Taube Ohren
Aus dem Leben der Therèse Brecht
Therèse Fließheim geborene Brecht sagte man nach, sie ruhe in sich. Ruhe aber war etwas, das sie Zeit ihres Lebens als unbefriedigend und beängstigend empfand. Ihren neunundneunzigsten Geburtstag feierte sie im Kreis ihrer Familie, der aus einem Sohn und einer Tochter, zwei Schwiegerkindern, vier Enkelkindern und drei Urenkeln bestand. „Mir geht es gut, doch, wirklich“, schrie sie fast, denn ihr Hörgerät erfasste kaum noch Geräusche der Außenwelt und kaum noch ihre eigene Stimme. „Alle mögen mich noch, glaube ich. Und das ist doch die Hauptsache“, pflegte sie hinzuzufügen und tat es auch jetzt. Niemand stritt das ab oder gar mit ihr. Niemand hörte, was eigentlich nicht zu überhören war.
Mit neun Jahren erkrankte sie an Mittelohrentzündung und behielt schon damals eine leichte Taubheit zurück. Therèse war das jüngste von zehn Kindern, von denen zwei kurz nach der Geburt starben. Ihre anderen Geschwister folgten den Säuglingen im Laufe der Jahre nach. Rudolf starb als Kind einsam an Schwindsucht, Johanna erlag den Verletzungen, die sie nach einem Unfall auf einer entlegenenen Landstraße davontrug, Elisabeths Schwermut trieb sie in den Selbstmord. Heinrich, unbeaufsichtigt, fiel an seinem zehnten Geburtstag vom Apfelbaum und brach sich das Genick, während Hermann am selben Tag beim Baden ertrank. Wilhelm ging in den Krieg und wurde beim Zigarettenstehlen erwischt. Wenige Wochen später wurde er von einem Exekutionskommando als Einziger erschossen. Lieselotte ging ins Kloster, reiste entschlossen in die Mission nach Indien und wurde vom Gelbfieber dahingerafft. Josef ging zur Waffen-SS und scherte sich nicht um die Meinung seiner Geschwister, solange die Nazis an der Macht waren. Erst nachdem der Krieg vorbei war, wurde er zutraulich und baute auf die Hilfe seiner Familie, die ihm, wie auch sonst, nicht zuteil wurde. Er wurde nicht mehr gefürchtet, wieder gehasst, aber nicht minder mit Inbrunst und Konsequenz und fand nach dem Gefängnisaufenthalt keine Arbeit. Das, der Hunger und das Öl der Sardinen, das er gierig aus den Dosen löffelte, gaben ihm den Rest. Sein Grab blieb ohne Grabstein und verschwand im Laufe der Jahre unter einem Wust von Brennesseln, Disteln und gemeiner Akelei.
Als Therèse 22 Jahre alt wurde, war sie, bevor sie zum einzigen Kind ihrer Eltern wurde, das einzige, das noch zu Hause wohnte. Mutter und Vater sprachen kaum ein Wort mit ihr. Das war nicht neu, doch fiel es vermehrt ins Gewicht. Trotz ihres eingeschränkten Gehörs hatte sie Stille kaum gekannt, dazu waren sie daheim zu viele gewesen. Und doch spürte sie sie unangenehm in ihrem Inneren, als sei sie ein Gen, eine Charaktereigenschaft, die sich mit zunehmendem Alter herausbildete und die sie nicht zu akzeptieren gedachte. Sie verursachte ihr jene Unruhe, die sie dazu zwang, Dinge auf- und vor allem wegzuräumen, vielleicht, um Platz zu machen für etwas oder jemanden, worauf oder auf den sie wartete. Je mehr ihrer Geschwister das Haus verließen oder das Zeitliche segneten, desto stärker plagten sie Stille und Unordnung. Kein Raum war vor ihren Eingriffen sicher und jeder Raum beherbergte danach immer einen Stuhl, den sie in exaktem Winkel zur Tür gewandt, aufstellte. Beim Räumen gab sie sich Anweisungen und wies sich zurecht. Man ließ sie walten, hinterfragte nicht, nahm sie schlicht zur Kenntnis und freute sich über die häusliche Akkuratesse.
Sigismund Brecht war Schuster und seine Frau Magdalene war eine erstklassige Köchin. Ihre Künste waren den Kindern vorbehalten. Nur bei guter Laune verwöhnte sie auch ihren Mann mit kulinarischen Kreationen aus Suppentöpfen und Brätern. Ihre Stimmung trübte sich beinahe jeden Tag, wenn alle zu Bett gegangen waren und wurden durch den müden, spät aus der Werkstatt Heimkehrenden noch verstärkt, was häufig zu cholerischen Ausbrüchen und oft auch zu unorthodoxem Tischabdecken führten. Alles Schweigen, das sich über Tag angesammelt hatte, schien am Abend mit Eintreffen des Vaters gebrochen werden zu müssen und ergoss sich als aggressiver Schwall. Sigismund Brecht hatte den Explosionen seiner Frau Stummheit entgegen zu setzen, kaufte gleichmütig neues Geschirr und ließ im Schlafzimmer rasch die Hosen hinab, um zur Versöhnung zu schreiten.
„Geistig“, wusste Therèse allen, die sie nicht fragten, zaudernd ins Ohr zu brüllen, „geistig hat mir meine Mutter nichts mit auf den Weg gegeben. Aber kochen und streiten konnte sie wie sonst keine. Gemocht hat sie meinen Vater nie, glaube ich. Aber ich auch nicht.“
Therèse war trotzdem oder gerade deswegen eine gute Tochter. Sie erfüllte ihre täglichen Pflichten, war verträglich und ruhig, eiferte niemandem nach und verlor sich in Tagträumen von der großen Liebe, nicht enden wollenden Gesprächen, großen Herrenhäusern und großen Konzertsälen, denn sie liebte Liebesromane und Musik.
Ihre Liebe zu Opernarien und Schmonzetten verdankte sie ihrem ein Jahr älteren Bruder Wilhelm, dem sie besonders zugetan war und der eine Begabung aufwies, die sonst keines der Kinder zeigen wollte. Er komponierte, spielte Flöte und wusste sogar der geliehenen Geige des Nachbarn Töne zu entlocken, die nach einer Melodie klangen. „Wer weiß, was aus ihm geworden wäre, hätte ihn sein Langfingertum nicht das Leben gekostet“, grübelte Therèse oft nach seinem Tod. Musik füllte die Stille, die sie quälte und öffnete die Tür für eine Ordnung, die sich mit keinem Staubtuch der Welt herstellen ließ. Ihr fehlte in der Jugend der Ehrgeiz und vielleicht auch der Mut, es dem Bruder gleichzutun und zu ergründen, ob sie zu musikalischem Ausdruck fähig war. Therèse mäanderte in sich gekehrt und unentschlossen vor sich hin, ohne zu wissen, wofür sie sich denn eigentlich hätte entscheiden sollen.
Sie fuhr lieber gehorsam mit ihren Eltern in den einzigen Urlaub, den sie jemals unternahmen und wohnte mit ihnen gemeinsam in einem Zimmer des Hotels „Zur Burg“ in Hermeskeil im Hochwald. Abends aß man im Speisesaal desselben und unternahm einen kurzen Spaziergang durch den Ort.
Dass Therèse endlich außer sich sein konnte, erfuhr sie an einem Abend im Mai. Am zwölften des Monats betrat eine Gruppe junger Männer den Speisesaal, in dem auch eine Schänke untergebracht war. Sie trugen Uniformen und brachten einen Schallplattenapparat, mit dem sie Musik spielten. Walzer und Tango erklangen. Therèse erhaschte den Blick einer der Männer, der interessiert zu ihrem sich zur Musik wiegenden Körper hinüber sah. Hugo Fließheim trat an ihren Tisch, schlug die Hacken zusammen und fragte in verbindlichem Ton: „Gestatten, meine Dame?“. Sie sah verständnislos zu ihm hinauf, bis ihre Mutter sie aufforderte: „Nun geh doch mit dem netten jungen Mann tanzen, Therèse!“. Sie begriff, zögerte, spürte Widerstand, der sie beflügelte, schritt mit ihm in die Mitte des Saals und übergab sich für den Rest des Abends in seine Arme. Als er sich von ihr verabschiedete und das Hotel verließ, erhob sie sich von ihrem Platz, nahm einen Stuhl, stellte ihn mit dem Rücken zur Tür gewandt auf und ging zu Bett. Kopfschüttelnd stellte ihr Vater den Stuhl wieder an den Tisch und sagte: „Fehlt nur noch, dass sie anfängt, hier die Tische abzuräumen und abzuwaschen!“. Er hatte sie nie verstanden.
Therèse verweigerte sich an diesem Abend ihrem Ordnungsdrang, hing nicht einmal ihre Kleider in den Schrank. Sie ließ sie achtlos auf den Boden gleiten, bevor sie sich einem traumreichen Schlaf hingab und nicht einmal mitbekam, dass ihre Eltern fluchend über ihre Garderobe stolperten, als sie sich ebenfalls zur Nachtruhe entschlossen.
Hugo Fließheim war zu ihrem Bedauern Soldat in der ansässigen Kaserne und arbeitete dort als Zahlmeister. Sie ahnte, was das bedeutete. Nebenbei fuhr er für den Lebensmittelhändler Waren aus und kündigte Kunden sein Kommen mit dem Klingeln einer übergroßen Fahrradglocke an. Therèse saß auf einem Stuhl im Speisesaal und wartete darauf, dass „der Hugo ohne Uniform“ vom Rad stieg, die Kisten für den Wirt hineinwuchtete und sich zu ihr setzte, um mit ihr zu plaudern, sie zu necken und verschmitzt mit ihr zu streiten. Es war, als sähe sie sich selbst bei der Konversation zu, wenn sie so saßen, von sich und der Welt, die sie kannten, erzählten. Alles war richtig und wichtig, klar und groß. „Ich glaube, er hat mich damals schon sehr gemocht und ich ihn auch“, erzählte sie, mitten in der Vergangenheit, ihrer Enkelin auf der kleinen Feier zu ihrem Neunundneunzigsten. Die wusste nicht, dass vom Großvater die Rede war, nickte aber aus Gewohnheit zum Kommentar ihrer Großmutter.
Hugo hatte in der Tat einen Narren an ihr gefressen. Ihre Eltern erlaubten ihr schließlich, sich auch außerhalb des Hotels mit ihm zu treffen. Im Juni wurden die Koffer wieder gen Heimat befördert und es hieß Abschied nehmen. Man versprach sich, brieflich in Kontakt zu bleiben. „Einzige Therèse“ nannte er sie, als sie sich „Auf Wiedersehen“ sagten. Seine Briefe ins Rheinland waren zahlreich und sprachen nicht von Liebe. Sie sprachen vom Alltag von Männern unter Männern, von Alleinsein und Einsamkeit, von Sehnsucht nach ihren Gesprächen.
Hugos Schwester war in Köln zu Hause. Im August, kurz vor Therèse’ Geburtstag, brach er ins Rheinland auf und fragte seine Schwester bereits kurz nach der Ankunft nach der Entfernung zwischen Köln und Düsseldorf. Die vierzig Kilometer schreckten ihn nicht, jedenfalls hatte er auf seinen täglichen Fahrradtouren für den Hermeskeiler Krämer ausreichend trainiert. Er lieh sich also einen Drahtesel und fuhr zu Therèse nach Düsseldorf. Die staunte nicht schlecht, als er pünktlich zu ihrem Geburtstag mit einem unterwegs gepflückten Feldblumenstrauß vor der Tür stand. „Er kam, sah und siegte“, erläuterte die Jubilarin lautstark ihrer Enkelin, die nach wie vor den Gedanken der alten Dame nicht folgen konnte, aber nickte.
Ihrer Schwangerschaft wurde der Vater erst gewahr, als sie sich bereits im vierten Monat befand. „Ich weiß nicht“, äußerte gegenüber der Mutter, “irgendwie hat Therèse eine komische Figur bekommen.“ „Ich habe irrtümlicher Weise geglaubt, Du kämest mit Deiner Erfahrung eher darauf“, antwortete die Mutter sarkastisch und nahe an ihn herantretend, „sie erwartet etwas Kleines und könnte längst verheiratet sein!“. Therèse gab sich überraschter als ihr Vater. Sie war sich zwar der Veränderung, nicht aber ihres Zustands bewusst gewesen und freute sich über den Aufruhr, den sie verursachte.
Sigismund Brecht traf nur einen Tag später in Hermeskeil ein und zog den Verursacher zur Rechenschaft. Der ergab sich bereitwillig seinem Schicksal. Die Hochzeit fand vier Wochen später in Düsseldorf statt. Therèse trug selbstgenähtes Schwarz, als ginge es zu einer Beerdigung. Das entsprach so gar nicht den Bildern aus ihren Romanen. Es galt als Schande, „heiraten zu müssen“ und das von ihr präferierte Weiß als die Farbe der Unschuld. „Unschuldig, das warst Du mal“, eröffnete die Mutter ihr frohlockend, während sie grob den Saum des Hochzeitskleides absteckte. Hugo kehrte vorerst in die Kaserne zurück und erschien erst fünf Monate später zur Geburt seines Sohnes Christian Friedrich. Seine Briefe waren nach wie vor umfassend, freundlich und sehnsüchtig. Therèse rechnete damit, bald nach Hermeskeil umzuziehen und mit ihrem frisch angetrauten Mann eine Ehe zu führen. Dann kam der Krieg.
Hugo wurde, entgegen ihren Befürchtungen, nicht eingezogen. Er war als Offizier und Herr der Finanzen vor Ort unabkömmlich. An einen gemeinsamen Hausstand war dennoch nicht zu denken. Die sogenannte Pflicht für den von ihr heimlich gehassten Führer und das ihr seltsam anmutende Vaterland band ihn, ließ ihm keine Zeit für Familie und Privatleben. Ihr zaghafter Ansatz, mit ihm über ihre mit seinem Beruf verbundenen Sorgen zu sprechen, erstickte er im Keim. „Da fragt man nicht. Es ist, wie es ist“, antwortete er wenig überzeugt, selbst gefangen in Angst, Trägheit, Einsamkeit und Selbstvorwürfen. Therèse begann nach diesem Gespräch, die Wohnung zu putzen und wehrte sich nicht mehr.
Das Bombardement des Rheinlands machte Evakuierungen nötig und Therèse brach mit ihrem Sohn nach Thüringen auf. Wie sehr hatte sie gehofft, in die Nähe ihres Mannes zu gelangen. Wie gern würde sie ihn endlich näher kennenlernen. Doch blieb es nur bei kurzen Besuchen – Lichtblicken, die ihr zur zweiten Schwangerschaft verhalfen. Knappe Momente der Nähe und Zweisamkeit, die vermeintliche Ferne des Krieges und das Zivil ihres Mannes ließen ihr Thüringen gelegentlich als Paradies erscheinen. Therèse verlangte nach Zukunft und sie begann, Klavier spielen zu lernen. Auf der Bank, die vor dem Flügel der Pension stand, ließ sie die rechte Seite frei, lehnte sich lieber hinüber, um die Tasten zu erreichen und sprach in ihren Briefen vom Tanzen. Manchmal sah sie den Frauen zu, die das gleiche Schicksal teilten wie sie, ohne ihre Männer in der Fremde auf Erlösung warteten. Sie tanzten Frau an Frau in der engen Gaststube und stellten sich anderes vor.
Als Katharina geboren wurde, befand Therèse sich schon wieder im Rheinland und wohnte mit den beiden Kindern im ehemaligen Hühnerstall des zerbombten Elternhauses. Hugo kam zur Taufe und sprach von einem kleinen Häuschen an der Mosel, das sie nach dem Krieg beziehen würden. Lange könne es nicht mehr dauern, bald sei der Horror vorüber und man könne mit dem Wiederaufbau eines großen Landes beginnen. Therèse glaubte nicht an ein rasches Ende des Krieges und vertraute schon gar nicht der merkwürdigen Garde, zu der auch irgendwie ihr Mann gehörte. Wie anders er sein konnte, wenn er die Uniform auszog! Sie sehnte sich nach einem stattlichen Krämerladen, in dem sie Bonbons verkaufen konnte und ihr Mann, mit einem Bleistift hinter dem Ohr, die Bestände aufnahm. Jüngst hatte sie einen Roman gelesen, in dem ein prächtiger Laden vorgekommen war und in dem Menschen ein und aus gingen.
Sie sollte Recht behalten, der Krieg hielt an. Die Mutter forderte sie schließlich angesichts des engen Familienbudgets und der leeren Teller auf, sich eine Arbeit zu suchen. Ihrem Vorbild folgend, verdingte sie sich als Köchin in einer Großküche. Die „Richard und Wolf Maschinenfabrik“ verlangte ihr einiges ab. In der Küche war es heiß, die Schüsseln schwer und wuchtig. Therèse’ Bild von der schönen, heilen Welt verblasste. Zum Romane lesen war sie zu müde. Für Plaudereien mit den Kollegen fehlte die Zeit. Heimlich schlich sie sich mit Essensresten zum Zaun des Firmengeländes und übergab sie kleinen Kinderhänden. Christian nahm das Päckchen entgegen und brachte es der Großmutter, die erwartungsgemäß Gutes daraus zu kreieren wusste. Sigismund Brecht blieben die Kunden weg, Therèse’ Gehalt reichte nicht, Hugos Salär traf unregelmäßig oder gar nicht ein. Oft hörte Therèse nichts von ihrem Mann, obschon er sich nicht an der Front befand. Der Postverkehr wurde immer wieder in die ein oder andere Richtung eingestellt und obwohl sie die Einsamkeit durch eintreffende Briefe vom Liebsten leichter überwand, machte die Ungewissheit des Empfangs das Bedürfnis zu antworten zunichte. Schließlich wusste auch Therèse nicht mehr, ob die Briefabstinenz ihres Mannes der Feldpost oder seiner inzwischen ebenfalls gewachsenen mangelnden Motivation zuzuschreiben war. „Er wird mir fremd“, dachte Therèse und wusste doch gar nie, wer dieser Mann eigentlich war. Das Gefühl des wachsenden Abstands wurde nach einer Weile überdeckt von unbestimmtem Wünschen, dem sie den Namen „Liebe“ gab.
Magdalena machte in der Not im Auftrag ihrer Tochter beim Kaufmann Schulden, die Therèse zu Beginn eines jeden Monats beglich, so gut sie konnte. Kam sie auch nur einen Tag zu spät, hatte sie die Tadel des Händlers zu erdulden, der ihr vorhielt, nur an sich zu denken. Er habe auch seine Rechnungen zu bezahlen und könne nicht für alle Welt anschreiben lassen. Therèse bat ihren Mann um Hilfe. Die Antwort kam überraschenderweise auf den Fuß und ließ sie durch nur zwei Sätze ärgerlich verstummen: „Wir haben alle zu darben fürs Vaterland, still zu schweigen und zu gehorchen. Der Feind lauert überall. Wir müssen ihm in Tapferkeit und mit Opferbereitschaft standhalten.“
Hugo trug nun eine neue Uniform und erhielt kurz vor Kriegsende den Einberufungsbefehl. Bevor er endgültig nach Russland aufbrach, strickte Therèse ihm in aller Eile einen wärmenden, dunkelroten Schal und hielt ihn in den Armen. Für volle vier Wochen fanden sie unter der brüchigen Decke ihrer Behelfswohnstatt wieder zueinander. Hugo fand endlich den Mut, offen mit ihr zu reden: „Ich hätte anders entscheiden sollen“, flüsterte er, als fürchte er fremde Ohren, „dieser Krieg, dieser Unsinn ist zu nichts nutze. Ich habe Angst. Es war alles, alles umsonst.“ Therèse sah ihren Mann zum ersten und letzten Mal weinen. Zum ersten Mal seit ihrer Hochzeit sagte sie zu ihm „Ich liebe Dich, komm heil zurück.“ Er antwortete nicht, weinte einfach still und verzweifelt vor sich hin.
Hugo Fließheim kam nicht heil zurück. Am 7. September 1944 zog er sich einen Packschuss zu und wurde in ein Lazarett nach Würzburg befördert. Mönche pflegten ihn und Sigismund Brecht verbot seiner Tochter zu ihrem Mann zu reisen. Die Züge würden beschossen. Sie käme nicht lebend ans Ziel. Therèse zog es vor, ihm zu glauben und blieb. Hugo starb allein in der Nacht des 12. Dezember 1944 im Schlaf und ohne seine Frau noch einmal wiedergesehen zu haben. Er wurde 35 Jahre alt. Am Tag seiner Beerdigung verzählte sich Therèse bei den Stühlen, die sie für die Gäste platzierte und rückte das Bild mit seinem Konterfei ins Licht. „Weißt Du“, erzählte sie an ihrem neunundneunzigsten Geburtstag ihrer Enkelin, „in sechs Jahren Ehe haben wir uns gerade zehn Mal gesehen.“ Die Enkelin nickte und antwortete: “Ja, Oma, ich weiß. Das hast Du mir schon oft erzählt.“ „Ach ja?“, antwortete Therèse und fügte hinzu, während ihre Enkelin einen Sessel gerade rückte: “Am Ende verstehst Du es. Am Ende…. am Ende ist man immer allein“.
Ersterscheinungsdatum, 6.9.2012 auf einseitig.info
© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen des Texts, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.