Missetat in niederen Landen – Teil 1
Eine kleine Einführung in den niederländischen Kriminalroman
Ivans – Geoffrey Gill blickt durch
Jakob van Schevichaven liebt das Schreiben. Der Jurist mit Sinn für Mord und Totschlag – oder vielmehr deren Aufklärung – gilt als Begründer der niederländischen Kriminalliteratur. Was vorher seinen Schreibtisch verlässt, liest sich nüchterner: Es handelt sich um juristische Fachliteratur, geachtet, geschätzt, sogar übersetzt. Die Leserschaft seiner Detektivromane dürfte dennoch wesentlich größer gewesen sein.
Erst nachdem Jakob als erster professioneller Detektivromancier beginnt, nehmen sich andere Schriftsteller ein Beispiel an seinem Erfolg und versuchen es, ihm gleich zu tun. Er gilt als großes Vorbild innerhalb des Genres. Bis er jedoch auf der Bildfläche auftaucht, gibt es viele Übersetzungen von Kriminalromanen aus dem angloamerikanischen und französischen Raum, aber nicht einen „Misdaadroman“, der Erfolg beim niederländischen Publikum hat. Man liest Poe, Doyle und Gaboriau. Jakob van Schevichavens Fußstapfen sind groß und so gelingt es erst in den 1930ger Jahren einem Mann mit Namen Hendrikus Franciskus van der Kallen ähnlichen Ruhm zu erlangen. Doch zunächst zu unserem Jakob:
1917 greift Ivans, so sein Pseudonym, zur Feder und schreibt „De man uit Frankrijk“ (Der Mann aus Frankreich). Sein Protagonist, Geoffrey Gill (G.G.) löst seine Fälle ganz in Sherlock Holmes Manier. Sein Watson heißt Willy Hendriks, ist Anwalt und erzählt, was seinem Herrn und Meister widerfährt. Der zweite Bestseller aus der Feder Ivans ist „Het spook van Voroshegy“ (Der Spuk von Voroshegy) und spielt in Ungarn. Das europäische Festland als Schauplatz muss es immer sein, denn Ivans arbeitet im Betrieb seines Vaters, der Versicherungsgesellschaft „De Algemeene“. Im Rahmen der Erweiterung des Unternehmens macht Jakob viele Reisen, u.a. nach Wien, Leipzig, Budapest und Sankt Petersburg. In Budapest hält es ihn sogar einige Jahre. Diese Städte hinterlassen bleibende Eindrücke, die er nur allzu gern in seine Romane integriert. Neben GG lässt er die Detektivin Mary O´Neill und Gerard van Panhuis dort agieren. Insgesamt 44 Romane, Erzählungen, Kinderbücher und eine Autobiographie verfasst Ivans Zeit seines Lebens.
Mit der russischen Revolution gerät die Versicherungsgesellschaft in Schwierigkeiten und Ivans ist gezwungen, das Schreiben nicht mehr nur als Zeitvertreib zu betreiben. Er muss zu einem beachtlichen Teil davon leben, was ihm auch gelingt. 1935 stirbt er an einem Herzanfall. Angeblich, so heißt es bei Kees van de Leeuw, soll zur Todesstunde seine Uhr stehen geblieben sein.
Nach dem 2. Weltkrieg wird es still um den Pionier des niederländischen Kriminalromans. Mit seinem Tod, so scheint es, kommt auch das Vergessen. Edith Visser nimmt sich in den 1970ger Jahren noch einmal posthum seines Werkes an. In der Reihe „Zwarte Beertjes“ (Schwarze Bären) – eine der bekanntesten Taschenbuchreihen der Niederlande – erscheinen 15 Romane, doch an den ursprünglichen Erfolg kann sein Hausverlag Bruna mit Ivans nicht mehr anknüpfen. Seiner historischen Rolle wird er aber nach wie vor gerecht und so freuen sich seine Fans und Literaturhistoriker, über neu entdeckte, unbekannte Erzählungen, wie zum Beispiel. „Het gestoorde bruiloft“ (Das gestörte Hochzeitsfest). Seine Bücher findet man leider nur noch in niederländischen Antiquariaten.
Kallen – Der Schatten von Havank
Ivans Verleger sucht nach dem Tod des großen Meisters nach einem würdigen Nachfolger, der ähnliche Umsätze wie sein Vorgänger zu erreichen vermag. Hendrikus Franciskus van der Kallen schafft es erst im zweiten Anlauf, die Lektoren von sich zu überzeugen. „Het mysterie van St. Eustache” (Das Geheimnis von St. Eustache), ganz in der Tradition Ivans unter dem Pseudonym Havank herausgegeben, wird ein Renner. Sein Detektiv, Charles Carlier, ist zunächst Polizist und in Frankreich auf der Suche nach Missetätern. Später avanciert er sogar zum Chef von Interpol. Carliers Fähigkeit, sich lautlos wie ein Schatten zu bewegen, tragen ihm den Namen „De Schaduw“ (Der Schatten) ein. Ein Titel, der später Debutanten am Kriminalromanhimmel den Einstieg erleichtern soll, wird heute doch so der Preis genannt, den Erstlingswerke besonderer Qualität als Auszeichnung erhalten.
Van der Kallen beginnt als Handelsreisender, bevor er schließlich in Amsterdam erste Kontakte zu Schriftstellerkreisen knüpft und neugierig die fremdartigen, spannenden Eindrücke in sich aufnimmt. Eher spröde und langweilig erscheint da seine Arbeit in einem Versicherungsbüro, die er zu dieser Zeit aufnimmt. Er verdient sein Geld außerdem mit Übersetzungen. Sein Freund W. Merckens, der Kunstredakteur beim „Telegraaf“ ist, ermutigt ihn, Detektivromane zu schreiben. Gesagt – getan. Hendrikus Franciskus traut sich.
Die Orte, an denen seine Geschichten spielen, befinden sich vornehmlich in Frankreich. Reiseführer liefern ihm für seine ersten Versuche die notwendigen Informationen. Nachdem ihm Bruna mitteilt, dass sein Roman „Het mysterie van St. Eustache” angenommen worden ist, reist van der Kallen und genießt in vollen Zügen, Recherchen vor Ort zu betreiben. Vor allem die sonnige Provence hat es ihm angetan. Hierher kehrt er Zeit seines Lebens immer wieder zurück.
Havanks Romane sind schließlich bei weitem erfolgreicher als die Ivans. Ein „Havankje“ lesen heißt es, wenn es darum geht, einen spannenden Krimi zur Hand zu nehmen. „Stop en Havank!“ steht an den Kiosken und Geschäften, in denen seine Bücher angeboten werden. De Schaduw wird immer populärer.
Havank hasst die Nazis und reist als Kriegskorrespondent durch Europa. In London lernt er seine zukünftige Frau Cynthia Vickers kennen, mit der er in den folgenden Jahren in London, der Provence und Spanien zusammen lebt. Die Ehe ist nicht gerade ein Zuckerschlecken für ihn. Vor allem um Geldnöte und einen ausschweifenden Lebensstil soll es bei den Streitereien zwischen den Eheleuten gegangen sein. Seine zum Teil heftigen Auseinandersetzungen mit der Ehefrau schlagen sich auch in einigen seiner Bücher nieder, nagen aber eher an seiner Kreativität und Schreibfreudigkeit. Zurück in seinem Heimatland beginnt er während eines Aufenthaltes im Krankenhaus ein Verhältnis mit einer jungen Pflegerin mit Namen Tonia Damsma (Mulder). Sie wird es sein, die ihn später tot in seinem Hotelzimmer entdeckt. Seine wahre Liebe, die sich in seinen letzten Büchern wiederfindet, ist jedoch eine äußerst mysteriöse. So erzählen Leon Blok und Dirk Swierstra in ihrem Havank-Porträt „Dood in Nederland“ von dem Bild einer Dame mit Namen Anna Maria van Burmania, die zwischen 1733 und 1808 gelebt hat. Das Bild zieht Van Kallen in Bann und lässt ihn an eine mystische Liebesbeziehung glauben. In „Caviaar en cocaine“ (Kaviar und Kokain) und „Menuet te middernacht“ (Menuett um Mitternacht) verarbeitet er diese Erfahrung.
Sein letztes Buch schreibt Van Kallen nicht mehr zu Ende. Er stirbt bei der Arbeit an „Menuet te middernacht“ in seinem Hotelzimmer, wo ihn die Geliebte Tonia Damsma (Mulder) findet. Insgesamt 29 Romane hat er veröffentlicht. Außerdem wurden zwei Erzählbände von ihm herausgegeben. Schon zu Lebzeiten gingen die Auflagen seiner Bücher in die Millionen. Pieter Terpstra, ein Journalist, hat unter dem Namen Havank-Terpstra nach Van Kallens Tod dessen Werk fortgesetzt.
Zu Zeiten von Havanks Erfolg in den Niederlanden feiern die Autoren der hardboiled school in Amerika die Geburtsstunde einer neuen Richtung innerhalb des Kriminalromans. Großstädtisches Leben, Sex und Gewalt halten Einzug. Themen, die Niederländer vorerst kalt lassen.
Joop van den Broek – auf die harte Tour
Der Verlag Bruna ist beim nächsten Autor erneut Initiator des Erfolgs. Bruna schreibt wieder einen Wettbewerb aus, den Joop van den Broek für sich entscheiden kann. Grund für die Ausschreibung ist auch diesmal wieder der Verlust des Erfolgsautors Havank und die Suche nach einem geeigneten Nachfolger. Mit „Parels voor Nadra“ (Perlen für Nadra) werden die Themen der amerikanischen „Hartkocher“ in den Niederlanden aufgegriffen.
Johannes Frederik van den Broek beginnt als Journalist für die Tageszeitung „De Stem“ und wird schließlich in den 50ger Jahren Auslandskorrespondent in Indonesien für die „Volkskrant“ und das Radio, später für GPD, Avro, NRC Handelsblad, NOS und VUT und de Telegraaf. Nicht die Niederlande, sondern Spanien nennt er schließlich sein Zuhause.
Der Autor selbst äußert sich zu dem mit Sex, Gewalt und Erotik gespickten Roman „Parels voor Nadra“ in einem Interview und tituliert ihn als „Skandalös… mit Frauen und so… einfach skandalös“. Hauptperson seiner Abenteuer ist ein Fotograf, der der harten Wirklichkeit ausgesetzt wird. Was Van den Broeks in Asien erlebt, findet seinen Niederschlag in diesem Buch. Die Darstellung der landestypischen Lebensweisen und Verhaltenskodi findet auch unter Kritikern viele Bewunderer und erntet Lobeshymnen. Das Genre fasziniert den Schriftsteller nicht nur in einer Manier. Er mag sich nicht ausschließlich auf die harte Tour festlegen. Van den Broek macht sich daher das Pseudonym Jan van Gent zu Nutze und schreibt unter diesem Namen Detektivromane der klassischen Art.
Keiner der drei genannten Autoren ist ins Deutsche übersetzt. In deutschen Krimiregalen wird man dagegen schon eher Robert Hans van Gulik finden, von dem Mimi in der nächsten Folge zu berichten weiß.
Bibliographie:
Netz:
www.let.uu.nl/~Kees.deLeeuw/personal
www.crime.nl
www.crimezone.nl www.dodenakkers.nl/beroemd/havank.html
www.havankweb.nl
Werk-Auswahl:
Ivans
- De Man uit Frankrijk
- De Schaduw
- Het Spook van Voroshegy
- Het verloren Kruis
- De heer van Dennenberg
Havank
- Het mysterie van St. Eustache
- De n.v. Mateor
- De erven Mateor (Havank + Terpstra)
- Schaduw aan de Donau (Havank + Terpstra)
- Het spookslot aan de Loire
Joop van den Broek
- Parels voor Nadra
- Chaos in Djakarta
- Spaans gepeperd
- Parijs is ver
Sekundärliteratur:
Jan C. Roosendaal: Crime fiction in The Netherlands, a short history.
J.P.M. Passage: ‚Kallen, Hendrikus Frederikus van der (1904-1964)‘, in: Biografisch Woordenboek van Nederland 5 (Den Haag 2002).
Hier wordt U, voor gij sterft, een lusthof aangeboden. Begraven en begraafplaatsen; Uitgave stichting Aed Levwerd bij gelegenheid van de Open Monumentendag Leeuwarden 1999, blz. 46.
Waar ligt Poot? Over de dood en de laatste rustplaats van Nederlandse en Vlaamse schrijvers, in: Heesen, Hans e.a.: Uitgeverij de Prom, 1997, blz. 113-114.
Ersterscheinungsdatum: 21.11.2005 auf einseitig.info
© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.
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