Rückblick auf Edward Bellamy
von Dirk Jürgensen ...
Wir brauchen Utopien – Teil 2
– Meine Lese- und Gedankenreise auf der Suche nach noch zu entwickelnden Utopien, die uns Heutigen eine Weiterentwicklung der „idealen“ Gesellschaft eines Thomas Morus glaubhaft und Hoffnung stiftend vorführt, bringt mich in das Boston des Jahres 1887.
Damals erschien in den USA mit „Looking Backward: 2000-1887“ von Eward Bellamy einer der erfolgreichsten utopischen Romane und damit gleichzeitig einer der ersten . Dieser „Rückblick aus dem Jahre 2000“ ist vor einiger Zeit in einer empfehlenswerten Neuausgabe der Übersetzung von Clara Zetkin im Golkonda-Verlag erschienen.
Der Roman entstand in einer Zeit, in der die Industrialisierung rasante Fortschritte und gemeinsam mit der wachsenden Zahl von Einwanderern Arbeit immer billiger machte. Feudale Strukturen waren längst durch einen ungezügelten Kapitalismus ersetzt, der mit seinen wiederkehrenden Krisen immer und ausgerechnet die Ärmsten leiden ließ. So kamen mit dem Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit vermehrt auch sozialistische Ideen ins Land der vermeintlich unbegrenzten Möglichkeiten.
Angesichts der Arbeitskämpfe mit Streiks und Aussperrungen, die mit dem „Haymarket Riot“ von Chicago ihren tragischen Höhepunkt fanden, sah sich der Journalist und Zeitungsherausgeber Edward Bellamy gezwungen, sich konkret mit den drängenden sozialen Problemen zu befassen. So entwarf er den Gerechtigkeitsgedanken der ersten amerikanischer Einwanderer aufgreifend in Romanform das Bild eines zukünftigen (Welt-)Staates, in dem ökonomische und politische Gleichberechtigung herrschen, eine gerechte Güterverteilung keine Armut mehr kennt. Dies gelang ihm mit „Looking Backward: 2000-1887“ derart überzeugend, dass sich schnell zahlreiche „“ gründeten, die sich später auf seinen Wunsch hin in „Nationalist Clubs“ umbenannten. Auch eine Diskussionsplattform in Form einer Zeitung – „The Nationalist Monthly“ – wurde herausgegeben.
Bellamy hielt die Verwendung der Begriffe „Sozialismus“ und „Kommunismus“ in seiner Heimat für übel beleumdet, somit für kontraproduktiv und nicht verwendbar. (Einen umfangreichen Überblick zur Zeit und zu den Umständen des Erscheinens des „Rückblicks“, auf die Wirkungen des Romans und die Argumente seiner Kritiker von William Morris bis Ernst Bloch gibt das Vorwort des Herausgebers Wolfgang der oben angegebenen Ausgabe.)
Julian West, Bellamys Ich-Erzähler, 30 Jahre alt, ein eher gelangweiltes Mitglied der privilegierten Schicht Bostons, lässt sich aufgrund von Schlaflosigkeit von einem „Magnetiseur“ in einen künstlichen Schlaf versetzen, aus dem er zu seiner großen Überraschung nicht am 31. Mai 1887, sondern erst am 10. September 2000 erwacht. Ohne weiter auf die Einzelheiten der Geschichte einzugehen, möchte ich an dieser Stelle verraten, dass Julian West in eine Welt enormen technischen Fortschritts geraten ist. Die Industrie wurde in den Nutzen der Allgemeinheit gestellt, verwendet saubere Technologien, die die rauchenden Schlote der 19. Jahrhunderts überflüssig machen.
Schnell kamen mir beim Lesen Zukunftsentwürfe in den Sinn, die in meiner Jugend nicht selten waren. Mir wurde bewusst, warum mir ausgerechnet Bellamy so nahe ist:
Eine Nutzung des industriellen Fortschritts im Sinne einer gerechten Wohlstandsverteilung des „Rückblicks“ hallte noch in den Siebzigern des 20. Jahrhunderts als Ideal nach. Viele gingen auch damals davon aus, dass aufgrund des zu beobachtenden und stetig größer werdenden Anwachsens der Produktivität aufgrund des vermehrten Computer-Einsatzes, fortschrittlicher Maschinentechnik und der Arbeitsabläufe weniger menschliche Arbeit nötig würde. Ich kann mich noch gut erinnern, wie man sich damals das Arbeitsleben im Jahr 2000 vorgestellte, in dem Frauen und Männer täglich mehr Zeit mit ihren Familien verbringen könnten, Arbeitsplätze auf mehrere Arbeitnehmer verteilt würden (was später unter dem Begriff des Job-Sharings bekannt wurde), die dann mit ungefähr 45 Jahren in den aktiven Ruhestand wechseln könnten. Eine Diskussion um die Erhöhung des Renteneintrittsalters wäre uns damals absurd vorgekommen, da doch schließlich die Automatisierung menschliche Arbeit zu großem Teil überflüssig mache. Die Parallelen zwischen den Vorstellungen unserer jüngeren Vergangenheit zu Bellamys Jahr 2000 sind enorm und der gesellschaftliche Fortschritt wäre hinsichtlich der tatsächlichen technischen Innovation durchaus realisierbar gewesen. Wenn man denn gewollt und die Kraft gehabt hätte, gegen die reine Kapital- und Marktorientierung anzusteuern.
Arbeitnehmer, zu denen Vater gehörte, hatten in den Siebzigern noch das Gefühl, dass es stetig aufwärts ginge. Die Arbeitsbedingungen verbesserten sich an den meisten Industriearbeitsplätzen, Löhne und Gehälter stiegen in für uns unvorstellbar großen Schritten, für das Ersparte gab es gute Zinsen und immer mehr Menschen durften sich einen Urlaub leisten, wie ihn früher nur Wohlhabende kannten. vermutlich fehlte es gerade deswegen an revolutionärem Geist, der einen nächsten Schritt möglich gemacht hätte. Gewissermaßen tappte man in eine utopistische Falle, die den Blick auf mögliche Utopien (besser: Ziele) verdunkelte. Zwischen Ölkrise, Globalisierung und der in jüngerer Vergangenheit dramatisch ausgeweiteten Finanzkrise wurde den Menschen immer wieder begreifbar gemacht, dass der Wohlstandsfortschritt zumindest Pausen einzulegen hatte, man „Lohnzurückhaltung“ üben und längere Arbeitszeiten hinnehmen müsse. Quer durch fast alle Parteien und Presseorgane geht diese Parole im Dienste eines in seiner scheinbaren Unumstößlichkeit ominösen Wachstumsbegriffs, der in die Unendlichkeit strebt. Der heutige, neoliberal dominierte Kapitalismus duldet kein Ziel, kein Utopia, sondern versucht mit großem Erfolg Zufriedenheit zu einem Schimpfwort zu machen, indem sie in unanständiger Weise mit Stillstand gleichgesetzt wird. Einer der Religion des ewigen wirtschaftlichen Wachstums scheut Zufriedenheit wie der Teufel das Weihwasser. Neid hingegen, gepaart mit der Erziehung zum ist der Motor der Wirtschaft.
In Belamys idealem Weltstaat wurde der Zustand der Zufriedenheit erreicht. Kein Marktschachern, kein Neid schürendes Streben Gewinn oder höherem Einkommen stört die allgemeine Friedlichkeit des genossenschaftlichen Gemeinwesens, in dem grundsätzliche Gleichheit in Rechten und Pflichten herrscht. Zwar stößt es etwas unangenehm auf, dass nur verdiente Männer in Führungspositionen des Staates gelangen, Frauen hiervon ausgeschlossen scheinen, doch sollten wir diesen leicht zu behebenden Mangel der Entstehungszeit des Romans schulden. Auch erschreckt die Wortwahl, wenn davon die Rede ist, dass die Menschen (allerdings nur bis zum 45. Lebensjahr und immer unter Berücksichtigung ihrer Neigungen und Fähigkeiten) in den Dienst einer militärisch organisierten Industriearmee gerufen werden. Doch man sollte bedenken, dass klare Organisationsstrukturen früher einzig aus dem militärischen Bereich bekannt waren, weshalb zum Beispiel die heute noch so bezeichnete Logistik militärischen Ursprungs ist. Da die Güterproduktion und -Verteilung dem Gemeinwohl zu dienen hat, keine Über- oder Unterversorgung entstehen soll, ist die Anforderung an die Organisation der Arbeit ebenso anspruchsvoll wie im Geiste der Profitmaximierung. So gibt es ein ausgeklügeltes Ausbildungssystem, das die Fähigkeiten und Neigungen der Einzelnen stets berücksichtigt.
Da Bellamy in seinem idealen Wirtschaftssystem das abgeschafft hat, gilt es nicht mehr als Motivations- und auch nicht als Druckmittel in der Arbeitswelt. Vielmehr kann man sich über seine Leistung und dem Nachweis der Qualifizierung für angenehmere Arbeiten empfehlen. Eine „Bezahlung“ erfolgt in Form einer nicht für geleistete Arbeit, sondern dafür, dass man ein Mensch ist. Die Nähe zum derzeit immer wieder geforderten bedingungslosen Grundeinkommen ist unverkennbar.
Werbung ist aufgrund fehlenden Konkurrenzdenkens überflüssig geworden. Die Warenproduktion erfolgt aufgrund intensiver statistischer Erhebungen streng nachfrageorientiert. Bellamy verurteilt die in seinen Augen kapitalismustypische Produktion überflüssiger Güter zur Gewinnmaximierung, die nur mittels Werbung, also durch künstlich erweckten Bedarf an die Kunden gebracht werden können, damit überflüssig Arbeitskraft bindet und Unredlichkeit fördert. Eingekauft wird in von allen Bürgern schnell erreichbaren, sehr gut sortierten und luxuriös ausgestatteten Warenhäusern, die Muster aller verfügbaren Güter bereit halten. Bestellungen werden von dort via Rohrpost an ein Zentrallager gesandt. So können auch abseits der Metropolen alle möglichen Produkte angeboten werden. Kaum auszudenken, wie gut Bellamy unser Internet gefallen hätte! Es dürfte sich nicht nur in diesem Punkt lohnen, den „Rückblick“ Bellamys mit unseren Erfahrungen anzureichern und anzupassen, eine Fortsetzung zu finden.
Aufgrund all der eingesparten Arbeitszeit und des Wohlstands sind kulturelle Genüsse ein wichtiger Aspekt in Bellamys Utopie. So befindet sich in jedem Haus ein Musikzimmer, in das mittels zu jeder Tageszeit Livekonzerte in hervorragender Tonqualität übertragen werden. Music on Demand würden wir es heute wohl nennen.Mit weiteren technischen Errungenschaften des 20, Jahrhunderts geht Bellamy recht sparsam um. Im liegt es mehr an der Ausgestaltung der neuen Gesellschaftsordnung und nicht an Science Fiction.
So zeigt sich der Geist seiner Utopie besonders auch in den Bereichen Bildung und Erziehung, wo es als Devise gilt, dass die mit weniger natürlichen Gaben Versehenen eine intensivere Förderung benötigen als die Begabten, da Intelligente nach Ansicht Bellamys von sich aus nach Bildung streben. Im Staat des Jahres 2000 ist allgemeine Bildung ein Ziel, das im Interesse Aller liegt. Wer mag ihm da widersprechen?
Leider gibt uns Bellamy nur vage Hinweise auf eine größtenteils friedliche, evolutionäre Entwicklung, die diese neue Gesellschaftsform entstehen ließ. Da uns mit einem Utopia ein zu erreichendes Idealziel geboten wird, halte ich es für legitim, wenn der Autor den Weg von uns Lesern definieren lässt, wenn sie mit seinem Ideal einverstanden sind.