Entbehrungen

Rohe Zukunft

Sie kleidete sich nach dem Wetter. Schien die Sonne, trug sie Orange, regnete es, wählte sie Anthrazit, bei Gewitter kam ein helles Gelb hinzu und bei Nebel ein lichtes Grau. An diesem Tag schneite es und sie betrat in einem weißen Poncho und einer weißen Wollhose die Straße und ging in Richtung Station. Der Weg dorthin war mit elektronischen Reklametafeln gepflastert, die für Immobilien, Geldanlagen und Karriereperspektiven warben. Sie gönnte ihnen nicht einen Blick, denn der Gehsteig war rutschig und sie zog es vor, ohne Blessuren ihren Train zu erreichen. Um niemanden zu verärgern, hatte sie sich überpünktlich auf den Weg gemacht. Sie wurde für ihre Zeit bezahlt und ihr Chef wollte darum nicht betrogen werden. Sie überging wie jeden Tag die gespürte Enge in der Brust und hustete leise. „Machen Sie mehr aus Ihrem Geld!“, verkündete der Fahrkartenautomat und das Display spielte einen Kurzfilm über ihre Hausbank ab, in dem einer jungen, weiß gekleideten Frau vom Himmel Goldmünzen in den Schoß fielen. Dann endlich spuckte er die Chipkarte aus, auf deren Rückseite sich ebenfalls lohnende Werbung befand.

In dem Train saßen ordentlich gekleidete Menschen auf dem Weg zu ihren Wirkungsstätten, die bereits hier eifrig ihre Mobilcomputer malträtierten. Zwei Stationen weiter stieg sie aus und verschwand einstweilen im Weiß des Plafonds. Es jedoch verschwand nicht, auch wenn es offenbar niemand anders als sie wahrnahm. Sie hatte ihren eiligen Fuß gestoppt, vergaß ihren Chef und sah neugierig in seine Richtung: Vergangenheit. Man hatte es in Schichtfolie eingewickelt und so lag es verloren und doch wie absichtlich im jungfräulichen Schnee. Vorsichtig näherte sie sich, während  flinke Schritte hinter ihr vorüber jagten und den Schnee grau werden ließen. Das Zischen der einfahrenden Trains, die Abfahrtdurchsagen und das Platschen und Rutschen der Schritte verschmolzen in ihren Ohren zu einer undefinierbaren, dumpfen Geräuschmasse und gerieten in Vergessenheit. Die Zeit blieb stehen. Sie bückte sich und hob es auf. Ihre weißen Handschuhe wurden nass und veränderten an den Spitzen die Farbe, denn die obere Schicht der Folie färbte rot ab. Sie sah zum Horizont und in ihren jähen Tränen verschmolzen die gläsernen Türme der Skyline mit dem Himmel und lösten sich auf. Es war, was sie vermutet hatte und sie verbarg es flink im Innern ihrer Tasche, die nun einen Druck auf ihre Schultern ausübte, gewichtiger und wichtiger wurde.

Mit dem Bewusstsein, den Schatz dicht bei sich zu tragen, ging ihr die Arbeit nur schwer von der Hand und die Stimme ihres Vorgesetzten im Kopfhörer ihres Headsets erklang ungewohnt häufig und ermahnte sie, im Tonfall nicht so abwesend, sondern freundlich zu klingen. Nur so mache man Umsätze. Die Kunden hatten sich inzwischen abgewöhnt, vor Beenden des Gesprächs einen Abschiedsgruß zu murmeln. Und erst heute fiel ihr diese Tatsache auf, denn sie reagierte nicht nur, bevor sie sich dem Menschen in der Leitung zu wandte, sie hörte irritiert zu.

Der Weg nach Hause dauerte doppelt so lange wie an den üblichen Tagen. Die Kinder warteten schon darauf, dass sie eintraf. Sie empfingen sie mit Missbilligung, als sie die Wohnungstür aufschloss und appellierten an ihre Disziplin. Was denn mit ihr los sei? Ob sie krank werde? Sie bestätigte und bat darum, sich ins Bett legen zu dürfen, um morgen wieder fit zu sein. Die Kinder erklärten, zu Freunden zu gehen und sie freute sich über die Ruhe. Die geröteten Handschuhe legte sie auf der Kommode in der Diele ab.

Sie entblößte es, entsorgte die Folie und legte es auf die Heizung, denn die Feuchtigkeit hatte es trotz des Schutzes beansprucht. Allein der ihm nun entströmende Geruch ließ Bilder entstehen. Sie sah Wände voll davon vor ihrem inneren Auge erscheinen. Nach ihrem Verschwinden rochen Räume nur noch nach Blei und sie hatte begonnen, ihre Art, sich zu kleiden, zu ändern. Man hatte sie damals nicht verbrannt, wie Jahrzehnte zuvor. Sie wurden ausgetauscht, verrauchten in den Köpfen. Mit dem Verlust der Geschichten war auch die Langsamkeit verschwunden.

Es war Cervantes‘ Don Quixote, den sie nun in Händen hielt. Das Buch des Ritters von der traurigen Gestalt, der gar nicht so traurig war. Denn wenn er auch gehörige Prügel einsteckte, so glaubte er so unerschütterlich, folgte er so unabdingbar seiner Fantasie und seinen Möglichkeiten und helfenden Idealen, dass einem ganz weh wurde. Sein Narrentum, seine Unvollkommenheit rührten und verleiteten zur Fröhlichkeit, ja Albernheit. Sie lächelte.

Da las sie nun das Vorwort von Iwan Turgenjew, dass der Mensch für das Wahre, Schöne und Gute lebte und Don Quixote diesen Menschen verkörperte. Und sie las weiter, dass es zwei Typen von Menschen gebe, jene, für die das eigene Ich an erster Stelle stehe und die anderen, für die etwas anderes relevant sei, das weit darüber hinaus gehe. Sie dachte über ihre Wirklichkeit nach und sah das Display des Fahrkartenautomaten vor sich. Sein oder Nichtsein. Wie lange hatte sie nicht herzhaft gelacht? Vor allem mit ihren Kindern. Sie grub tief in ihren Erinnerungen, zog den Poncho und die Wollhose aus und schlüpfte in ein altes, übriggebliebenes rotes, langes Hemd ihres Mannes, bevor sie über die Seiten strich und mit der Lektüre fortfuhr. Immer wieder führte sie das Buch an die Nase und schnüffelte am Papier. Jemand suchte es und jemand hatte es gefunden. Sie hatte keine Skrupel, es zu behalten und glaubte wieder an Schicksal.
Zwischendurch sah sie aus dem Fenster und beobachtete, wie die Schneeflocken sich gegen den grauen Himmel zur Wehr setzten und doch alle am Boden in der Menge untergingen. Sie wünschte sich einen Wetterumschwung.

Als die Kinder sich in ihr Zimmer zurückgezogen hatten und sich so gar nicht wunderten, dass sie so schnell wieder auf den Beinen war, kam sie, wie jeden Abend, um gute Nacht zu sagen. „Ich verrate Euch ein Geheimnis. Wir haben etwas ganz Wertvolles im Haus, das kaum noch jemand in seinen eigenen vier Wänden hat, heutzutage.“ „Was niemand mehr hat? Einen Sack voll Goldmünzen?“, fragte der Kleine. „Nein,“ antwortete sie enttäuscht, wusste nicht, welche Antwort sie erwartet hatte. Der Große hatte sich im Bett aufgerichtet und sah sie gespannt an. Sie holte es hervor und begann: „Erstes Kapitel, das vom Stand und von der Lebensweise des berühmten Junkers Don Quixote de la Mancha handelt.“  „Was ist das, Mama?“, fragte der Kleine. „Das ist ein Buch“, antwortete sie und fuhr fort „Der Held unserer Geschichte wohnte vor nicht gar langer Zeit in einem Dorf der Mancha, an dessen Namen ich mich nicht erinnern kann.“ Sie las, unterbrochen von Fragen der Kinder, die nicht alles verstanden, bis ihnen die Augen vor Müdigkeit zufielen. „Mama,“ sagte der Kleine in bittendem Ton, bevor er einschlief, „wenn ich groß bin, möchte ich auch Ritter werden!“

Ersterscheinungsdatum, 4.3.2012 auf einseitig.info

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

 

 

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