Fortunas Legenden müssen erzählt werden

Der Tag, an dem ich Teil einer vergessenen Fortuna-Legende werden durfte

Es war ein kalter, ein nasskalter Tag. Nicht ungewöhnlich für einen 17. Dezember. Meine Mutter stattete mich mit Schal und Mütze aus. Rot und Weiß waren nicht die Farben, obwohl es doch zum ersten Mal in meinem Leben zur Fortuna ging. Endlich hatte ich meinen Vater soweit. Endlich, denn Fußball spielte in unserem Haushalt eigentlich keine große Rolle, aber nachdem die deutsche Nationalmannschaft im Sommer dieses Jahres 1966 gerade die Weltmeisterschaft aufgrund des berühmten Wembley-Tores knapp verpasst hatte, konnte ich „eigentlich“ mit einem für mich positiven „aber“ versehen. Ein Argument war dabei sicherlich, dass es heute gegen den HSV ging, gegen den HSV der Brüder Bernd und Charly Dörfel, des Hans Schulz und natürlich des Uwe Seelers. Denn mein Migrationshintergrund ist nördlich eingefärbt. Meine Eltern kamen einst auf der Suche nach Arbeit aus der Gegend um Flensburg ins Rheinland. Somit hatten es die Vereine des Nordens bei uns immer leichter als die des Südens. Das hat sich bei mir bis heute gehalten, wenngleich meine erste Liebe dem Verein meiner Geburtsstadt Düsseldorf gilt. Somit war mein Auftrag des 17.12.1966 gewissermaßen ein pädagogischer.

Fußball war damals noch eine reine Männersache. Das war vermutlich der Grund für das Zuhausbleiben meiner Mutter. Vielleicht war es ihr auch einfach nicht interessant genug und ihr reichten die wenigen schwarz-weißen Fernsehbilder, die man damals grobkörnig zu sehen bekam.

Die Straßenbahn brachte uns zum Rheinstadion. Rheinstadion, da werden sich einige Leser erinnern, das ist doch diese imposante Betonschüssel mit zackigem Rand, die anlässlich der Fußball-Weltmeisterschaft 1974 erbaut und im Jahr 2002 gesprengt wurde. Ja, aber es gab zuvor an gleicher Stelle ein weiteres Rheinstadion. Eines, das bereits 1925 erbaut wurde und sich nach dem noch frischen Aufstieg der Fortuna 1966 in ein Bundesligastadion verwandelt hatte. Damals konnte man sich die Namen der Stadien gut merken, weil sie, spätestens nach dem Streichen ihrer Nazi-Vergangenheit ganz einfach ihren angestammten Namen behielten. Auch die aktuelle XYZ-Arena, die erneut an gleicher Stelle erbaut wurde, sollten wir in einem gewissermaßen anarchistischem Geist Rheinstadion nennen und all die Reklamenamen den Vermarktungsstrategen ohne lokale Bindung schenken. Aber ich schweife ab.

Merchandising war noch kein Begriff, den man in Deutschland brauchte. Dennoch hatte  es jemanden gegeben, der auf dem Vorplatz Fortuna-Kappen, -Fahnen und -Wimpel verkaufte. Mein Vater kaufte mir eine handliche Fahne. Ich war glücklich und stolz. So einfach war das damals. Lange habe ich die Fahne bewahren können. Heute vermisse ich sie.

Noch heute kann ich orten, wo wir unter den immerhin 38.000 Zuschauern einen Stehplatz fanden, an dem sogar ich Zwerg das Spiel beobachten konnte. Ins heutige Stadion übertragen dürfte es irgendwo zwischen Block 32 und 34 gewesen sein. Doch nun wird meine Erinnerung bis auf eine noch folgende Kleinigkeit diffus. Den Rest der Geschichte muss ich daher mit dem Blick auf Spielberichte der damaligen Presse mit Inhalt füllen. Achtjährige merken sich nur wenig und oft die falschen Dinge. Jedenfalls in meinem Fall war das so.

Die Hamburger kamen als Tabellenführer und zum Aufsteiger Düsseldorf, hatten zuvor Bayern München mit 3:1 geschlagen und brachten sechs Nationalspieler und zwei Trainer mit. Keine Frage, welche Mannschaft als Favorit angesehen wurde. Uwe Seeler galt zwar als angeschlagen, was ihn, wie die Rheinische Post verriet, nicht daran hinderte, ein 4:1 für den HSV zu tippen und nach 22 Minuten das erste Tor per Fallrückzieher zu schießen. International war „uns“ Uwe Immer mein Lieblingsfußballer. Aber heute war nicht international.

Ich sehe noch heute, wie mein Vater sich im Moment des beginnenden Jubels beherrschte, seine Arme nur halb, heute würde man als im Stil einer Bundeskanzlerin beschreiben, in die Höhe reckte und augenblicklich eine auffällig neutrale Stimmung einnahm. Ob er sich seiner Emotion mir gegenüber schämte oder schlicht Angst vor einer Bestrafung durch die umstehenden Fortuna-Anhänger hatte, ist nicht belegt. Mir war es jedenfalls ausgesprochen peinlich. So konnte ich das Fehlverhalten meines Erzeugers erst mit meinem Jubel über den in der 37. Minute durch Jürgen Schult erzielten Ausgleich bestrafen. Fortuna war zumindest ebenbürtig, was allerdings Uwe Seeler kurz vor der Pause nicht daran hinderte, mit dem Kopf zur erneuten Führung einzunetzen.

Nach der Pause wurde das Spiel recht hart. Fortunas Lungwitz foulte Uwe Seeler, der erst nach kurzer Behandlung weiterspielen konnte. Das Foul hatte den Hamburger Pohlschmidt derart erregt, dass er den Düsseldorfer Werner Biskup derart unterlief, dass dieser böse mit Rücken und Kopf auf den Rasen aufschlug und bewusstlos liegen bleib. Was dann geschah, möchte ich im Zitat erzählen, das der Düsseldorfer Boulevardzeitung Mittag „Als Biskup aus seiner Ohnmacht erwachte …“ betitelte:

„Die Geschichte von Werner Biskup erlebt selbst der unberechenbare Fußball selten. Es ist eine Geschichte, die man sich in Düsseldorf zehn oder 20 Jahre später als Legende erzählen wird.
Biskup, 24 Jahre alt, 178 Zentimeter groß, verheiratet, ein Star unter den Stoppern und ein Spezialist für Freistöße, wird ohnmächtig vom Feld getragen.
Aus und vorbei fürchteten die Zuschauer.
In der Kabine erwacht Biskup aus seiner Ohnmacht. Schwankend steht er auf. Er will seine Kameraden nicht im Stich lassen. Denn der HSV führt 2:1. Biskup kehrt zurück, benommen noch, der Schädel brummt ihm.

Werner Biskup - Fortuna Düsseldorf

Der ohnmächtige Werner Biskup (Fortuna Düsseldorf) kurz vor der Legende. – Foto: Mittag vom 19.12.1966

Und dann jagt er den Freistoß ins Tor, als sei der Ball eine Rakete. Hamburgs Mauer stand falsch. Das hatte Biskups durchgerütteltes Gehirn dennoch festgestellt. Er zielte und schoß, als habe er nicht noch vor sieben Minuten im Land der Träume einen Besuch gemacht. Das schaffen nur Männer mit der Willenskraft eines indischen Fakirs und der athletischen Kraft eines Zehnkämpfers, Männer wie Biskup. U.S.“

Und ich war dabei, hatte nach dieser 57. Spielminute langfristig das Entstehen einer Legende miterleben und kurzfristig auf den doppelten Punktgewinn gegen die Hamburger hoffen dürfen. Das mit der Legende war dem überregionalen Sportmagazin kaum eine Bemerkung wert. So ist das wohl mit lokalen . Auch ich hatte sie längst vergessen oder als Achtjähriger gar nicht mitbekommen. Manchmal machen Recherchen verdammt viel Spaß.

Obwohl oder weil es beim 2:2 geblieben ist, fuhren mein Vater und ich erhobenen Hauptes – ich zusätzlich mit wehender rotweißer Fahne – nach Hause.

Meine Fortuna hatte als Aufsteiger mit einer Spitzenmannschaft mitgehalten und irgendwie war es, wie es bei der Fortuna bis heute immer sein musste. Kein Spiel lief oder läuft vollkommen normal, kaum werden Spiele dominiert, jeder Erfolg wird mit zahlreichen Enttäuschungen erkauft, jedem Erfolg müssen zwangsläufig wieder Enttäuschungen folgen. Überschwang ist immer zeitlich eng begrenzt. Legenden sind zahlreich, mindestens so zahlreich, wie bei anderen Mannschaften, die wesentlich mehr Erfoglsbeweise in der Vitrine besitzen. Aber immer gehört zum Erzählen unserer Legenden, dass die Mannschaft kurz vor dem Erreichen des ganz Großen scheiterten. So durfte ich mit acht Jahren viel von der Ambivalenz im Leben erfahren und lernen.

Erfolge tun gut, aber Liebe können sie nicht begründen. Ob das ein Bayern-Fan jemals verstehen wird, der bereits Leiden zu spüren glaubt, weil seine Mannschaft nur Zweiter der Tabelle ist?

Am Ende der Saison 1966/67 feierte Eintracht Braunschweig die Meisterschaft. Fortuna Düsseldorf musste hingegen die Bundesliga nach einer nur kurzen Stippvisite wieder verlassen, um erst 1971 wieder aufzusteigen.

Daten zum Spiel

17. Spieltag der Bundesligasaison 1966/67 am 17.12.1966 um 15 Uhr

Fortuna Düsseldorf – Hamburger SV 2:2 (1:2)

Zuschauer: 38.000

Schiedsrichter: Rudibert Jacobi

Tore

0:1 Uwe Seeler in der 22. Minute

1:1 Jürgen Schult 37. Minute (Vorlage Jürgen Koch)

1:2 Uwe Seeler 42. Minute (Vorlage Charly Dörfel)

2:2 Werner Biskup 57. Minute

Aufstellung – Fortuna Düsseldorf

Dirk Krüssenberg (Tor)

Hans-Josef Hellingrath

Gert Wünsche

Fred Hesse

Werner Biskup

Werner Lungwitz

Hilmar Hoffer

Reinhold Straus

Waldemar Gerhardt

Jürgen Schult

Jürgen Koch

Kuno Klötzer (Trainer)

Aufstellung – HSV

Horst Schnoor (Tor)

Helmut Sandmann

Jürgen Kurbjuhn

Willi Giesemann

Egon Horst

Willi Schulz

Bernd Dörfel

Hans Schulz

Uwe Seeler

Manfred Pohlschmidt

Gert „Charly“ Dörfel

Josef Schneider und Georg „Schorsch“ Knöpfle (Trainer)

An dieser Stelle sei unbedingt an den wunderbaren Film Fortunas Legenden erinnert. Kurzweiliger kann man nicht in fröhliche Wehmut verfallen.

© Dirk Jürgensen – Veröffentlichungen des Textes, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.

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Düsseldorfer Legenden tragen immer eine gewisse Tragik in sich. Eine davon ist, dass Biskup 1968 ausgerechnet in die in allen weltlichen Belangen rivalisierende Stadt Köln wechselte, wo er für den dortigen 1. FC bis 1972 111 Spiele absolvieren und dabei als Abwehrspieler stolze 10 Tore schießen sollte. Lange vor dem damals sensationellen Wechsel Klaus Allofs zum FC, hatten wir also schon derartige Schmerzen ertragen.