Der Norden mordet

Krimifrauen aus dem hohen Norden lassen Leserinnen in Deutschland nicht kalt

Zwischen WG-Kühlschrank und Frauenpower

Maj Sjöwall und Per Wahlöö begannen bereits in den 60ern nordischen Freigeist in konventionstreue Gehirne zu pflanzen und benutzten dazu geschickt das Genre der Kriminalliteratur. Schließlich erreichten sie damit eine breite Masse potentieller Leser. Das Konzept ging auf.

Ihr Protagonist heißt Martin Beck, der gemeinsam mit seinem Team für Aufklärung sorgt. Sympathisch und aufmüpfig, fehlbar und ärgerlich, so präsentiert sich der Kommissar seinen Lesern. Die marxistisch geprägte Grundhaltung der beiden Schöpfer ist gerade in den letzten Romanen der zehnbändigen Reihe – in Deutschland bei Rowohlt erschienen – unüberlesbar. Ihre Romane treffen den Geist einer Zeit, in der sich die Jugend nach unkonventionellen, die gesellschaftlichen Rahmen sprengenden Lebensformen umsieht, politisch aktiv und aufrührerisch für Wandel einsetzt, enge Welt und Konvention durch Freiheit der Andersdenkenden ersetzen will. Wer lange Haare hatte, in wilder Ehe lebte und den WG-Kühlschrank bestückte, der kannte auch Martin Beck.

In den siebziger Jahren lässt Jon Michelet in Norwegen mit seinem Osloer Kommissar Vilhelm Thygesen Fälle von Politik- und Wirtschaftsverbrechen bekämpfen. Der whiskeytrinkende Sherlock Holmes des Nordens gleicht allerdings noch sehr den amerikanischen Vorbildern der hardboiled school. Sam Spade hätte ihn sicher zum Kaffee mit Schuss eingeladen.

In der Sjöwall/Wahlöö-Tradition stehen Autoren wie Henning Mankell, Åke Eriksson, Anne Holt, Liza Marklund, Helene Tursten, Peter Høeg und viele andere auch heute noch. Nicht zwangsläufig von kommunistischen Leitbildern geführt, gehen die Autoren harsch mit Missständen ins Gericht, bis hinein in den Polizei- und Justizapparat; Vorurteile aufgreifend, globalisierte Welt betrachtend, Lebensformen überdenkend. Skandinavische Krimis setzen sich damit allerdings noch nicht von der Masse der in Deutschland, Frankreich, England oder Amerika populären Literatur ab. Der Unterschied beginnt mit der allen gemeinsamen untergründig spürbaren Mentalität einer Region, die unvergleichlich prägt, oftmals grausam nüchtern wirkt und dem ungnädig selbstironischen oder zweifelnden Blick auf individuelle Unzulänglichkeit und Allzumenschliches, in einer Umgebung die Freiheit und Demokratie propagiert.

Traditionelle Krimimuster werden dabei nicht gänzlich abgestreift, dienen vielmehr als Spielfeld und Quelle für neue Kreationen. Leena Lehtolainens Roman „Alle singen im Chor“ ist ein typisches Beispiel für diese Mischung. Sie verknüpft klassisch deduktive Aufklärungselemente mit emotional zufälligen Erkenntnissen, vereinigt Fakten und Fehlbarkeit und kombiniert all das mit einem kritischen Blick auf Alltägliches im weiblichen Polizeialltag.

Die Anzahl der von Frauen verfassten Romane zum Thema Mord und Todschlag hat seit den 90er Jahren erheblich zugenommen. Marianne Kohler spricht im Magazin für Literatur und Film „Titel“ von einem rund dreißigprozentigen Anteil der Krimi schreibenden Frauen allein in Norwegen, nachdem sich noch 1993 Willy Dahl in seiner Geschichte des norwegischen Kriminalromans bedauernd über die geringe weibliche Beteiligung ausließ.

Die Besonderheiten des skandinavischen Krimis, Mentalität, Selbstironie, der kritische Blick auf die gesellschaftlichen Umstände und das Allzumenschliche finden sich auch hier und noch mehr. Gerade in Deutschland sind vor allem weibliche Fans begeistert von den starken Frauen der skandinavischen Krimiszene. Einige der meist weiblichen Ermittler tun es dabei ihren männlichen Vorbildern durchaus gleich, trinken nicht weniger als sie, tragen erhebliche Blessuren davon und holen sich im Fitnessstudio die notwendigen Muskelpakete ab.

Doch nicht das allein ist es, das den Kommissarinnen, aufklärenden Journalistinnen und Psychologinnen die Sympathien der Leser verschafft. Es ist vor allem ihr etwas anderer Blick auf die Dinge, die Verknüpfung von Pragmatischem und Unpragmatischem, von Alltag, Emotion, Zufall und Intuition, das oftmals auch assoziative Herangehen, das reizt. Die Kriminalromane gewinnen durch diese neue Variante an Tiefe und integrieren eine neue psychologisch interessante Komponente.

Figuren wie Leena Lehtolainens Maria Kallio oder Anne Holts Hanne Wilhelmsen wachsen und verändern sich, zeigen ihre Skrupel, Lieben und Fehlbarkeiten. Sie finden sich wieder in einem skandinavischen Alltag, der die Gleichberechtigung der Frauen propagiert, jedoch noch lange nicht konsequent zelebriert, beschreiben aber auch die durchaus nachzuvollziehenden Schwierigkeiten der Männer, mit diesen verlangten Veränderungen umzugehen.

Verbrechen an und von Frauen werden Thema. Die Ursachen für die von Frauen begangenen Verbrechen werden geschildert und zeigen die manchmal positive, manchmal sehr schmerzliche Auseinandersetzung zwischen weiblicher und männlicher Welt und deren Zusammenspiel.

Liza Marklund und Elsebeth Egholm – Zwischen Windeln und Pistolen

Dabei hatten es manch skandinavische Krimifrauen gar nicht so leicht, ihre Anhänger zu erreichen. Buchhändler können ein äußerst mißtrausches Völkchen sein. Liza Marklund verkaufte ihre Romane zunächst an Tankstellen und ließ sich selbst, blond und attraktiv, auf dem Titelbild abbilden, um den Verkaufserfolg sicher zu stellen. Ihr Erstling, der 1998 erschien, schaffte es schließlich auf die Bestsellerliste und heimste den Poloni-Preis und den Preis der Schwedischen Krimiakademie ein. Ihre Figur, die Reporterin Annika Bengtzon arbeitet engagiert in der Polizeiredaktion einer Zeitung und wird ganz nebenbei von den Alltäglichkeiten weiblichen Daseins mit Kind und Mann geplagt. In „Olympiafeuer“ geht es um die Aufklärung des Mordes an der Leiterin des Olympiakomitees, für das Annika so gar nicht ganz nebenbei sorgt.

Die Dänin Elsebeth Egholm ist wie Liza Marklund journalistisch tätig und lässt ihre Hauptfigur ebenfalls aus diesem Umfeld stammen. Ihren Durchbruch hatte sie mit dem Roman „Der Gartenpavillon“.

Ihr Buch „Der tote Knabe“ beschreibt den Fund eines toten Babys in einem Fluss durch die drei Freundinnen Dicte, Ida-Marie und Anne. Während einerseits die Puzzlestücke bis zur Aufklärung des Falles aufgerollt werden, lässt Egholm die unterschiedlichsten Themen mit einfließen. Da wird über die Scheidung und das sich verändernde Liebesleben mit Eifersucht, Verarbeitung von alten Wunden und die gesellschaftliche Nichtanerkennung von älteren Frauen und jüngeren Männern gesprochen , da findet Sexualität von Frau und Mann, Alltag mit heranwachsenden Kindern, Schwangerschaft und Krankheit seinen Platz. Da wird über Vorurteile und Rassismus gesprochen, von Medienmacht und Ohnmacht. Da lässt Egholm einen Ex-Ehemann und einen Liebhaber zu Wort kommen, die mit den Beziehungen zu ihren Frauen nicht mehr zurechtkommen und hat durchaus Verständnis für deren Ausbruch aus dem verkorksten Ehegebilde.

Angst, Enttäuschung, Liebe, Zweifel, Kraft und Schwäche sind allesamt große Themen in diesem Buch, in dem die Spannung dennoch nicht zu kurz kommt. Geht die Polizei zunächst aufgrund einer gefundenen Koranseite von einem Mord im Ausländermilieu aus und hetzt die Presse vor dem Hintergrund des 11. September eifrig gegen Kopftuch und Muslime, will es eine Reihe von Zufällen, dass Dicte das wahre Geheimnis aufdeckt, das die Vorurteile so gar nicht bestätigt. Vielmehr wirft das Ergebnis ein ziemlich dunkles Licht auf die Grenzen und moralischen Bedingungen für Frauen in der eigenen Gesellschaft.

Leena Lehtolainen – Marias merkwürdige Freunde

Liebe ist auch bei Leena Lehtolainen ein Thema. Die trinkfeste Kommissarin Maria Kallio hat so einige Liebhaber hinter sich, bevor sie im Rahmen eines Mordfalles ihren zukünftigen Ehemann Antti trifft. Der wird aber, bevor sie sich auf ein Zusammenleben auf Probe mit ihm einlässt und schließlich der Heirat zustimmt, durch ihre Jugendliebe Johnny kurzfristig in Frage gestellt. Waren bei Lord Peter Wimsey und Sherlock Holmes die Lieben eher unglücklicher Natur, kurz und geschahen nebenbei, trennte sich Mann in der Regel von der unzufriedenen Ehefrau, weil der Job ja schließlich wichtig war, so gehört die Liebe und das Kinderkriegen in jeglicher Konsequenz bei den schreibenden Damen der Zunft zum Geschehen. Liebhaber werden zwar mal zu Verdächtigen und Mördern, doch andere auch zu ständigen Begleitern mit Dauerstatus.

Maria erscheint auf den ersten Blick wie Philipp Marlowes Schwester, wenn auch erfolgreicher. Rothaarig, Rad oder Motorrad fahrend, Autokennerin, kampfsportbegeistert, schillernd und mit einem immensen Alkoholkonsum, erfolgreich und ehrgeizig im Beruf ginge sie locker als Mustermann durch. Wäre da nicht ihre Einsamkeit und Sehnsucht nach Anerkennung und Gesellschaft, die sie in all ihrer Gewöhnlichkeit Vertrauen zur Mörderin ihres Exfreundes finden lässt. Verraten und verkauft hat sie dennoch Verständnis für die in „Alle singen im Chor“ überführte Täterin.

Hier begegnet sie auch Antti, auf den sie sich schließlich zunächst mißtrauisch einlässt. Mit ihm verwirklicht sie dann doch das in Europa so gepriesene skandinavische Gleichheitsmodell. Antti hütet Haus, Hof und Kind und arbeitet als Wissenschaftler daheim, während Maria oftmals viel zu wenig für Mann und Kind da ist, Verbrecher jagt und Opfer tröstet. Doch nichts ist mit unverbrüchlichem Frieden und heiler Familienwelt, schlicht umgekehrtem Rollenverhalten, obschon Maria ob ihrer mangelnden Präsenz am häuslichen Kamin zaudert. Sie ist ängstlich und verletzt, sucht Zuflucht bei ihrem Mann, als sie in die Fänge eines sie bedrohenden Verbrechers gerät, der noch dazu einen ihrer Kollegen tötet. Sie hadert mit ihrer Vorgesetztenrolle, in der sie von einem männlichen Kollegen immer wieder in Frage gestellt wird. Der entpuppt sich schließlich als eine vom Alkohol geprägte unglückliche Natur, dem die Frauen allzu hart mitgespielt haben. Von seiner Frau getrennt, die ihn für schwach und emotionsgestört hält, seine Kinder abgöttisch liebend, zermürbt von ständigem Streit zeigt er sich hart und unerbittlich und ist doch sensibel und tief verletzt. Nur kurze Episoden zeigen, dass all seine Ablehnung Maria gegenüber seiner eigenen Unzulänglichkeit gilt und er vielmehr Sympathien und Sorge für sie entwickelt. Ein Psychogramm, wie es einfühlsamer nicht gezeichnet werden kann.

Maria leidet nach seinem Selbstmord und befindet sich im Zwiespalt zwischen Verständnis und Ablehnung. Sie ist vielschichtig und verändert sich. „Das wichtigste an Maria ist ihre Ambivalenz: Sie ist tough und mutig, aber auch sehr sensibel“, beschreibt sie Leena Lehtolainen in einem Interview mit Ruth Bender.

Leena Lehtolainens Mörder stammen durchweg aus dem direkten Umfeld ihrer Protagonistin. Durch diesen Kunstgriff ermöglicht die Autorin Maria den Zugriff auf allerlei ungeahnte Informationsquellen und Verbindungen, die dem Leser oftmals erst in letzter Minute offenbart werden. Zufall, Erinnerung, Gefühl, Ahnung und Intuition spielen eine große Rolle bei der Aufklärung der Fälle.

„Mich interessieren die Leute von nebenan viel mehr als Superhelden und Serienkiller. In meinen Büchern versuche ich zu erkunden, was einen „normalen“ Menschen dazu bringt, die unsichtbare Grenze zu überschreiten und zu töten,“ so die Autorin zu Ruth Bender.

Sie vergisst dabei nicht den Blick zum Beispiel auf die entwürdigende Untersuchung einer Vergewaltigung zu werfen, die Beschreibung von Vorurteilen und sozialer Abgrenzung von Andersdenkenden einzubeziehen oder das Missverhältnis zwischen Wollen und Tun in Sachen Gleichberechtigung von Frau und Mann darzustellen. Maria moralisiert dennoch nicht. Sie zeigt gelegentlich ihre Wut, aber auch ihre Hilflosigkeit und Entmutigung.

Anne Holt – Hanne Wilhelmsen liebt eine Frau

Anne Holt schrieb Kriminalromane, bevor sie 1996 für kurze Zeit norwegische Justizministerin wurde und hat auch nach Antritt ihres Amtes nicht damit aufgehört. Bevor sie zur Ministerin avancierte, arbeitete sie als Journalistin, Polizistin und Anwältin. Ihre Kenntnisse der Materie finden zweifellos Niederschlag in ihren Büchern.

Neben Ihrer Protagonistin Hanne Wilhelmsen lässt Holt den Kollegen Håkon Sand agieren. Liebe spielt eine nicht unerhebliche Rolle, wenn sich hier auch nicht die beiden Hauptakteure finden. Håkon schätzt Hanne und findet sie attraktiv. Sein Herz gehört jedoch der verheirateten Studienkollegin und Anwältin Karen Borg. Hanne ist homosexuell und lebt seit Jahrzehnten mit ihrer Freundin Cecilie zusammen. Die unbarmherzige Männerwelt mit derben Scherzen und vermeintlichem Schubladendenken hindert Hanne daran, ihre Beziehung öffentlich zu machen, bis ein Kollege ihr überraschend den Weg dazu ebnet. Wesentlich bei Anne Holt: Einen Kampf der Geschlechter gibt es, aber auch deren bereicherndes Zusammenspiel. Håkan und Hanne sind ein Team. Beide sind in gleicher Weise aktiv, erfolgreich, schwach und verletzlich.

In ihrem Roman „In kalter Absicht“ ist die Psychologin Inger Vik ihre Hauptperson. Gemeinsam und ebenso teambewusst klärt sie mit Hauptkommissar Yngvar Stubø mit Intuition, psychologischem Geschick und Einfühlungsvermögen die Entführung und Ermordung mehrerer Kinder auf.

Der Alltag mit Kindern, Trennung und neue Liebe, Vorurteil und Emotionen sind auch bei Anne Holt tragende Themen. Die kleine Emilie wird entführt, wenig später muss ein zweites Kind dran glauben. Yngvar Stubø sucht verzweifelt nach dem Täter, bis der entführte Junge tot aufgefunden wird. Nur ein Zettel in der Hand des toten Kindes weist schließlich auf den Zusammenhang zwischen diesem und späteren Entführungen und Mordfällen hin. Yngvar schaltet Inger ein, in die er sich schließlich verliebt, die ihn, wenn seine Gefühle auch erwiedernd, mit Zurückhaltung empfängt. Parallel zu diesem Fall recherchiert Inger im Fall Aksel Seier, der vor vierzig Jahren ein kleines Mädchen missbraucht und getötet haben soll. Offenbar gibt es eine Verbindung zwischen den Fällen. Am Ende führen viele Puzzlesteine, Instinkt und Kommissar Zufall spannend ans Ziel.

Allen Romanen gemeinsam ist die bereits erwähnte straff nüchterne Atmosphäre. Es wird realistisch, schnörkellos und journalistisch genau erzählt. Man glaubt den vermeintlich kühlen Norden greifen zu können. Bräuche und Gepflogenheiten, gesellschaftliche Regeln und Grenzen werden verwoben. Leena Lehtolainen lässt ihre Maria nicht umsonst häufig zu Hochprozentigem greifen. Trinkgelage gehören zu Finnland, so Lehtolainen an anderer Stelle. Der Ort der Handlung, die Region und Umfeld, ob nun auf dem Land oder in der Stadt skizziert, werden eingehend beschrieben. So haben Lehtolainens Leidenschaft für das Segeln und die weiten Buchten ihres Landes in ihren Romanen ihren unstreitbaren Platz. Skandinavische Kriminalautorinnen verstehen ihr Handwerk. Alle Romane zeugen von schriftstellerischem Können, diffizilen Entwürfen der Charaktere und spannenden Plots.

Ersterscheinungsdatum: 25.04.2005 auf einseitig.info

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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