Herman Koch hat angerichtet!

Das Untier oder der Mensch ist sich selbst der größte Feind

Na, Mahlzeit!

a084b5ac54855361783bd20f2107bfbaHet Diner heißt der Roman des niederländischen Autors Herman Koch, der seit August in deutschen Buchhandlungen zu haben ist. Die korrekte Übersetzung des Titels lautet Das Dinner. Der Verlag Kiepenheuer & Witsch hat einen anderen, nämlich Angerichtet gewählt und gut daran getan. Denn um das, was Menschen anrichten können, geht es nicht nur in kulinarischer Hinsicht. „Na, Mahlzeit!“, könnte manch einer ganz passend nach Lektüre des Buches ausrufen. Denn Herman Kochs Erzählweise ist perfide. Ganz zielgerichtet nutzt er das Vertrauen des Lesers in den doch so scheinbar harmlosen, subtil misanthropischen Ich-Erzähler, Paul Lohman aus, um ihn mit dessen wahren, verborgenen Selbst und dem Charakter seiner Familienmitglieder, aber auch mit verleugneten dunklen Seiten des Menschen zu konfrontieren und zu schockieren. Ist der Mensch sich selbst der größte Feind und wer trägt Schuld an diesem Dilemma? Es geht um viel: Den Wert des Lebens, um (Un)moral, um falsch verstandene und bedingungsvolle, selbstbespiegelnde Liebe, Sprachlosigkeit und den Ursprung von Gewalt. Paul Lohman und seine Frau Claire bemühen sich aus aktuellem, dem Leser nicht gleich ersichtlichen Anlass, zu einem Dinner mit dem berühmten Politiker und Bruder des Hauptprotagonisten Serge Lohman und dessen Frau Babette. „Wir müssen über unsere Kinder reden,“ sagt Serge Lohman zu seinem Bruder. Doch bis es dazu kommt und sich alle Details der schrecklichen Tat auffächern, nimmt der Leser teil am Aperitif, der Vorspeise, dem Hauptgang, Dessert, Digestif, und letztendlich zahlt auch er einen Teil der Rechnung. Das Fünfgängemenü lässt an den Aufbau einer klassischen Tragödie denken. Gar Einheit von Zeit, Ort und Handlung werden gewahrt und das trügerische Stück lässt auch eine sich steigernde Spannung bis zum Untergang nicht vermissen. Das vom edlen Mahl aus Champagner Rosé über Miniportiönchen mit kleinfingergespreizter Ansage des Maître d‘ Hotel bis zum ausdrücklich „jungen“ Grappa und einem überhöhten Trinkgeld, in Wahrheit Schweigegeld, umrandete Geschehen entpuppt sich als grausamer Mord an einer Obdachlosen mit noch grausamerem Hintergrund, von dem man, ganz der Situation entsprechend, nur „häppchenweise“ erfährt. Manch einer dieser Happen kann einem dabei im Hals stecken bleiben, denn die vermeintlich leichte Kost, die uns Herman Koch da serviert, ist keine.

Bevor man zum Kern der Sache kommt, wird vor allem das Verhältnis der beiden Brüder thematisiert. Sie mögen sich nicht. Aus Sicht des erzählenden Bruders Paul ist Serge ein Wichtigtuer, kamerageil, mit dem Charisma einer Berühmtheit gesegnet, die bei anderen Ehrfurcht und verstohlene Blicke auslöst, unerträglich scheinheilig, um Wählerstimmen nicht zu gefährden. Serges wahres Ich unterscheidet sich aus Sicht des Bruders frappant und ekelerregend von seinem öffentlichen.

Manch einer mehr nickt zunächst bekräftigend, wenn er von Pauls zumindest subjektiv „differenzierter“ Betrachtungsweise, der Ablehnung aufgesetzter, manipulierender Freundlichkeit, seiner Aufruhr gegen Großtuerei und von Altruismus als Droge und Selbstbetrug liest. „Ja, ja, so ist das,“ denkt der Leser schmunzelnd und freut sich über die Ablehnung von Dünkel und bigotter Etikette. Der respektvoll, kritisch besorgte Umgang mit seinem Sohn, die offenbare Liebe zu seiner Frau, das hochgeschätzte Familienleben sind positive Eigenschaften Paul Lohmans, die zur Identifikation reizen. Nur minimale Hinweise verraten bereits zu Beginn, dass hier etwas nicht stimmen kann. Es liegt Gefahr in der Luft. Der heimliche Blick auf die Daten des Handys des Sohnes, das heikle Videos verbirgt, die Vorwegnahme einer geänderten Beziehung zur Familie, die stetig negative, vergraben aggressive Einstellung zu Menschen, ohne dass Paul sich offen verbal abgrenzte und wehrte, lassen die Bedrohung ahnen und entblößen, dass Paul mit ihrer Verwirklichung zu tun hat. Plötzlich sind die Brüder sich wieder ähnlicher als gedacht, zeigt sich auch bei Paul, dass Oberfläche und Kern sich extrem voneinander unterscheiden.

Die Götter des Anfangs und des Endes

Pauls einziger Sohn Michel, der in dem Drama eine weitere der durchweg tragischen Rollen spielt, äußert sich an einer Stelle des Romans darüber, dass sein Vater lache, wenn er von Bluttaten, Gewaltexzessen und Krieg erzähle. Und genauso wirkt Pauls gesamter Bericht: abgeklärt, fröhlich, als sei es das Normalste von der Welt, anderen den Kopf einzuschlagen und seine eigene, zerstörerische Moral zum Maß aller Dinge zu machen. Zweifellos empfindet er genauso, auch wenn er sich in den Tiefen seines Herzens nach Normalität und einer häufig von ihm zitierten „glücklichen Familie“ sehnt. Die glückliche Familie sieht er sogar verwirklicht, selbst und gerade dann, als die Katastrophe ihren Abschluss gefunden hat. Das verzerrte Bild in seinem Kopf bleibt erhalten, denn die ausgeübte Gewalt erfährt keine negative Konsequenz.

Seine komplexhafte, neurotische Gewaltbereitschaft gelangt mit Fortschreiten der Geschichte an die Oberfläche. In Flashbacks erzählt Paul seine Geschichte, überzeugt verblendet und selbstbetrügerisch.

Weil er sich gegenüber seinen ehemaligen Schülern positiv über die Dezimierung humanen Lebens durch Kriege äußerte – es habe sich schließlich nicht nur um gute Menschen gehandelt, die getötet worden seien – und sie ausrechnen ließ, wieviel Menschen die Welt ohne Kriege aktuell übervölkern würden, verlor er seine Anstellung als Geschichtslehrer. Eine psychologische, letztendlich aber simple medikamentöse Behandlung soll sedieren, mutmaßlich heilen. Und doch erlebt der Leser, wie er später seelenruhig das Niederschlagen des Schulleiters seines Sohnes schildert, als der sich über dessen Hausarbeit, die Lynchjustiz gutheißt, mokiert. Paul will seine Identität zurück und hat die Medikamente abgesetzt. Gewalt wird gesät, sehr früh gesät.

Offen bleibt, wo die Provenienz seiner Zerstörungswut liegt. Man ahnt es. Denn Michel tut es ihm gleich. Sein Vater ist ihm bereits als kleines Kind unterbewusst ein Vorbild. Als die Scheibe eines Fahrradhändlers zu Bruch geht, in dessen Schaufenster der Sohn einen Fußball schoss, droht er diesen mit einer Standluftpumpe gefährlich zu verletzen. Paul fühlt sich im Recht, ist er doch gewillt, den Schaden zu begleichen, nicht aber, sich die Tiraden des Händlers über die verdorbene, ballspielende Jugend anzuhören. An manchen Stellen scheint es, als fehle ihm schlicht die Fähigkeit, gesunder Abgrenzung und Diskussionsfreude ein geeignetes, verbales Mittel zur Bewältigung seiner aufgestauten Aggressionen entgegen zu setzen. Statt wortreich zu argumentieren und Gegnern den Wind aus den Segeln zu nehmen, bleibt er mehr oder weniger stumm. Paul lässt von seiner Frau erklären, was er denn gemeint habe, wo Übergriffe seine Grenzen verletzen oder er schlägt einfach zu. Innerlich brodelt es in Paul Lohman. Seine destruktive Frustration und Ablehnung der eigenen Hilf- und Wehrlosigkeit drängt eruptiv, unerwartet plötzlich nach außen und entlädt sich mit aller verfügbaren Körperlichkeit. Jede Tat wird begleitet von jenem bereits zitierten Lachen, das seine innere Befreiung unterstreicht.

Verlorene Unschuld

Als sein Vater die Luftpumpe drohend gegenüber dem Fahrradhändler erhebt, erschreckt den Michel sein Handeln. Vorsichtig fragt er ihn, ob er wirklich hätte zuschlagen können, vielleicht aus Angst, dieser Gewalt eines Tages selbst einmal ausgesetzt zu werden und flüchtet zur Mutter. Hier wird der Leser erneut in die Irre geführt. Claire, zerbrechlich, behütend und korrekt, durch eine Krankheit zeitweise ungewollt von ihrem Sohn getrennt, wird als eine das Nest behütende Mutter skizziert. Sie ist die Retterin. Zorn, Wut und Verunsicherung haben keinen Platz. Doch Claire hat mehr als ein kleines, betrügerisches Geheimnis, liebt ihren Mann vor allem wütend und ungebändigt.

Schweigen kann aggressiv sein. Herman Kochs Erzählweise, insbesondere die gewählte Perspektive macht das für den Leser beinahe fühlbar. Geschwiegen, verdunkelt oder geschauspielert wird viel in den Reihen der Lohmanschen Familie. Selbst der angeblich integere und korrekte Maître d‘ Hotel beweist sein famoses Talent als verkappter Erpresser und verschlagener Schauspieler. Niemand bleibt unschuldig in diesem großen Theater der Eitelkeiten und Mächte.

Neben Michel sind sein Cousin Rick und dessen Stiefbruder Beau Agierende im Szenario der Gewalt. Doch sind sie nur das Ventil für etwas, das viel früher passiert. Ihre Tat, die über Videoplattformen paradoxerweise Beifallsbekundungen erfährt, führt die vier Erwachsenen an einen Tisch. Es geht um die Zukunft ihrer Kinder, darum, wie weit Elternliebe gehen darf oder muss. Sie müssen reden. Doch wirklich miteinander reden tut keiner von ihnen. Es müssen schwerwiegende Entscheidungen getroffen werden. Ein Teil des Kleeblatts, von dem man es zu Beginn des Romans am wenigstens angenommen hätte, interpretiert die Liebe zu Sohn und Neffen völlig anders als von den anderen erwartet. Das Ausscheren und die Pläne dieser Person könnten schwerwiegende Konsequenzen auf aller Leben haben. Wenn man zu diesem Zeitpunkt des Romans über das mögliche Ende nachdenkt, so gibt es eine für Kinder und Erwachsene gleichermaßen positive wie negative Variante. Doch es ist angerichtet. Und was auf den Tisch kommt, wird gegessen. Sämtliches Aufbäumen gegen warmen Ziegenkäse auf Feldsalat oder Desserts mit widerwärtigen Brombeeren hilft nicht. Fluchtversuche der Hauptdarsteller aus der verfahrenen Situation korrespondieren mit ihrem fehlenden Verantwortungsbewusstsein und scheitern aufgrund ihrer daraus erwachsenen entgleisten Lebensentwürfe. Es geht nicht gut aus. Schließlich gehen alle unter. Manche, ohne es zu merken.

Der Mensch ist sich selbst der größte Feind

Ist die Welt von Grund auf schlecht? Pauls pathologische Destruktivität wird behandelt und ein Gendefekt diagnostiziert. Ist Paul ein Sonderfall oder ist er die Regel? Die Diagnose ließe Vermutungen auf das Verhalten des Sohnes zu. Noch ein Sonderfall. Noch eine Ausnahme. Niemand kann etwas dafür. Niemand ist verantwortlich. Er gehört behandelt, ausgesondert oder eingesperrt, vielleicht – so spricht der Sohn sein eigenes Urteil – sogar gelyncht, ausgemerzt. Aber wirklich tun kann man nichts. Man trägt keine Schuld. Nein. Nein? Die Entdeckung des Fruchtwasseruntersuchungsergebnisses und seine Erläuterung durch Paul erlauben allerdings den Rückschluss, dass Michel nicht sein leiblicher Sohn ist, auch wenn er es sich selbst nicht eingesteht. Ein Gendefekt ist ausgeschlossen. Michel ist weder krank, noch dumm. Keiner der Beteiligten ist das. Er ist voll und ganz verantwortlich für das, was er getan hat, mit allen Konsequenzen. Und viele andere mit ihm.

Schließlich lässt Herman Koch niemandem beim bösen Spiel außen vor und enthüllt damit die eigentlichen Ursachen des Verfalls. Jeder Einzelne, wirklich jeder trägt Verantwortung für den Ausgang der Tragödie und ist Teil des Puzzles. Auch über die wahren Intentionen von Serge, der noch Skrupel in den Knochen zu haben scheint und der geläutert als Opferlamm zu fungieren versucht, ist man sich ob seiner geschilderten, ursprünglichen Ziele und des bisherigen Verhaltens nicht sicher. Ist auch er einfach nur ein hemmungsloser, unbarmherziger Egoist, der lediglich Angst vor einem Skandal hat? Hier offenbart sich Kochs Anklage. Sie haben alle versagt.

Insbesondere die Schilderung von Michels Kindheit und die Imitation, das Kopieren des Vaters zeigen, wie es wirklich um uns steht. Eltern, Lehrer, Vorbilder sitzen uns in den Eingeweiden. Erziehung prägt unsere Werte und unsere Fähigkeit zu echtem moralischen, nämlich respektvollem, gewissenhaftem Handeln, das nicht zwingend mit sogenannter „bürgerlicher Moral“ gleichzusetzen ist. Nicht umsonst setzen radikale und gewaltbereite Gruppen bereits in der Kindheit an. Moral nimmt uns in die Verantwortung. Sie stellt die sogenannte glückliche und damit unantastbare Familie in Frage, in der sich Paul Lohman am Ende der Geschichte zu befinden wähnt. Eine gute Erziehung beginnt in der Familie, doch sie hört dort nicht auf. Sie hat immer auch mit liebevollem Umgang zu tun. Familie und Gesellschaft, das sind mehrere, das bedeutet miteinander leben. Sie fordern die Entwicklung von Kritikfähigkeit bei uns selbst, Toleranz,  Verantwortungsübernahme für unser eigenes Leben und Respekt vor dem der anderen. Und sie fordern Mut, vor allem den zu offener, wertschätzender Kommunikation, die Freiheit erst möglich macht, die Grenzen der anderen aber respektiert. Wenn sie funktionieren. Nur zu!

Angerichtet ist Herman Kochs fünfter Roman und der erste, der ins Deutsche übersetzt wurde. Einsamkeit, Unzulänglichkeit und Scheitern sind Kernthemen seiner gesamten Arbeit. Het Diner stand 2009 sieben Wochen auf der niederländischen Bestsellerliste und der Verlag Kiepenheuer & Witsch kann sich sicher auch bei uns auf gute Absatzahlen freuen.

Ersterscheinungsdatum: 24.9.2010 auf einseitig.info

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

 

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