Tartarische Küche im Scherbenpark
Alina Bronsky liest aus ihren Romanen
Zomerlezen
Ungefähr dreißig Leute sitzen an kleinen Bistrotischen, knabbern an Salzstangen und schlürfen ihren Wein. Ganz unspektakulär betritt eine junge Dame die Bühne des Clubs des Zakk in Düsseldorf und setzt sich auf den vorbereiteten Platz, vor den vorbereiteten Tisch mit Krug und Wassergläsern. „Angela kommt gleich,“ sagt sie und blickt neugierig ins Publikum, das urplötzlich mit Aufmerksamkeit reagiert. Wer auch immer Angela ist, diese Frau auf ihrem Stuhl, mit aufgestützten Armen auf dem Tisch, ihre beiden Bücher, gespickt mit gelben Notizzetteln als Lesezeichen, vor sich, zieht bereits die Blicke auf sich. Alina Bronsky wirkt zurückhaltend, reserviert freundlich, aber auch außerordentlich präsent und wach. Angela, zu mehr als dem Vornamen scheint die Zeit nicht zu reichen, folgt tatsächlich wenige Sekunden später und begrüßt die zahlenden Gäste und die Autorin zur Veranstaltung Zomerlezen.
Das deutsch-niederländische Literaturfestival findet alljährlich, acht Wochen lang, im Sommer statt und bot in diesem Jahr eine Reise „Zwischen den Welten/Tussen de Werelden“ mit Themen, so beschreibt es die Einladung zum Festival, zwischen Aufbrechen und Ankommen, Träumen und Realisieren, Hoffen und Resignieren, Scheitern und Gewinnen und entführte nach Südafrika, Chicago, Budapest, Istanbul, auf abgelegene Inseln und ein Dorf in Mecklenburg-Vorpommern. Kennenlernen durften literarisch interessierte Zuhörer die Milieus russischer Einwanderer, die Lebensmittel türkischer Immigranten in den Niederlanden oder den Alltag römischer Legionäre. Die Entführer: Sherko Fatah, Otto de Kat, Ariëlla Kornmehl, Kristof Magnusson, Thomas Hoeps, Jac. Toes, Judith Schalansky, Simone van der Vlugt und Feridun Zaimoglu.
Alina Bronsky gibt sich bescheiden
An diesem Abend ist Alina Bronsky an der Reihe. Die Tochter eines Physikers und einer Astronomin kam mit 12 Jahren nach Deutschland und lebte bis zu diesem Zeitpunkt auf der asiatischen Seite des Uralgebirges, Sie gab das Medizinstudium auf und arbeitete als Journalistin und Werbetexterin, erläutert die Moderatorin des Abends. Und Alina Bronsky ergänzt. Deutsch habe sie in der Schule gelernt, Stück für Stück. Sie verstand erst einmal kaum etwas. „Das ist nicht genial, das müssen tausende von Kindern aus Einwandererfamilien so praktizieren,“ sagt sie. Manche seien zwar sprachbegabter als andere, aber es sei für Kinder ganz normal, zum Erlernen der Sprache schlicht immer mehr aus der Umgebung zu erfassen und immer mehr zu begreifen. Wer keine Gelegenheit habe, auf die bekannten Sprachstrukturen zurückzugreifen, füge sich in andere ein. Ganz automatisch, um der Isolation zu entgehen. „Das ist nichts Besonderes,“ wiederholt sie bescheiden. Dass Alina Bronsky die deutsche Sprache beherrscht, Deutsch nicht nur Alltags-, sondern Muttersprache geworden ist, beweisen ihre ausgesprochen tonvollen Bücher „Scherbenpark“ und „Die schärfsten Gerichte der tartarischen Küche“, aber auch ihre versierte Lesung an diesem Abend.
Sascha will Vadim töten
In beiden Büchern spielen Frauen die Hauptrollen. Alina Bronsky gibt einen Auszug aus ihrem ersten Werk „Scherbenpark“ zum Besten, in dem die Protagonistin Sascha, eigentlich Alexandra, die Ermordung ihres Stiefvaters und das Schreiben eines Buches über ihre „dumme, rothaarige Mutter“ ankündigt, die noch leben würde, hätte sie auf ihre kluge Tochter gehört. Auf ihren Taufnamen reagiert Sascha nicht und von den Erklärungen zu ihrer Lebenssituation im Hochhaus einer Plattenbausiedlung mit dem beschönigenden Namen „Solitär“ hat sie genug. Sie will Vadim töten. Er, der Stiefvater, ist der Mörder ihrer Mutter und dessen Lebensgefährten, Sascha hat die Ermordung mit eigenen Augen erlebt, kann sich aber nicht mehr erinnern. Ihre Trauer und Wut ist aus ihren Worten kaum herauszuhören, vielmehr klingen ihre Schilderungen wie die eines Teenagers, der sich in der Welt zu orientieren sucht und mit alltäglichen Widrigkeiten zu kämpfen hat. In der Auseinandersetzung mit ihren Träumen, denen ihrer Freunde schildert sie ihre Desillusionierung.
Eine tiefe Verletzung und Traumatisierung ist spürbar, wird jedoch mit großer Distanz zum Geschehen geschildert, als habe sie an all dem, was ihr zugestoßen ist, nie wirklich teilgenommen. Manchmal wehrt sie sich bewusst und mit aller Kraft gegen das Empfinden, das mit dem vergangenen Geschehnissen einhergeht. Selten bricht es aus ihr mit aller Wucht heraus. Die Emotionalität und Feinfühligkeit ihrer Mutter entdeckt sie nicht als Gewinn, sondern als Schwäche. Den „schlechten Charakter“ des Vaters, der einen Doktortitel hatte und irgendwann einfach verschwand, nimmt sie dankbar als Erbe wahr und trägt ihn wie eine Trophäe. Wie ihre Mutter will sie nie werden und reagiert drohend, wenn man sie mit ihr vergleicht und Ähnlichkeiten feststellt.
Besuche bei Melanie, einer gutsituierten Freundin führen ihr die eigene, ärmliche Wohnsituation drastisch vor Augen, Männer hasst sie und glaubt nicht, dass es gute gibt. Sie sei sich selbst ein Mann, wiederholt sie den Ausspruch der Mutter. Doch halte sie sich daran, was die Mutter nicht getan habe. Ihren neunjährigen Halbbruder weiht sie in ihre Mordpläne ein. Auch wenn Vadim sein Vater ist, erleichtert ihn das Wissen um das Vorhaben genauso, wie es sie erleichtert. Sascha beschützt ihn, war auch gegenüber der Mutter die Kluge und ungesund erwachsen für ihr Alter. Die Erwachsenen in ihrer Umgebung versagen reihenweise. Anton flüchtet weinend in ihr Bett und pinkelt ihr beim Weckerklingeln vor Angst auf die Beine.
Nach dem Tod der Mutter landen die Kinder bei der einzigen Verwandten Maria, die kaum Deutsch spricht und aus Saschas Sicht ebenfalls ein verkorkstes Leben hinter sich hat. Alissa, die kleine Schwester Saschas ist Marias Augenstern. Anton kann nicht nur ihre Berührungen nicht ertragen. Doch Maria gibt ihre spröde Liebe, so gut sie es eben kann. Vor der altklugen Sascha fürchtet sie sich. Sascha funktioniert, beherrscht, womit Maria nicht zurecht kommt. Die Siebzehnjährige kapselt sich ab. Sie kann nicht anders. Sascha will trotz Schmerz und Bedrohung überleben.
Das verdeckte psychische Ungleichgewicht scheint sein Gegengewicht, Erleichterung und Trost allein in der geplanten, sehr nüchternen Gewalt zu finden, deren Ausmaß entweder nicht erkannt oder aber ob der erlebten Meuchelung der Mutter verdrängt wird. Die Jugend und das Abgrenzungsbedürfnis Saschas schwingen in jedem ihrer Worte mit und damit auch das starke Bedürfnis Hilfe und Zuneigung zu erfahren, die ihr beide ob der Überforderung der sie umgebenden Erwachsenen nicht zuteil werden.
Rosalinde liebt sich selbst
Und auch von einer weiteren starken Frau weiß Alina Bronsky in ihrem zweiten Buch „Die schärfsten Gerichte der tartarischen Küche“ zu berichten. Rosalinde ist Tartarin und das personifizierte Matriarchat. „Mit ihr möchte ich nicht leben,“ umschreibt Alina Bronsky den Herrschaftsanspruch der Frau, die es hasst, wenn man ihren Namen auf Rosa verkürzt. Hübsch, eigenwillig geht sie mit großer Selbstverständlichkeit und einem unerschütterlichen Selbstbewusstsein durchs Leben. Das Leben von Mann und Tochter hat sie fest in der Hand und führt das Regiment ohne Erbarmen. Ihre Tochter Sulfia ist aus ihrer Sicht ihr absolutes Gegenteil: linkisch, hässlich, dumm und unfähig, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Und dann wird dieses Unglückskind auch noch schwanger. Rosalinde, gerade vierzig, ist damit so gar nicht einverstanden. Doch eine Abtreibung misslingt. Einen Zwilling erwischt der Unwille der zukünftigen Großmutter, der andere klammert sich ans Leben und will unbedingt auf diese Welt und eben jener die Stirn bieten. Hier genau beginnt Alina Bronsky zu lesen. Mit einem ähnlich ironisch-leichten Unterton wie in „Scherbenpark“, der Bitternis verbirgt, aber doch ahnen lässt, erzählt Rosalinde von der Geburt ihrer Enkelin.
Als sie beim ersten Blick auf das Kind feststellt, wie ähnlich es ihr sieht, hält sie nichts mehr. Sie kennt kein Pardon und reißt die Zügel an sich, als gehörte der Säugling ihr. Auch wenn Mann und Tochter sich für die Kleine einen einfachen, schlichten Namen wünschen, beschließt die Großmutter sie Aminat zu nennen. Und auch danach weiß sie ganz genau, wie und was ihre Enkelin werden soll. Als der Journalist Dieter, erfreulicherweise ein Deutscher mit Geld, die Gebiete des Urals bereist, um ein Kochbuch über die tartarische Küche zu schreiben, ist Rosalinde Feuer und Flamme für ihn. Dieter und Sulfia werden mit ihrer Unterstützung ein Paar. Doch mit Sulfia hat Dieter nun auch den Rest der Familie am Hals und gemeinsam wandert man aus ins gelobte Land, Deutschland.
Wie auch sonst von sich, ist Rosalinde von ihren ausgesprochen guten Deutschkenntnissen überzeugt. Dieter verschafft ihr einen Job. Und was sich für Rosalinde, die in Netzstrümpfen und mit hochtoupierten Haaren zum Vorstellungsgespräch erscheint, als Kindergarten für wohlbetuchte Sprösslinge darstellt und ihr offenbar eine Stellung als Pädagogin bieten soll, ist in Wirklichkeit der Haushalt einer begüterten Familie, die eine Putzfrau sucht. Doch auch diesen Umstand weiß Rosalinde für sich zu nutzen. Sie putze gern, habe ein ausgesprochenes Talent für diese Tätigkeit und so putzt sie, was das Zeug hält.
Die Generalissima terrorisiert ihre Familie und sie hat einen Grund dafür: Unterkriegen lässt sie sich nie. Die harte Schule der Sowjetunion hat sie stark und für alle Schwierigkeiten und Hürden blind gemacht. Sie meistert sie und zimmert sich den Blick auf die eigene Welt nach Gusto und Erträglichkeit. Was für sie Rezept für ein glückliches Leben ist, verschreibt sie allerdings auch allen anderen und ihre Enkelin Aminat, die ihr tatsächlich in Willenskraft und Durchsetzungsvermögen ähnelt, wie niemand sonst in der Familie stellt sich quer.
Alina Bronskys zurückhaltende Art, ihre Texte zu lesen, unterstreichen deren Eigenart. Was so behende, flüchtig zynisch daherkommt, verbirgt in seinem Innern eine subtile Tragik und Menschlichkeit.
Ein Zuschauer glaubte, Ähnlichkeiten mit den Figuren Hauptmanns zu entdecken. Alina Bronsky erstaunte das, unverhohlen und offen gab sie zu, nicht sehr mit dessen Werk vertraut zu sein. Ebenso unverhohlen gab der Zuhörer im Publikum zu erkennen, wie sehr das seinem Ego schmeichelte und so setzte er mit einem kritisch-vernichtenden Satz zum Werk der Lesenden nach. Auch in Hauptmanns Werk wisse man um Menschen in schwierigen Zeiten, daher dürfe der Eindruck wohl stammen, konterte man von der Bühne und fand, das Rosalinde so gar nicht „zu spät“ gekommen sei. Dem schloss sich der Rest des Publikums mit Überzeugung und Wonne an. Was Zomerlezen an diesem Abend an scharfen Gerichten aus der Tartarenküche aufgetischt hat, macht Hunger auf mehr. Ein gelungener Leseabend und eine echte Entdeckung!
Marie van Bilk empfiehlt:
„Scherbenpark“ und „Die schärfsten Gerichte der tartarischen Küche“ von Alina Bronsky
Ersterscheinungsdatum: 29.8.2010 auf einseitig.info
© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.