ebenfalls nicht zufriedenstellend. Auch nicht die nächste und die darauf folgende.

Immer wieder waren lärmende Kinder, quiekende Schweine, eine Fasanenvoliere oder ein knarrendes Windrad für das Missfallen des Schriftstellers verantwortlich. Selbst eine einsame Waldhütte war ihm nicht recht. Zwischen hohen Buchen war es zu dunkel.

So wackelte der Gig über großzügige Chausseen, kurvige, von Knicks eingefasste Sträßchen, Schotterpisten, Feld- und Waldwege. Die ständigen Richtungswechsel machten eine Orientierung und das Abschätzen, welche Strecke zurückgelegt worden war, für einen Fremden unmöglich.

Immerhin wurde es um die Suchenden herum immer einsamer und Hans-Otto Otzen galt nicht als jemand, der gerne aufgab, was nach wohl sechs oder sieben Fehlversuchen endlich nicht mehr nötig war.

So also kam Marquard Brodersen – der Dichter – nach Norderschauholm.


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© Dirk Jürgensen – Veröffentlichungen des Textes und der Bilder, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.

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