Besuch beim Raketenmann

Professor Paulsens Erfindung

Der vorläufige 11. Teil der Norderschauholm-Chronik

von Dirk Jürgensen …

Jede Generation Norderschauholms kennt mindestens einen besonders schlauen Kopf. Der Entwickler der Taucherglocken, mit denen vor über vierhundert Jahren einige vermeintliche Hexen vor dem Ertrinkengerettet wurden, war nur einer davon.

Hanne möchte heute mit mir den Professer – ja, er sagt Professer und nicht Professor – Paulsen besuchen. Dieser ist an die hundert Jahre alt, in Hannes Worten »hinlänglich«, was wohl so etwas wie Pflegefall heißen soll. Er wohnt bei Emma Siem und wird dort von ihr versorgt.

Das Haus von Emma Siem ist mitten im Dorf zu finden. Es ist wie fast alle Häuser Norderschauholms entlang der einen Dorfstraße gruppiert. Eng an den schmalen Bürgersteig grenzend, der zu schmal ist, um nebeneinanderher zu gehen oder einen Entgegenkommenden ohne ein Ausweichen auf das Kopfsteinpflaster der Dorfstraße passieren zu lassen, so eng an diesen Bürgersteig gedrängt, dass das Fehlen von Vorgärten dem so kleinen Dorf fast schon einen städtischen Charakter gibt.Rosen © Jürgensen - Düsseldorf

Jedes Haus besitzt eine mit üppigen Zimmerpflanzen, Buddelschiffen, einer kurzen Spitzengardine und allerlei Kitsch dekorierte Utlucht, die, wäre sie nicht mit all dem Kram vollgepackt, die Möglichkeit gäbe, die Dorfstraße in ihrer ganzen Länge mit einem Blick vom Wohnzimmer aus zu kontrollieren. Eine Utlucht, höchstens noch ein weiteres Fenster und eine Haustür, breiter ist keines der Häuser, von denen die meisten zur Straße hin so niedrig sind, dass durchschnittlich große Menschen aufpassen müssen, nicht mit dem überhängenden Strohdach oder einer Regenrinne zu kollidieren. Dass Vorgärten fehlen, wird durch Stockrosen kompensiert, die zwischen dem Haussockel und dem Bürgersteig aus kleinsten Fugen wuchern. In der Blütezeit reichen sie nicht selten bis an die Traufe heran, wenn nicht gar darüber hinaus. Die Haustür wird von uralten, in allen Farben und mindestens faustgroß blühenden Rosenstöcken umkränzt, die selten so gesund und vielfältig wie in dieser Gegend vorkommen. Jeder ziert seinen Eingang mit seiner Lieblingsrose. Rosenkenner benötigen keine Hausnummern oder Namensschilder an den Türen oder Briefkästen.

Zwischen den Häusern, selbst beim langsamen Durchfahren des Dorfes ist das leicht zu übersehen, führen schmale, nur für schlanke Zeitgenossen ohne Schrammen zu passierende Gänge nach hinten in den sich länglich, teilweise bis zum Strand hinziehenden Garten oder zu einem »Stall«, der heute meist als Waschküche, Werkstatt oder Abstellkammer genutzt wird. Früher hielt sich darin jeder mindestens ein Schwein, das die Küchenabfälle genüsslich verwertete und zu einem Nahrungsmittelvorrat für ein ganzes Jahr heranwuchs. Heute gibt es Komposter und eine funktionierende Müllabfuhr. Auch in Norderschauholm.

Emma Siems Haustür ist verschlossen. Das scheint Hanne zu wundern, denn er kommentiert das mit einen »komisch« und führt mich in den eben beschriebenen Gang, der in diesem Fall an einer Tür endet, die nicht verschlossen ist, was Hanne sofort und ohne zu klopfen oder zu rufen feststellt. Hanne öffnet die Tür also, geht hinein und gibt mir mit einem Wink das unmissverständliche Zeichen, dass ich ihm folgen soll. »Ja, kann man denn so einfach, …?« Natürlich kann man.

Emmas Stall ist eine Kombination zwischen Waschküche und Badezimmer. Nur das winzige Kippfenster erinnert noch an die Vergangenheit. Es ist geöffnet, wird höchstens im Winter geschlossen, denn es dient den Mehlschwalben als Ein- und Ausflugsloch. Es herrscht reger Flugverkehr. Die an verschiedenen Winkeln der Decke angebrachten Nester müssen jetzt, kurz vor der Brutzeit, ausgebessert werden. Auf der Waschmaschine und an mehreren Stellen des Bodens hat Frau Siems alte Zeitungen ausgelegt. Schwalben achten nicht auf die moderne Nutzung des Stalls und die weiße Lackierung der Waschmaschine.

Hanne registriert diese Alltäglichkeit nicht, er hat meinem Sinn für Naturbeobachtungen nichts abzugewinnen. Er steht mit ungeduldigem Gesichtsausdruck in der inzwischen ebenfalls geöffneten Tür, die vom Stall in die Küche des eigentlichen Hauses führt. Diese wird schnell durchschritten und wir stehen in einer guten Stube.

Abweichend von der klassischen guten Stube, die nur an Sonn- oder Feiertagen genutzt wurde, ist diese zu einem Krankenzimmer umfunktioniert worden. Anstelle eines zu erwartenden Plüschsofas steht in diesem Raum mit seiner gelblich-braunen Tapete, zahlreichen Bildern – Portraits, Schiffsdarstellungen, technischen Zeichnungen, einer Landkarte, die den Holm noch als echte Insel ohne Landverbindung zeigt – zwischen antiken Möbeln ein Krankenbett. Vom im Bett liegenden Patienten ist zwischen Kissen und Decken nur das faltige Gesicht zu sehen, ein schlafendes Gesicht, dem die einhundert Jahre auch ohne Blick auf den Personalausweis geglaubt werden.

Hanne sagt recht laut und langgezogen »Mo-hoin Professer!« und die Augen des Alten öffnen sich wie durch einen Schalter betätigt. »Ach du bist das. – Und das ist der Reporter?« fragt eine zittrige Stimme eines offenbar auf meinen Besuch vorbereiteten Mannes. Ich erspare uns die Korrektur der Anrede als Reporter, reiche Paulsen meine Hand entgegen, sage »Moin« und stelle mich mit Namen vor. Paulsen versucht daraufhin seine Hand unter der Decke hervorzuholen, gibt aber schnell auf und deutet stattdessen ein leichtes Kopfnicken an. Auf »Hanne, help mi mol« drückt dieser auf einen Schalter, der das Kopfende des Bettes hochfahren lässt. Dann zieht er den alten Mann mit festen Griffen unter den Achseln ein Stück in die Höhe, wodurch seine Position der des Sitzens recht ähnlich wird.

Hanne übernimmt das Erzählen, schaut ab und zu zum Professor hinüber, um sich ein bestätigendes Nicken oder auch nur ein leichtes Augenzwinkern abzuholen.

»Der Professer Paulsen ist unser Raketenmann. Der hat schon als Kind angefangen, mit Schwarzpulver und irgendwelchen Flüssigkeiten zu experimentieren. Ständig hat das in der Scheune seines Vaters gekracht. Manchmal flogen die Dachziegel über das Dorf bis zum Jensenhof oder in die Ostsee rein. Einmal ist sogar das ganze Dach abgehoben und ist um anderthalb Meter verschoben schief auf den Mauern zu liegen gekommen. Die ganzen Holmer sind gekommen und haben das wieder gerichtet. Wie oft hast du dafür eine Tracht Prügel gekriegt? Na, egal. Die Schule hat ihn nicht so interessiert. Vielleicht war er dafür auch zu schlau. Gelesen hat er nämlich nur Zukunftsromane oder Bücher vom Rechnen oder von Physik, von denen der Dorfschullehrer nichts verstanden hat. Paulsen ist wohl der einzige Professer, der mit 15 ohne Schulabschluss abgegangen ist.

Nach der Schule hat er Signalraketen erfunden und dann auch gebaut, die höher geflogen sind und heller geleuchtet haben, als die, die man in Kiel kaufen konnte. Alle Fischer von Flensburg bis Kiel wollten die haben und haben richtig gut dafür bezahlt. Wenn man die hier hochgeschossen hat, war das Licht sogar noch auf Fehmarn zu sehen. Wer die Dinger hatte, konnte sich sicher sein, der wurde immer aus Seenot gerettet. Mit dem Experimentieren hat der Professer nicht aufgehört. Das hat ihm dann auch das halbe Bein gekostet. Dafür musste er denn wenigstens nicht zum Militär.

So ungefähr 1934 oder 35 haben die Nazis eine Stelle für ihre Versuche mit ihren großen Raketen gesucht. Es sollte ja unbedingt an der Ostsee sein. Hier waren sie auch, aber im Umkreis sind zu viele Inseln, die so ein Ding hätte treffen können. Deshalb sind die dann zum Glück nach Usedom gegangen. Wir wollten die auch gar nicht hier haben. Nur Paulsen, der war total begeistert und hat sich mit seinem Hinkebein an den Wernher von Braun rangemacht, der mit den Vermessern hier am Strand stand. Er hat ihm sogar eine von seinen Signalraketen geschenkt und wollte bei ihm arbeiten. Aber glücklicherweise war Paulsen dafür noch zu jung und zu behindert. Er durfte nicht mitgehen. Waren ja auch alles nur Studierte bei dem von Braun.

Direkt nach dem Krieg ist Wernher von Braun ja nach Amerika gegangen. Denen war ja total egal, ob einer was als Nazi auf dem Kerbholz hatte, wenn sie ihn nur gebrauchen konnten. Und irgendwann wollten die Amis ja auch in den Weltraum. Paulsen hat hier weiter seine Signalraketen gebaut und weiterentwickelt. Da waren sogar so Höhenraketen zur Wetterbeobachtung dabei. Richtig große Dinger. Ja, und als das dann mit der NASA losging und der Kennedy zum Mond wollte, da hat unser Professer hier in Norderschauholm kräftig mitgeforscht und dem von Braun immer Briefe mit seinen Ideen und Ergebnissen geschrieben. Kam aber nie ne Antwort. Dabei hatten die Amis richtig Probleme mit ihren Raketen, bis das denn endlich mit dieser Saturn V geklappt hat. Und da war eben unser Professer mit im Spiel. Der hat nämlich ein Teil erfunden, ohne das die dritte Stufe die Astronauten niemals in Richtung Mond geschossen hätte. So ein Teil liegt im Heimatmuseum, natürlich im Tresor. Also, ohne unseren Professer Paulsen wären die Amis niemals auf dem Mond angekommen. Das ist nunmal klar. Sacht er jedenfalls.«

Hanne holt sich eine letztes Bestätigungsnicken ab und ansonsten entsteht eine stille Pause großer Bedeutung. Nur zögernd unterbreche ich die Pause.

»Ich bin sehr beeindruckt«, bekomme ich in Gedanken an mein über einen Meter großes Saturn-V-Modell, das viele Jahre mein Jugendzimmer adelte heraus.

»Das hat dann sicher ein paar Millionen Dollar eingebracht?« spreche ich Paulsen direkt an, doch ich merke, wie sich die Miene des Alten wie auch Hannes in genau diesem Augenblick verfinstert.

»Nichts! – Rein gar nichts. Nicht einmal ein Dankeschön. Die haben die Erfindung einfach geklaut.«

»Das kann doch nicht sein. Gibt es denn einen Beleg dafür, dass die Erfindung tatsächlich verwendet wurde? Ein Patent? Ist ein Rechtsanwalt eingeschaltet worden? Wurde die NASA verklagt?«

»Dass die das Bauteil verwendet haben ist doch klar, sonst wäre die Rakete ja nicht bis zum Mond gekommen. Wenn das unser Professer sagt, dann ist das so. Basta. Aber mit den Rechtsverdrehern vom Festland wollen wir nichts zu tun haben. Wenn wir auf dem Holm was regeln wollen, dann kriegen wir das auch so hin. Haben wir immer so gemacht. Außerdem sind wir auf keine Million aus Amerika angewiesen. Wir gehen gleich mal zum Museum und dann zeig ich dir das Ding.«

Eine Illusion. Ein Wunschtraum. Mehr ist da nicht dran. Paulsen mag funktionierende Raketen gebaut haben, aber dass er ohne Beteiligung am Team von hundertausend Wissenschaftlern und Ingenieuren der NASA ein entscheidendes Bauteil für die Saturn-Rakete entwickelt haben soll, klingt mehr als bescheuert. Aber immerhin ist es eine Illusion, die diesem Menschen und wohl auch allen Dorfbewohner gehört, zum Teil ihrer stolzen Wirklichkeit gehört.

In meine nüchternen Gedanken hinein stammelt der Alte etwas, das wie »da, da« klingt. Seine Hände sind noch immer unter der Decke begraben, also weisen seine Augen quer durch den Raum. Hanne geht der Blickrichtung nach und landet an einer Kommode. Paulsen nickt. Hanne zeigt auf die oberste Schublade. Paulsen schüttelt den Kopf. Hanne zeigt auf die darunter. Paulsen nickt und Hanne zieht sie mit Mühe ein Stück heraus. Die Schublade ist schwer, sehr schwer. Papier wiegt eine ganze Menge und sie ist voller Papier. Lose Blätter. Alle mit handgezeichneten Skizzen und undeutlichen Zahlen und Anmerkungen versehen. »Kladde«, sagt Paulsen. Und tatsächlich findet Hanne in der zweiten Papierschicht eine altmodische schwarzweiß marmorierte Kladde. Hanne bringt sie ans Bett. »Aufmachen«, befiehlt Paulsen. Hanne öffnet sie und zeigt mir den Inhalt. Es sind Blaupausen eines Briefes und einer technischen Zeichnung. Mit der Zeichnung kann ich nichts anfangen, sie müsste man einem Fachmann vorlegen. Also nehme ich mir die Briefkopie vor, die an einigen Stellen nicht oder kaum noch zu lesen ist. Dies ist der ungefähre Wortlaut:

Sehr geehrter Herr von Braun,

anbei finden Sie meine Entwicklung, die Ihr Problem mit dem schnellen Umschalten bei voller Schubentfaltung der dritten Raketenstufe zum Verlassen des Orbits beziehungsweise dem Erreichen der Fluchtgeschwindigkeit löst. Neben einer Zeichnung erhalten Sie in gleicher Sendung ein Modell meines selektiven Umschaltventils, das den Regler vor der Oxidatorpumpe schwingungsfrei hält und dem Injektor eine gesteigerte Zuverlässigkeit bereitet.

Bitte lassen Sie es mich wissen, ob der Einbau von Erfolg gekrönt war. Selbstredend stehe ich für Rückfragen Ihrerseits stets zu Ihrer vollen Verfügung.

Hochachtungsvoll

Paulsen

»Das ist der Beweis, oder etwa nicht?« Hanne stupst mehrmals in meine Seite. »Oder was?«

Ich sage lieber nichts, was der Stimmung im Raum natürlich nicht gerade dienlich ist. »Ja, also, …« bekomme ich notgedrungen heraus.

»Siehste«, meint Hanne.

»Komm, ich hol dir das Ding aus dem Tresor. – Tschüß, Professer! – Wir gehen zum Rathaus.«

Der Professor ist längst eingeschlafen und träumt vom Flug seines Umschaltventils durch die unendlichen Weiten der Raums. Ist wohl auch besser so.

Hanne schiebt mich in Richtung Ausgangstür, wo wir beinahe mit Emma Siems zusammenstoßen.

»Soll ich keinen Kaffe machen? – Ich hab auch noch Kuchen da.«

»Keen Tid. Wir gehen zum Rathaus. Muss unserm Gast doch die Erfindung vom Professer zeigen. Kommen wieder. Tschüß.«

Mir bleibt keine Zeit, Frau Siems ordentlich zu begrüßen und mich gleichzeitig zu verabschieden. Schade. Nicht einmal für einen Blick auf die Mehlschwalben reicht die Zeit, viel zu schnell stehen wir wieder auf der Dorfstraße und nehmen Kurs aufs Rathaus mit seinem Heimatmuseum.


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© Dirk Jürgensen – Veröffentlichungen des Textes und der Bilder, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.

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