Das Ei des Raimund Güldenreich
Vom Mittelpunkt der Welt
Für Raimund Güldenreich war das Ei die Welt, die er in ihre Einzelteile zerlegte und sich einverleibte. Er aß jeden Tag eines zum Frühstück. Die Hühner und Enten in der Voliere hinter dem Haus sorgten für ausreichenden Nachschub. Es war, als verliehen ihm allein Weiß und Dotter die Macht, die er täglich auszuüben trachtete. Güldenreich bevorzugte sie hartgekocht oder kross, von beiden Seiten gebraten und hielt nichts von ihrem weichen Kern. Seine Haushälterin Mathilde fragte trotz seiner Gewohnheit jeden Tag freundlich nach: „Wünschen Sie eine Eierspeise?“. Er antwortete nie und Mathilde servierte ihm abwechselnd ein gekochtes oder ein gebackenes. Entweder schnitt er das aus der Pfanne kommende in vier gleich große Teile, um sie dann in vier Happen herunterzuschlingen oder er zerschlug mit dem Löffel die Schale des gekochten Etwas am Kopf, um anschließend die Spitze zu kappen und das Ei bis zum letzten Fetzchen auszuhöhlen.
Raimund Güldenreich führte ein hartes Regiment. Seine Mitarbeiter fürchteten ihn. Morgens vollzog er einen Rundgang durch sein Unternehmen und wirkte, seine Führungsriege im Schlepptau, wie ein Arzt auf Visite, der den Patienten nach Studieren ihrer Krankenakten nur Unerfreuliches mitzuteilen hat. Die Fluktuation bei Güldenreich Feinkost en gros war entsprechend hoch. Manch einer suchte das Weite durch einen Sprung aus dem Fenster. Güldenreich rührte das wenig. Ersatz gab es reichlich.
Als er am Montag das Speisezimmer betrat, erschrak Mathilde. Denn anders als sonst fiel ihm das Haar unordentlich in die Stirn und er trug lediglich Socken, Hose, Unterhemd und Hosenträger. Da er sie jedoch wie jeden Morgen geflissentlich ignorierte, vollzog sie ihre Pflichten wie immer. Sie goss Kaffee und Milch zu gleichen Teilen in seine Tasse, reichte ihm die Serviette und stellte die übliche Frage. Heute war die gekochte Variante an der Reihe und sie eilte in die Küche, während er ein Brötchen bestrich und sich der Zeitung zuwandte. Das Ei strömte noch eine leichte Wärme aus, als es mit unauffällig höflicher Geste vor ihm auf dem Tisch platziert wurde. Güldenreich legte seine Zeitung beiseite und widmete sich dem allmorgendlichen Ritual. Mit einem ersten Schlag malträtierte er den Mittelpunkt des Kopfes und registrierte sogleich, dass es sich nicht um ein hartgekochtes handeln konnte. Doch noch ehe er Mathilde zornig zu sich rufen konnte, barst die Schale lautstark, so dass er überrascht zögerte und ihm die Wut im Hals stecken blieb.
Der Deckel des Eies hob sich, fiel hinunter auf den Tisch und wippte dort hin und her wie eine kleine Schaukel. Im Innern des Eies rumorte es und Raimund Güldenreich schaute fasziniert dabei zu, wie sich nasses, schwarzes Fell, Federkleid oder Haar nach oben schob. Zum Vorschein kam schließlich ein winziges Gesicht, umrankt von klebrigen Locken und ein Körperlein mit Händen, Armen, Rumpf und Füßen, das mit Cordhose und weitem, weißen, farbbeflecktem Hemd bekleidet war. Die Eierschalen bröckelten rund herum herab und das Persönchen stand vor sich hin fluchend im Eierbecher und wischte sich den Dotter von Antlitz, Körper und Kleidung. „Was für eine Schweinerei… aber schönes Gelb, fürwahr!“, brüllte es und hüpfte. Güldenreichs Herz klopfte. Er rieb sich die Augen und schaute weiter ungläubig zu, was sich dort tat. Der Eiermann sah sich um und schien ebenso erstaunt wie er.
„Liebe Zeit“, sprach er, „liebe Zeit, Güldenreich!“ und sprang vom Eierbecher auf den Esstisch. „Was für ein Traum!“.
Ja, das war es, sagte sich Güldenreich. Er träumte nur. Nichts davon war wahr, auch wenn es sich so anfühlte. Ein Kneifen in den Arm ließ ihn zweifeln und versuchte mühsam, aus dem Traum aufzuwachen. „Raimund“, sagte er laut vor sich hin, „aufwachen!“. Doch das Männlein vor ihm blieb und lief aufgeregt vom Tellerrand zur Kaffeetasse und lamentierte fröhlich vor sich hin. Als es schließlich seinen Blick gen Himmel wandte, nachdem er Güldenreichs Stimme vernommen hatte, fiel er vor Schreck auf den Hosenboden.
„Liebe Zeit“, wiederholte der Winzling atemlos, „mich gibt’s zweimal“.
Dem Riesen vor sich ging es nicht viel anders und auch er wiederholte „Liebe Zeit“, und ergänzte: „Was um Himmels Willen ist das denn für eine hirnrissige Krankheit?“.
„Na, hören Sie mal“, antwortete ihm sein Gegenüber, „ich bin ja nun alles, aber keine hirnrissige Krankheit!“.
„Sie sehen aus wie ich. Aber ein bisschen gepflegter könnten Sie schon herumlaufen“, kam es perplex von der anderen Seite.
„Danke, gleichfalls“, erklang es beleidigt.
Raimund Güldenreich sah an sich hinunter und registrierte erst jetzt, dass er gänzlich auf sein sonst so adrettes Auftreten verzichtet hatte. „Ich hab einen an der Waffel“, murmelte er, „Ich bin nicht mehr ganz dicht in der Birne. Einen Arzt, ich brauche einen Arzt.“ Er begann zu zittern und zu schwitzen und Mathilde war nirgendwo aufzutreiben. Wie ein kleines Kind fühlte er sich. Einsam und verlassen. Ganz so wie in Kindertagen, in denen er leise weinend auf dem oberen Treppenabsatz gelauscht hatte, wenn sich im Erdgeschoss seine Eltern stritten und schlugen und nichts wichtiger zu sein schien, als ihr ständiger Krieg. Damals hatte er beschlossen, für sich selbst zu sorgen und begonnen, Lebensmittel unter seinem Bett zu horten. Heute verfrachtete er sie in seiner Fabrik in Dosen. Und auch die eigenen Hühner gab es, weil er auf niemanden mehr angewiesen sein wollte.
Das Männchen vor ihm hatte sich gefasst, aufgestanden und ging nun mit auf dem Rücken verschränkten Händen hin und her.
„Wer bist Du?“, fragte Raimund tonlos. Der gerade geschlüpfte Miniaturdoppelgänger blieb abrupt stehen.
„Mein Name ist Raimund Güldenreich, fünfzig Jahre alt, geboren am 8. Dezember 1961 auf der Durchreise… in Teguise, Spanien. Sohn einer deutschen Mutter und eines niederländischen Vaters. Ich bin ledig, habe sechs Kinder von verschiedenen Frauen, die mir ständig den Nerv rauben, mir aber unglaublich ähnlich sind und bin ein ziemlich erfolgloser Maler, was mich aber nicht daran hindert, damit weiter zu machen. Ich kann ohne Farben nicht leben. Sie machen mich froh“, beendete er seinen Vortrag.
„Aha“, sagte Raimund knapp und erläuterte seinerseits seinen Werdegang: „Mein Name ist Raimund Güldenreich, fünfzig Jahre alt, geboren am 8. Dezember in Teguise, Spanien, Sohn einer deutschen Mutter und eines niederländischen Vaters. Ich bin ledig, habe keine Kinder und bin ein ziemlich erfolgreicher Lebensmittelfabrikant mit einem stattlichen und selbst erarbeiteten Vermögen, was mich aber nicht daran hindert, weiter Geld zu verdienen und gut für mich zu sorgen. Ich bin ein verantwortungsvoller Mensch.“
„Aha“, kommentierte sein anderes Ich und musste sich wieder setzen.
„Gespaltene Persönlichkeit, oder?“, fragte Raimund der Große ängstlich.
„Wahrscheinlich“, antwortete Raimund der Kleine.
„Und was machen wir jetzt damit?“, fragte der große Raimund und der kleine antwortete nur mit einem Schulterzucken. Sie schwiegen gemeinsam.
„Warum bist Du Maler geworden?“, fragte der eine Raimund nach einer Weile.
„Die Eltern. Habe begonnen, zu malen. Mir die Welt bunt gemacht“, antwortete der andere.
Raimund der Große flüsterte: „Ich hatte Angst.“
Der Zwerg vor ihm nickte verstehend, nahm sich ein Herz und rannte von der einen Tischkante zur anderen und wieder zurück. „Das war jetzt mal nötig“, sagte er, „Aggressionsabbau.“
Sein Pendant schlug einmal kräftig mit der Faust auf den Tisch. „Das galt aber jetzt nicht mir“, suchte Raimund der Kleine erschrocken nach Bestätigung.
„Aggressionsabbau“, tönte es zögernd. Der Winzling lachte erleichtert.
Der Große nickte: „Ist wohl so, merkt aber keiner, wenn man’s richtig anstellt. Hart muss man sein wie das Leben.“ Der letzte Teil des Satzes klang unsicher. „Ich hätte auch Du werden können, ja, hätte Du werden können oder jemand anders.“
„Wenn man es genau nimmt, bist Du ich“, lachte der Kleine. Der Große sah ihn entgeistert an. „Das bin ich nicht“, schrie er, haute nochmals auf den Tisch, machte dem Spuk ein Ende, dass es krachte und unter dem Ballen knirschte und stob.
Raimund Güldenreich der Große strich sein Haar glatt und aß sein Ei.
Ersterscheinungsdatum: 1.9.2011 auf einseitig.info
© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.