Keine Besserung in Sicht – Der Kapitalismus, ein System der Unbelehrbarkeit

von Dirk Jürgensen ...

Die Intervalle zerplatzender Ökonomie-Blasen scheinen immer kürzer zu werden. Vor wenigen Jahren war es die der sogenannten New Economy und, kaum davon erholt, spüren wir die Wirkungen einer weltweiten Finanzkrise, die mit einer Krise des amerikanischen Immobilienmarktes begann. Heute erleben ganze Nationalstaaten das, was wir bislang nur von erfolgslosen Unternehmen kannten. Immer ging und geht es darum, dass Menschen über ihre Verhältnisse leben, Verbraucher von findigen und windigen Verkäufern übervorteilt werden, Börsenmakler und Manager mit Geldern jonglieren, die gar nicht vorhanden sind, zumindest nicht ihnen gehören. Hinzu kommen weltpolisch bedeutend gewordene Bewertungen von Rating-Agenturen, kommerziellen Unternehmen also, in denen Menschen arbeiten, die jenen Verursachern der Geldverbrennung wie eineiige Zwillinge gleichen. Auch das Rating ist nur Teil eines Systems ständiger Preisfindung.

Wie konnte es nur dazu kommen, dass Regierungen, ob sie demokratisch gewählt oder gewaltsam eingesetzt wurden, ist dabei unerheblich, ihre Souveränität am Bankschalter aufgaben? Den Begriff der Politik könnte man neuerdings als „Reaktion auf die Vorgaben des Finanzmarktes“ übersetzen. Regierungen gehören kaum noch als solche bezeichnet, denn statt den Märkten klare Regeln zu setzen und deren Einhaltung zu erzwingen, lassen sie sich von ihnen gängeln.

Handel und Wandel haben sich getrennt, der Handel ist zum Selbstzweck geworden, der dingliche Wert zur reinen Fiktion. Gewinne stellen sich aufgrund bloßer Erwartungen ein, Verluste ebenso. Was gemeinhin als Realität wahrgenommen wird, ist das Glück unserer Leitbilder und das Leid Unbeteiligter. Verantwortliche scheint es gar nicht zu geben, denn das, was als Kraft des Marktes verehrt das Leben der Menschheit bestimmt, findet auf einer technischen Ebene statt, in der sich ein Einzelner sicher vor Rechenschaft verbergen kann. Er macht als Teil eines Getriebes mit, das vielen Getriebenen wie gottgegeben erscheint, oder er verweigert sich der allgegenwärtigen Realität. Vollständig heraushalten kann sich jedoch niemand. Welche Seite definiert eigentlich den Realitätsverlust?

Finanzkrise

Alles nur ein Spiel?

Solange wir dieses herrschende Wirtschaftssystem nicht endlich als Psychose verstehen, bleibt es ein Spiel. Ob es ein lustiges oder ein böses ist, bestimmen der Würfel, die Höhe des Einsatzes, Gewinn oder Verlust. In alle Richtungen darf spekuliert werden, doch stets überwiegen die Verlierer. Aktienkurse steigen, wenn Unternehmen ihre personelle Substanz in die Arbeitslosigkeit entlassen, man weist Luftbuchungen als Vermögen aus und kassiert viel zu hohe Gehälter und Prämien, die aus Buchgewinnen bezahlt und mit tatsächlich oder vermutlich steigenden Aktienkursen begründet werden. Sollten die Protagonisten das Unternehmen und alle davon Abhängigen soeben in den Ruin geführt haben, ist ihnen aus purem Hohn sogar noch eine Abfindung gewiss. Sollte in all diesen Vorgängen der Rest einer gewissen Vernunft enthalten sein, verkaufen Computer, denen Vernunft und Emotion fremd ist, Werte, weil sie andernorts Verkäufe registrieren. Der Mensch hat sie so programmiert, um sich vor seiner eigenen Menschlichkeit bis in den eigenen Ruin hinein zu schützen.

Gesellschaftliche, politische und ökonomische Entwicklungen kennen wir nur noch als Flimmern eines Oszilloskops. Der Lebensrhythmus reduziert sich auf die Konjunktur. Phasen des Booms, des wirtschaftlichen Aufschwungs bis zur Hochkonjunktur folgen auf jeden Krieg, auf jede Krise und fast jeden Zusammenbruch. Jede Phase hinterlässt Opfer und Profiteure. Deren jeweilige Zahl schwankt beträchtlich, doch da als Wohlstand im allgemeinen Verständnis nur der statistische Durchschnitt zählt, ist es einerlei, wie weit sich die Reichsten und die Ärmsten von der Mitte entfernen. Dieser Satz gilt sogar, wenn die Mitte menschenleer geworden ist. Der Durchschnitt ist nur Berechnung.

Ewiges Wachstum, so heißt der Mythos der Kapitalismusjünger. Wenigstens ein Wachstum während der eigenen Lebenszeit soll es sein, besser noch während der Lebenszeit der eigenen Kinder. Es ist ein Mythos oder auch der zutiefst menschliche Traum vom ewigen Leben, den der Kapitalismus zu seiner Rechtfertigung benötigt. Dabei kann es ihn ohne den Zusammenbruch und Zerfall gar nicht geben, wie auch jeder vermeintlich ewig wachsende Baum irgendwann stürzt. Erst von ganz unten lässt es sich wieder so richtig wachsen. Da verhält sich die Ökonomie also ganz natürlich.

In aufstrebenden Wirtschaftssystemen – inzwischen können wir diese als ein einziges globales System betrachten – bilden sich stets Gruppen neureicher Cliquen, selbsternannter Eliten, die in relativ rechtsfreien Räumen agieren. Reichtum ersetzt oder macht Politik, Armut kann nur zuschauen. Es erscheinen Grüppchen einzelner, besonders auffälliger Emporkömmlinge – kurz: die „High Society“ –, die allgemeine Bewunderung ernten und, gesellschaftlich kaum widersprochen, Träume von Chancengleichheit vermitteln. Sollten sich die Träume als unerfüllbar erweisen, werden Beschwerden darüber als Neiddebatte verunglimpft – auch das geschieht im gesellschaftlichem Konsens. In der Luft dieser „besseren Gesellschaft“ hingegen liegt spätestens beim Überschreiten ihres ökonomisch-sozialen Zenits immer ein Geruch von Dekadenz. Doch solange der unausweichliche Zerfall nicht für alle Menschen sichtbar zutage tritt, wird sich kein Bewunderer ewiger Wachstumsphantasien, erst recht kein Glücksritter davon abhalten lassen, dem trügerischen Gold eines vermeintlich goldenen Zeitalters nachzulaufen – er wird auf sein zukünftiges Dazugehören in Reichtum spekulieren. Solange monetäre Utopien soziale Utopien verdrängen, ist keine Besserung in Sicht.

Nichts ist in all dem bisher Beschriebenen neu. Die Zeit der 1870er Jahre bis zum Ersten Weltkrieg in den USA bezeichnet man noch heute als „Gilded Age“, als „Vergoldetes Zeitalter“. Es sind nach dem von 1861 bis 1865 wütenden Bürgerkrieg die Gründerjahre, die einen unvergleichlichen wirtschaftlichen Aufschwung brachten. Glücksritter, Spekulanten, Spieler und unzählige Verlierer prägen diese Epoche – und bis heute den Geist amerikanischen Freiheitsdenkens. Die Namen der Ölbarone, Eisenbahntycoons, Stahlmagnaten, Bankiers, der Astors, Carnegies, Rockefellers und Vanderbilts kennen wir noch heute. Wir wissen auch, doch verdrängen wir es wiederum auch gerne, von der großen Armut der Bevölkerungsmehrheit aufgrund rücksichtsloser Profitsucht und von der grenzenlosen Korruption, mit der die Ökonomie die Politik vereinnahmte – es sind die Gründe dafür, das Zeitalter nicht als „Goldenes Zeitalter“ bezeichnen zu können und den Begriff der Freiheit zu relativieren.

Wer ein Gespür für die damalige Wirklichkeit erlangen möchte, die nicht weit von der heutigen entfernt ist, kann dies mit einem seit einiger Zeit wieder in deutscher Sprache verfügbaren versuchen:

Die befreundeten Nachbarn Charles Dudley Warner und Samuel Longhorne Clemens, ihn kennen wir besser als Mark Twain, machten sich angesichts der gesellschaftlichen Entwicklung in ihrem Land über die realitätsferne Literatur ihrer Frauen lustig. Von diesen daraufhin herausgefordert schrieben sie gemeinsam den Roman „Das vergoldete Zeitalter: Eine Geschichte von heute“, einen satirisch-gesellschaftskritischen Roman, der 1873 erschien und einer ganzen Ära den Namen geben sollte. Man mag über die literarische Qualität des Werks streiten, übrig bleibt jedoch immer die rücksichtslose und immer wieder überraschend aktuelle Beschreibung einer Gesellschaft, in der jedes Mitglied eine Chance zur Verwirklichung seiner Träume erhält – wenn es genügend Rücksichtslosigkeit und Anpassung an ein korruptes System aufbringt. Und wer die Diskussion um die Schuldenobergrenze in der Legislative der USA verfolgt hat, wird eine Menge Parallelen entdecken.

Der im Roman beschriebene Kapitalismus steckt in seinen Kinderschuhen. Gerade deshalb macht er dessen Mechanismen für uns so gut verständlich:

Versprechen werden gegeben, doch niemals eingehalten. Träume haben ihren Nutzen, sie sind Motivation zur Spekulation. Lobbyismus ersetzt Demokratie und der Preis regelt die Rechtmäßigkeit. Wertschöpfung zeigt sich nur auf einem Konto, ist im Konkreten nicht relevant. Gerechtigkeit ist, wenn es mir und meiner Familie gut geht. Es kann gefährlich werden, sich im Sinne des Systems zu verkaufen.

Vielleicht müssen diese Dinge trivial verarbeitet werden, weil eine intellektuelle Herangehensweise mehr verschleiert als offenbart?

Ferner sollten wir die Stärke der Goldauflage anzweifeln, wenn die Tagesschau uns demnächst einmal mehr von einem kräftigen Aufschwung berichtet, von dessen Kuchen wir aus unerfindlichem Grunde kein Stück abbekommen. Dass wir dennoch den Traumangeboten der ökonomischen Welt erliegen, ist wahrscheinlich, denn alternative Utopien sind rar und viel zu wenig präsent. Auch Mark Twain, der die Mechanismen so drastisch zu entlarven wusste, ging nur wenige Jahre nach der Veröffentlichung des „Vergoldeten Zeitalters“ als Spekulant in die Pleite. Ausgerechnet der Vizepräsident von Standard Oil, Henry Huttleston Rogers, half ihm wieder auf die Beine zu kommen und seine Vorträge zur Schuldentilgung global zu vermarkten.

Auch in dieser edlen Tat zeigt sich die einzigartigen Fähigkeiten der kapitalistischen Wirtschaftsordnung: Sie rettet sich immer wieder im Kleinen und festigt im Großen ihre Unbelehrbarkeit. Sie schenkt uns den Irrglauben in die Zukunft schauen zu können, verspricht ewiges Wachstum und verschweigt den Zerfall.

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