Menschenskind

 von Maria Jürgensen …

Jeder gesunde Mensch erzähle sich die Geschichte seines Lebens selbst, doziert der Mann im weißen Kittel und Thijs Vanderbeke bemüht sich darum, ihn wiederzuerkennen. Vertraulichkeit. Seinen Blickkontakt suchen. Aufmunterndes Nicken. Er pocht mit dem Kugelschreiber auf den Schreibtisch und Thijs folgt seinem Rhythmus. Denk.Nach. Denk.Nach.Denk.Nach.

Der Arzt erläutert, der Faden zu seiner Geschichte sei lediglich gerissen und es gelte, die einzelnen Versatzstücke wieder miteinander zu verknoten. Das brauche Zeit und Geduld. Immerhin seien Teile seines alten Lebens in seiner Erinnerung vorhanden und er habe nicht alles verloren. „Es gibt viel Anlass zur Hoffnung, Herr Vanderbeke,“ betont er, „Sie werden bald wieder segeln, um die Welt reisen und Ihre Reportagen schreiben können.“ Kursverlust. Eine gerissene, alte, undichte Maschine, die sich nicht mehr zusammenhalten lässt, das ist er. Schraube locker. Jemand hat auf eine Taste gedrückt und das Band angehalten.

Ein Boot segelt übers Wasser. Jemand lässt ein Lot hinunter. Schwärze. Früher. Jetzt. Helene. Später. Alles eins. Man weiß, wer man ist, wenn man darüber nachdenken kann. Denk.Nach.Denk.Nach. Hände schütteln. Wie hieß er doch gleich?

Vrouwenpolder © Jürgensen - DüsseldorfEr bewegt sich nicht. Blut läuft aus seiner Nase. Am neunten Juni Zweitausendsechzehn wird Thijs Vanderbeke, jemand, der weiß, wo es langgeht, mit einer Gehirnerschütterung in ein Krankenhaus in Panama eingeliefert. Der unerschütterliche Fels in der Brandung ist auf einen unerschütterlichen Fels in der Brandung getroffen. Ein weiches Gesicht mit großen, graugrünen Augen sieht ihn besorgt an, als er nach dem Unfall in einem breiten, drahtig knirschenden Bett erwacht. Vier Wochen Schwarz. Jeder Tag ist ein neuer Tag, an dem er sich nicht mehr an den vorherigen erinnern kann. Helene. Sie streichelt seine Stirn und seine Hände. Er fragt sie nach dem Aufwachen, ob sie wisse, was mit seinem Auto passiert und ob er Schuld am Unfall gewesen sei. „Segelboot“, antwortete sie nur, „es war dein Segelboot, Schatz.“ Schatz, denkt er. Einmal hat der Arzt den Versuch unternommen, sie einander ausführlich vorzustellen. Es konnte ja nicht sein, dass er seine eigene Frau vergaß. Wäre es nicht denkbar, dass das genauso wie vieles andere, was mit zunehmendem Abstand zum Geschehen wieder in seinem Gedächtnis auftauchte, plötzlich wieder da war? Das Gefühl für sie, die Liebe und Vertrautheit, ihr Name? Offenbar ist gerade dieser Gedanke für alle so unerträglich, dass sie sich an die Illusion klammern, eine simple Geschichte, eindringlich vorgetragen, verankere verlorene Identität und Gefühl. Helene will Hafen und Halt sein. Sie passe auf ihn auf, versichert sie ihm trotzig und er fragt sie täglich nach ihrem Namen. „Helene, verdammte Hacke,“ schreit sie ihn eines Morgens an. Da schreibt er ihren Namen auf ein Stück Papier, das er immer mit sich herumträgt. HELENE. Das hilft. Immerhin. Er vergisst immer weniger, auch den Zettel nicht. Und auch nicht den Kuss nach dem Aufstehen. Auf der Kommode neben dem Bett stehen jeden Tag frische Blumen. Sie spielen Scrabble. Sie lässt ihn Comics lesen, weil er bewegte Bilder auf Bildschirmen noch nicht verarbeiten kann. Beim Autofahren schließt Thijs die Augen und sieht ein Boot und ein Lot. Sie streichelt seine Arme und nimmt seine Hände. Ab und zu besuchen ihn die Freunde von früher. Er erinnert sich an die Gesichter und daran, wie sie sich kennenlernten. Thijs vermeidet Namen. Manchmal ist er sicher, seinen eigenen vergessen zu haben. Jeder nimmt eingehend Notiz von ihm und bleibt irritiert zurück, weil er irgendwie immer fehl am Platz wirkt und ihre Fragen nach seinem Befinden nicht wirklich beantworten kann. Das müssen andere für ihn tun. „Ich bin immer allein, selbst wenn jemand um mich herum ist“, sagt er zu Helene. Sie antwortet nicht. Aber er sieht, dass er sie arg verletzt hat. Dabei will er ihr nur erklären, dass sein innerer Monolog ständig abreißt. Es ist, als führe man ein Gespräch und vergäße im nächsten Augenblick, dass es überhaupt stattgefunden hat. Man kann nichts daraus mitnehmen, nichts lernen. Nicht sein. Er steht still, bewegt sich nie vom Fleck.

Der Unfall liegt inzwischen Monate zurück. Das Leben findet in unserem Inneren statt, sagt Helene und Thijs solle nachdenken, sich verdammt nochmal erinnern, sonst gehe ihr noch das letzte Bisschen verloren. Ich weiß, denkt er, ich weiß. „ Bist du nun tot oder bist du lebendig? Wer bist du überhaupt?,“ fragt sie. Das müsse ihn doch interessieren. Manchmal stampft sie mit den Füßen auf. Thijs joggt ums Haus. Er spielt Scrabble. Scrabble. Scrabble.

Das Schiff verliert das Gleichgewicht und Thijs mit ihm. Die Kajütenkante trifft seinen Hinterkopf. Er bleibt rücklings auf Deck liegen. Der Krankenwagen braucht eine Ewigkeit. „He’s bleeding like hell, for Gods sake,“ sein Steuermann legt eine Hand auf Thijs‘ Brust und ist erleichtert, als sein Atem sie hebt und senkt. Plattgewalzte Sprachfetzen säen sich in sein Hirn. Hear…me. Tell…here…rock…may…leak. Eine feine Quarte. Tonfolge A bis D. Sie sind da. Finally. Das Band schnurrt sanft vor sich hin, ein Motor tuckert in die Stille, erstirbt. Ruhe sanft in der Nacht. Ein paar Handgriffe genügen. Zwei Helfer heben ihn auf eine Trage, schließen ihn an ein Beatmungsgerät an und bringen ihn auf die Intensivstation des Fernando Perreira Krankenhauses in Colón. Fünf Tage, von denen kein einziger Fetzen Leben mehr übrig ist in seinem Kopf. Danach wird er nach Kortrijk ins Krankenhaus überführt. Helene ist bei ihm. Schatz, denkt er. „Ich würde dir gern alles erzählen,“ sagt er einem Freund,“aber ich weiß nichts mehr. Die Details musst du meine Frau fragen.“ Vier Wochen mit Wasser und Blut an Stellen im Gehirn, wo es nicht hingehört. Aber eine Gehirnblutung ist es nicht, sagt Helene. Auch einen bleibenden Gehirnschaden wird es nicht geben, weiß sie dem Freund zu berichten. Aber er erinnere sich nicht. An sie. Schon an ihre Vergangenheit. Da sei vieles da. Nicht alles. Die Erinnerung sei löchrig. Meist fehlten ihm die Namen und die Empfindungen dazu. Es ist, so sagt Thijs, als läge alles verklebt auf einem Haufen und könne nicht mehr voneinander getrennt werden. Als sei alles ein riesiges Bündel Papier, durchnässt vom Regen und mit verschwommenen Buchstaben. Ständig sei er auf der Suche nach den richtigen, den passenden Worten. Er erinnere sich an den Getränkeautomaten, der schräg gegenüber des Krankenhausfensters in einem Laden gestanden habe, sagt Helene. Vertraulichkeit. Seinen Blickkontakt suchen. Aufmunterndes Nicken. Sie pocht mit dem Zeigefinger auf die Sesselkante, schaut den Freund an. Denk.Nach.Denk.Nach.

Buchstaben © Jürgensen - DüsseldorfEr schreibt Tagebuch. Jeden Tag spaziert er zur Kommode, nimmt das Buch heraus und liest nach, was er am Tag davor gemacht hat, wer ihn besucht hat, was er isst. Thijs vergisst, dass er das, was da steht, tags zuvor hineingeschrieben hat. Aber er erkennt seine Handschrift. Scrabble. Helene streichelt seinen Arm und küsst ihn. Auch das schreibt Thijs auf. Sie ist seine Frau. Thijs weiß noch nicht, seit wann sie sich eigentlich kennen, kann sich aber an die Hochzeit erinnern.

Helene muss wieder zur Arbeit. Von irgendetwas müssen sie ja leben. Er kann noch nicht an den Computer zurück und schreiben. Das Tagebuch ist das, was er so gerade schafft. Sie hat einen Herd gekauft, der sich automatisch ausstellt, wenn er vergisst, die Platten auszuschalten.

Sein Nacken schmerzt. Es sind die ersten Schmerzen, an die er sich am nächsten Tag noch erinnern kann, seit er den Unfall hatte.

Und auch am übernächsten Tag weiß er noch, dass der Schmerz zwischen seinen Schulterblättern saß, sich dann allmählich hinaufzog bis in seinen Hinterkopf und sich gegen Abend verflüchtigte.

Thijs unternimmt nach dem Mittagessen am Montag oder Dienstag oder Mittwoch oder….einen kurzen Spaziergang am Strand von Vrouwenpolder, wo die Muscheln unter seinen Füßen knirschen und blutende Kerben in seine Versen ritzen. Das Meer dehnt sich in seiner ganzen Pracht vor ihm aus, die Möwen lärmen. In den Dünen begegnen ihm Wildpferde, eine weiße Dammhirschkuh und zwei Füchse. HELENE. Den Weg nach Haus trägt er in seiner Westentasche, notiert auf einem Blatt Papier.

Als Helene von der Arbeit zurückkommt, liegt er auf dem Sofa und träumt, von einem, der am Strand spazieren geht und einem, der ihm jeden Tag sagt, wer er ist. Da ist ein Boot auf dem innehaltenden Meer. Es sucht einen Weg zum Ankerplatz,ohne auf die Felsen oder eine Sandbank zu fahren. Wie ein Stück Holz, das man mit dem kleinen Finger über das Wasser dirigiert, gleitet das Schiff schwerfällig und teilt das Wasser vor sich in Wellen. Der Steuermann lauscht auf seine Anweisungen. Thijs hält ein Lot ins Wasser und blickt aufmerksam nach unten. Er sieht sein Spiegelbild. Und Aus.

Jeder einzelne, so sagt der Arzt im weißen Kittel, bezieht seine Identität aus der Unterscheidung vom anderen. Distinktion, so sagt Dr. Jan-Kees Leopold Molenaar genannt Mootje, sei wichtig, damit jeder Mensch er selbst werden könne. Deshalb sei es wichtig, dass Thijs seine Freunde um sich habe, Menschen überhaupt. Denn erst im Wechselspiel von Gemeinsamkeit und Abgrenzung kristallisiere sich das Eigene heraus. Das sei bereits als Kind so gewesen. Mit dem Wachsen entferne man sich zunehmend von den Eltern und erlange Persönlichkeit. Helene. Graugrüne Augen. Schatz, träumt er.

Die Haustür geht und schlägt ins Schloss. Helene streichelt seinen Arm. Thijs erwacht. Es war mein Segelboot, denkt er. Sein Nacken und sein Kopf schmerzen. Morgen muss er zu Dr. Molenaar und ihm erzählen, wie es ihm geht.

„Ach, Helene… Menschenskind!“ sagt er, gähnt, erhebt sich, nimmt den zusammengefalteten Zettel vor der Couch auf und steckt ihn wieder in die Westentasche seiner Jacke, die über der Sessellehne hängt. „Thijs, du weißt meinen Namen, ohne nachzuschauen!“, ruft sie erfreut und nimmt ihn in die Arme. Schatz, denkt er. Das fühlt sich gut an.


© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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