Harry Mulisch – Wege zum Erfolg

Der Himmelsentdecker feiert seinen Achtzigsten – dritter Teil

Best of Mulisch

Seine „Best of Harry“ startet Mulisch mit „Het zwarte licht“. Mit dem „kleinen Roman“ hat er 1956 zum ersten Mal auch kommerziell einen echten Hit gelandet, der ihn finanziell von einigen Sorgen erlöste. Onno Blom beschreibt Mulischs Umzug von Haarlem nach Amsterdam als einen von der Stadt des Vaters in die der Mutter. Für Mulisch ist der Abschied von Haarlem leicht. Für ihn hat die Stadt, trotz aller Kindheitserinnerung auch etwas Morbides. Er sei ein Stadtmensch, äußert er in der „Haagsen Post“. Leben und städtische Betriebsamkeit, zum damaligen Zeitpunkt auch die angenehme Anonymität genießt er. Er müsse sich der Angebote von Kinos, Theatern, Cafés nicht unbedingt bedienen, sagt er. Es reiche, dass er wisse, sie seien erreichbar und vorhanden. Und so lebt er seit über 40 Jahren am Leidseplein mit Genuss und Überzeugung.

In Amsterdam verbringt er den ersten Teil seiner Sturm und Drang Jahre. Im Haus des Dichters Hoornik ist er oft zu Besuch. Hier tritt er bei abendlichen, recht ausgelassenen Festen Schreiber, Musiker, Journalisten, Politiker, Schauspieler und Freunde. Zu Letzteren zählen Peter Schat, Han Lammers, Cees Nooteboom, Hans van Mierlo und Tabe Bas. Ende der siebziger Jahre wird er mit den meisten von ihnen regelmäßig einen legendären Herrenabend veranstalten, auf den sein Freund Hein Donner, ob der Unfähigkeit ihm beizuwohnen, furchtbar eifersüchtig sein wird.

Hein Donner und Harry Mulischs Freundschaft wird im Buch „Die Entdeckung des Himmels“ ein Denkmal gesetzt. Von diesem Freund, der leider viel zu früh starb, fühlte sich Mulisch unabdingbar verstanden, obwohl die Gegensätze der beiden deutlich hervortraten. Mulisch hat jedoch geäußert, dass er sehr schnell mit jemandem Ärger bekommen würde, der ihm allzu ähnlich sei. Na, einfach ist der gute Mann sicherlich nicht.

Kennen lernten sich die beiden eben da, bei Hoornik und wechselten zunächst kein Wort, wie Onno Blom zu berichten weiß. Erst einige Tage später, im von beiden geschätzten Café Americain beim Frühstück kam man sich näher. Hein Donner schreibt dazu: „ Die folgenden 24 Stunden ließen wir einander nicht mehr los. Er Tassen Kaffee trinkend und ich Bier, zogen wir von Café zu Café, redend, redend, redend. Es war, als ob ich endlich jemanden gefunden hatte, der die Dinge begriff, die niemand zu begreifen schien… Wir entwickelten einen Sprachgebrauch, der für niemanden mehr zu verstehen war. Unsere Konversation war durchzogen von Anspielungen auf vorherige Gespräche, die für Dritte – und in deren Gesellschaft waren wir meistens – vollkommen im Dunkeln lagen.“ Gelegentlich verbringt man, außer der Schlafenszeit, jede freie Minute zusammen. Es hat schon was von Verliebtheit, sagt Mulisch, ohne sexuelle Ambitionen. Und auch Donner sagt: „Ein verliebtes Paar, das all zu sehr ineinander aufgeht, weckt Irritationen, und erst recht zwei ausgewachsene Kerle, die einander in hochgeschraubter Sprache unverständliche Mitteilungen machen.“ Zwei Seelenverwandte haben sich gefunden. „De Neus en de Reus“ (Die Nase und der Riese) nennt man das Paar. Donner liest er seine Manuskripte vor und der ist äußerst kritisch, wenn es um die Machwerke seines Freundes geht, kann jedoch vor Aufregung und Spannung kaum deren Erscheinen abwarten.

Zu den Ergebnissen, die vorgelesen werden, gehört „Het stenen bruidsbed“ (Das steinerne Brautbett), das ein Thema, mit dem sich Mulisch schon geraume Zeit beschäftigt, in Form bringt. Harry Mulisch wird zu einem Kongress nach Ostdeutschland eingeladen und wird dabei mit dem zerbombten Dresden konfrontiert. Das ändert zunächst seine Meinung, seinen neuen Roman die Geschichte eines deutschen Kriegsverbrechers erzählen zu lassen. Aus dem Deutschen wird ein Amerikaner, der in die Stadt der durch ihn hervorgerufenen Zerstörung zurückkehrt. Der Roman wird einer seiner größten Erfolge und festigt seinen Ruhm in der niederländischen Literaturgeschichte. In der Januarausgabe des „Hollands Maandblad“ wird Mulisch jedoch unterstellt, „Het stenen bruidsbed“ sei ein Plagiat von Stephen Spenders „Engaged in Writing“. Selbst der Namen der Hauptpersonen habe er sich bedient.  Mulisch widerspricht und sagt: “Wenn ich ein Plagiat begehe, sind es ja wohl die Namen, die ich zuerst verändere“.

Der Eichmannprozess

Die Geschichte des deutschen Kriegsverbrechers soll er noch schreiben. Doch bleibt er vorerst dem Theater treu, dem er sogar als Schauspieler gelegentlich beiwohnte und bei dem er sich mit Kritiken in monetär spärlichen Zeiten über Wasser halten konnte. „Tanchelijn“ heißt das Stück, das er im Auftrag  der Gemeinde Amsterdam verfasst. Es ist sein erstes Theaterstück. Der Ketzer Tanchelijn ist eine historische Figur, zu der allerdings nur wenige historische Quellen verfügbar sind, also erfindet Harry Mulisch seine Geschichte. Das Stück wird im Februar 1960 uraufgeführt und ein großer Erfolg. Gerard Reve, einer in der Reihe der neuzeitlichen Heroen der Literaturgeschichte der Niederlande, trifft Mulisch bei der Uraufführung auf der Toilette und äußert, nicht besonders viel von seinem Stück zu halten. „Diesen Moment betrachte ich als jenen, in dem sich unsere Lebenslinien kreuzen“, so Mulisch in Onno Boms „Zijn Getijdenboek“. Reve hielt Mulisch für untalentiert. Der andere Rivale, Willem Frederik Hermans behauptete, sein Kollege Mulisch sei nicht in der Lage zu denken. Der Kampf zwischen diesen Schriftstellerkollegen, insbesondere mit Reve, sollte sich ein Leben lang fortziehen. Als Reve sein Buch „Taal der Liefde“ veröffentlicht und hier Mulischs Mutter und Vater verunglimpft, schreibt Mulisch „Het ironische van de Ironie. Over het geval G.K. van Reve“ und bezichtigt ihn des Rassismus. Seiner Ansicht nach ist Reve seit Mulisch den Reina Prinsen Geerligspreis überreicht bekam, eifersüchtig auf ihn. Beide haben kaum ein gutes Wort füreinander.

Der deutsche Kriegsverbrecher mit dem er sich eingehend befassen soll und der sein Leben und sein Schreiben nachdrücklich beeinflusst, ist Otto Adolf Eichmann. Er selbst macht sich auf zum „Elseviers Weekblad“ und  bietet sich als Redakteur an. Er will über diesen Prozess berichten, doch weiß er noch nicht, dass ihn die Schilderungen der Zeugen verfolgen sollen. Zum tatsächlichen Geschehen in den Konzentrationslagern war noch wenig veröffentlicht, die geschehenen Greueltaten nur schwerlich vorstellbar. Was Mulisch dann vor Gericht hört, was unter den Augen von Menschen tatsächlich geschah, ist für niemanden wirklich nachvollziehbar und schwer erträglich. Und so wird Mulisch auch persönlich, geht in Tiefen wie wohl vor und nach ihm wenige gegangen sind. Siebzehn Artikel sind es, die während des Prozesses schließlich im „Elseviers Weekblad“ erscheinen und später das Buch „De zaak 40/61“ ausmachen sollen. Für Mulisch ist es eine Geschichte die ihm nah geht. So nah wie wohl selten etwas anderes. Sein nächster Roman „De ontdekking van Moskou“ und die nächste Geschichte „De zegelbewaarders“ werden nicht erscheinen. Zu schwer tut er sich mit dem, was ihm während des Prozesses begegnet.

Die Niederländische Revolution

Sein politisches Engagement, bisher eher wenig ausgeprägt, wächst. Er wird nach Aufforderung von Hoornik Redakteur bei einer der traditionsreichsten und wichtigsten literarischen Zeitschriften der Niederlande, „De Gids“ und regt mehr politisches Engagement und Zeitbewusstsein an. Direkt vor seiner Haustür, am Leidseplein beobachtet er die ersten recht harmlosen Zusammenkünfte der Provos, die durch Happenings und linksorientierte Provokationen den Aufstand proben. Die Polizei, oftmals noch rekrutiert aus jenen Reihen der öffentlichen Macht, die im Krieg die Juden zur Deportation aus ihren Häusern holten, schlägt die Versammlungen nieder und „säubert“ die Plätze. Der Bürgermeister, eigentlich ein Widerstandskämpfer im zweiten Weltkrieg, reagiert hilflos und verteidigend, als Mulisch seine Absetzung verlangt. Über die Provos, deren Aufstand Mulisch als „wichtigste soziale Entwicklung seit dem Krieg“ betrachtet, um die Atmosphäre der Restauration zu durchbrechen, schreibt er in „Bericht aan de rattenkoning“. Mulisch engagiert sich hier und äußert seine Meinung, wo immer er kann, auch öffentlich. Als er 1966 schließlich die Möglichkeit erhält im Rahmen einer Reportage, nach Indien, Thailand und Japan zu reisen, dort mit der Armut der Menschen konfrontiert wird und auch Hiroshima besuchen kann, schließlich parallel dazu bei einem Abstecher zu seiner Mutter in den USA deren Reichtum sieht, festigt sich in ihm die Abneigung gegen die Aktionen der Amerikaner im sogenannten Geiste der Demokratie. Gemeinsam mit seinen Freunden, unter ihnen Hein Donner und Peter Schad geht er mehrfach auf die Straße gegen den Vietnamkrieg.

Noch einmal wird er eingeladen, als Berichterstatter in ein Land zu reisen. Diesmal soll es Kuba sein. Bis zu diesem Zeitpunkt tut sich Harry Mulisch mit der Schreiberei schwer. Immer noch lastet die Erfahrung des Eichmannprozesses auf ihm. Kuba wird für ihn die Befreiung sein, denn hier erlebt er, dass man sich zum ersten Mal nicht ökonomischen Prinzipien beugt, sondern anthropologischen den Vorrang gibt. Über seine Begegnungen und die Revolution in Kuba schreibt er „Het woord bij de daad“. Er fühlt sich „unter Freunden“, egal wo er auch hinkommt. Dreimal bereist er das Land und besucht öffentliche Einrichtungen, Kaffeeplantagen und Bauernhöfe und ist fest von der Idee dieser Art des Kommunismus überzeugt. Alles schien sich dort zum Besseren zu wenden. Castro, dem er schließlich begegnet, fasziniert ihn. Zurück in den Niederlanden gründet er gemeinsam mit Peter Schat und Hein Donner das Komitee zur Solidarität mit Kuba. In Amsterdam, Berlin und Paris gingen die Studenten auf die Straße, die 68ger-Revolution nahm ihren Lauf. Mulisch sieht hier seine Rolle nicht als Wortführer und anheizender Revolutionär, wie sein Rückzug im Rahmen einer Veranstaltung beweist. Er sei Schriftsteller. Es sei Krieg, seine Kollegen schrieben Romane, das täte er jetzt nicht. Es sei anderes zu tun, äußert er in Vrij Nederland.

Doch kommt es sogar zu einer Oper, die er gemeinsam mit Hugo Claus und den Komponisten Louis Andriessen, Misja Mengelberg, Reinbert de Leeuw, Peter Schat und Jan van Vlijmen erstellt. Der Titel: „Reconstructie“. Auch hier geht es um Kuba und die Rolle der USA. Herbert von Karajan, der bei einer der Aufführungen dabei ist, äußert, er habe während der gesamten Zeit auf Musik gewartet.

In dieser Zeit geht es auf den Theaterbühnen hoch her. In seinem Buch „Das Theater, der Brief und die Wahrheit“ werden einige Szenen  der damaligen Wirklichkeit verarbeitet.

In der Zeit der „Niederländischen Revolution“ schreibt Mulisch in der Tat nicht einen Roman. Erst Anfang der siebziger Jahre treibt es ihn wieder zum Erzählen und so heißt dann auch sein Buch „De verteller“ (Der Ezähler). Es fällt bei der Kritik durch. Mulisch fühlt sich missverstanden und lässt diesem Buch „De verteller verteld“ (Der Erzähler erzählt), ein Entstehungs- und Erläuterungsbuch folgen. Wenn ihn schon keiner verstand, dann musste man eben etwas nachhelfen. Hein Donner veröffentlicht im gleichen Jahr „Mulisch, naar ik veronderstel“, ein Buch über den Freund und dessen Werk. Es ist für Hein Donner der Beginn seiner Karriere als Schreiber. Der Mann, der 1954, 1957 und 1958 die Niederländische Schachmeisterschaft gewann, und hinter dem Exmeister Max Euwe zwanzig Jahre als zweitbester Spieler des Landes galt, das Land bis 1978 bei 12 Schacholympiaden vertrat, stellt Schachspielen von nun an die zweite Stelle.

Familienbande

Seine Tochter, die er gemeinsam mit seiner Freundin Sjoerdje Woudenberg in die Welt setzt, nennt er nach Anna Freud. Drei Monate nach ihrer Geburt heiraten Sjoerdje und er. Obwohl beide inzwischen den heimischen Herd inzwischen nicht mehr miteinander teilen und längst andere Partner an ihrer Seite wissen, bleibt man gut Freund. Kinder wollte Mulisch eigentlich nie haben, da sie ihn in der Art seines Schreibens beeinflussen könnten, meinte er. Er ist vierundvierzig, als Anna zur Welt kommt.

1974 wird er zum zweiten Mal Vater einer Tochter mit Namen Frieda. Während eines Urlaubs in Italien schreibt er das Buch „Twee vrouwen“ (Zwei Frauen). Die Szene des Kennenlernens zwischen den beiden Hauptdarstellerinnen entlehnt er der ersten Begegnung mit seiner Frau Sjoerdje, die er ebenfalls ansprach, als diese vor einem Schaufenster die Etalage betrachtete.

Das Buch wird verfilmt und hat auf dem Filmfestival in Cannes Premiere. Die Hauptrollen sind mit Anthony Perkins, Sandra Dumas und Bibi Andersson prominent besetzt.

Wegen eines fehlenden Schulabschlusses wird Mulisch, trotz des Wunsches Philosophie zu studieren, von keiner Universität angenommen. Doch seiner Ambition, „was die Welt im Innersten zusammenhält“ zu ergründen, will er dennoch nachkommen und veröffentlicht ein umfangreiches philosophisches Werk mit dem Titel „De compositie van de wereld“. Hochwissenschaftlich zur Tat zu schreiten, das will er schon, ist sich aber zugleich bewusst, dass man ihn möglicherweise für einen Scharlatan hält und das Werk, das in Form und Inhalt aus seinem Oeuvre ausbricht, für misslungen hält. Doch er will und muss es tun, um einen alten Traum zu verwirklichen und einem tiefen Verlangen nachzukommen. Wie bei vielen seiner Werke befreit er sich damit von etwas, lässt es sterben und zur Ruhe kommen.

Was er schon erwartet hat, geschieht: Das Buch wird verrissen, doch findet es dennoch seine Leser und Mulisch seine Ruhe.

Erfolg

Eines seiner erfolgreichsten und meist übersetzten Bücher „De Aanslag“ (Das Attentat), verfilmt durch Fons Rademaker, erscheint in den 80ger Jahren und skizziert den Anschlag auf einen Nazikollaborateur, der von Widerstandskämpfern erschossen wird. Eine unschuldige, bürgerliche Familie hat anschließend unter der Rache der deutschen Besetzer zu leiden. Einziger Überlebende ist der zwölfjährige Anton, der die Vergangenheit wieder aufrollt und dessen gesamte Lebensgeschichte von diesem Ereignis beeinflusst wird. Fons Rademaker erhält 1987 den Oskar für den besten ausländischen Film. Seinen Einsatz gegen Cruise Missile Raketen und viele andere historische Begegebenheiten finden in diesem Roman Platz. So auch auch der Ruf nach der Freilassung der drei Kriegsverbrecher von Breda. Onno Blom schreibt: „Ruud Lubber, der als das Buch „Das Attentat“ erschien, Premierminister war, hat später, als Mulischs siebzigster Geburtstag gefeiert wurde, Helmut Kohl, dem deutschen Bundeskanzler, das Buch zum Geschenk gemacht, um ihm zu zeigen, wie die Gefühle der Niederländer bezüglich der Freilassung der Drei von Breda aussahen. Kohl hatte Lubbers jedes Jahr einen Standardbrief geschrieben und um die Freilassung der drei gebeten. Nachdem Lubbers ihm „Das Attentat“ geschickt hatte, mit der Bitte das Buch gut zu lesen, sandte ihm Kohl nie mehr einen solchen Brief.“ Die historischen Fakten recherchiert Mulisch für dieses Buch gut. Der Ort des Anschlags ist jedoch nicht real und doch pilgern nach Erscheinen des Buches viele Leser zur Zonnekade nach Haarlem.

Im Oktober 1985 erscheint der Theaterroman „Hoogste Tijd“ (Höchste Zeit). Die Hauptrolle hat Willem Bouwmester genannt Uli, ein Schauspieler, der unter der Regie von Paul Musch in dem Stück „Unwetter“ mitspielen soll. Bis auf Uli treten alle Schauspieler auch mit ihren tatsächlichen Namen auf. Wirklichkeit und Fiktion – Leben und Bühne – vermischen sich… „Hoogste tijd“ wird von Frans Weisz verfilmt. Das Theater ist Mulisch vertraut. Diverse Stücke stammen aus seiner Feder und gemeinsam mit u.a. Hugo Claus und Cees Nooteboom hatte er in den 70ern  „Het Auteurstheater“ (Das Autorentheater) – eine Amsterdamer Theatergesellschaft – gegründet. Jedoch haben deren Ambitionen, die offizielle Theaterszene Amsterdams zu verändern, wenig Erfolg. Die Titel der von Mulisch veröffentlichten Theaterstücke: “Oidipous Oidipous“, „Axel“, „Bezoeksuur“, „Tanchelijn“, „Volk en vaderlandliefde“ und „Axel“. „Hoogste tijd“ profitiert von Mulischs Kenntnissen aus dem Theatermilieu.

In „De pupil“, dem „kleinen Roman“, der 1987 in die Buchläden kommt, beschreibt der Meister sich selbst. Fiktion und Wirklichkeit geben sich auch hier wieder die Klinke in die Hand. In „De elementen“, einem Roman der ein Jahr später erscheint, sind die vier Elemente, Feuer, Luft, Wasser und Erde die Hauptakteure.

Dann stirbt sein Freund Hein Donner. Er war zuvor wegen eines schweren Herzanfalles in einem Pflegeheim untergekommen. Selbst im Krankenhaus hatte der inzwischen schwer Gehandicapte noch Artikel über seinen Freund geschrieben.

Zwei Jahre später, 1990 beginnt Harry Mulisch mit der Arbeit an „De ontdekking van de hemel“ (Die Entdeckung des Himmels), das er zwei Jahre später, pünktlich zu seinem 65. Geburtstag fertig stellen soll und lernt seine zukünftige Lebensgefährtin Kitty Saal in Paris kennen. „De ontdekking van de hemel“ umfasst all das und all jene, mit denen er sich während seines bisherigen Lebens beschäftigt hat. „De apotheose von Harry Mulisch als Romanschreiber“, nennt Aad Nuis das Werk. Die Verweise auf Mulischs Leben sind mannigfaltig und veranlassen Frans de Rover „Harry Mulisch ontdekt“ zu schreiben.

Im Erscheinungsjahr dieses wichtigen Buches, das zu seinem allergrößten Erfolg werden soll, wird auch sein Sohn Menzo geboren. In „De ontdekking van de hemel“ entzaubert die Menschheit mit der Technik Gott und wird von ihm verlassen. Doch geht es auch um eine außergewöhnliche Männerfreundschaft, Lebenslinien durch die Zeit und ein seltsames Kind.

1998 wird Jeroen Krabbé das Buch verfilmen. Allein den Hauptdarsteller wünscht sich Mulisch auszusuchen. Stephen Fry ist für ihn Onno Quist und hat verblüffende Ähnlichkeit mit Hein Donner.

„Zielespiegel“ – Seelenspiegel heißt die Ausstellung, die Mulisch 1997 im Auftrag des Stedelijk Museum Amsterdam ausrichten darf. Zwölf Säle sollen nicht die Kunst, sondern ihn als Ausgangspunkt nehmen. „Die Ausstellung sollte ein unverwechselbares, psychisches Selbstporträt werden“. Und so wählt er ganz subjektiv die Kunstwerke aus und endet mit einem Brief an Vincent van Gogh, dem er schriftstellerische Qualitäten zuerkennt.

Sein neuer Roman „De Procedure“ (Die Prozedur) bewegt sich thematisch im Bereich der Wissenschaft. Die Fortschritte im Bereiche der Genetik sind Anlass für Mulischs Ansatz, seine Hauptfigur Victor Werker tote Materie zum Leben erwecken und in diesem Projekt seinen Untergang finden zu lassen.

Mit dem Buch „Het theater, de brief en de waarheid“ sorgt Mulisch im Jahr 2000 nochmal für einen Skandal. Das Buch basiert auf einer tatsächlichen Begebenheit, nach der der Schauspieler Jules Croiset, Sohn jüdischer Eltern, nach Aufführung des von vielen als antisemitisch betrachteten Stückes „Het vuil, de stad en de dood“ von Rainer Werner Fassbinder Drohbriefe an sich und andere geschickt hatte und seine eigene Entführung inszenierte. Sein Ziel, die Aufmerksamkeit auf neonazistische Tendenzen im Land zu lenken. Croisets Tat wurde aufgedeckt und das Gegenteil von dem erreicht, was er eigentlich wollte. Croiset stellte Mulisch allerlei Material aus der Zeit zur Verfügung. Mulisch ist in der Tat der Ansicht, dass es sich bei dem Fassbinderstück um eine Entgleisung der bittersten Sorte handelt. „Het theater, de brief en die waarheid“ wird sowohl aus der Perspektive des Betrügers als auch aus der der Frau skizziert. Freek de Jonge, damaliges Opfer der Briefe von Croiset las das Buch und kündigte wutentbrannt an, das Buch zum Bücherball zu verbrennen, sollte Mulisch Ehrengast sein.

Während er an „De Procedure“ schreibt, entsteht bereits die Idee zu seinem Buch „Siegfried“. Ein Buch, das viele den Atem anhalten lässt, denn es beschreibt die Begegnung des Schriftstellers Rudolf Herter mit dem Ehepaar Falk, das ihm von einem Geheimnis um Hitler berichtet. Herter, der Hitler zu begreifen versucht, erfährt von ihnen, dass dieser einen Sohn namens Siegfried hatte, den er schließlich ermorden ließ. Hitler, so kommt Mulisch in diesem Buch zum Schluss, war das Nichts, die pure Negativität, das inkarnierte absolute Böse. Jessica Durlacher sagt dazu: „Das Buch Siegfried ist eine Form von Leichtsinnigkeit, weil es mit dem Mysterium in einem wilden Experiment spielt. Es ist die Leichtsinnigkeit der Fiktion, die qualita qua ein Spiel ist. Und, nicht einmal so überraschend: das Meisterliche dieses Buches verbirgt sich vielleicht sogar in dessen Schwäche – denn diese vermeintliche Enthüllung des Mysteriums vom Allerwirklichsten der Wirklichkeiten bringt uns wieder von selbst zurück. Wer Hitler war, ist uns nach der Lektüre von Siegfried noch weniger klar als zuvor. Das Mysterium Hitler, umzingelt und eingeschlossen in „De zaak 40/61“, ist zurück in vollem Ornat. Eine grausige Un-Erscheinung, und eine Aufforderung an die folgenden Generationen: Beschreibt mich, begreift mich, wenn ihr Euch traut. Mich gab es wirklich.“

Nicht wegschauen verlangt Mulischs Buch, sondern hinzuschauen und zu sehen, wie abscheulich, skrupellos und wirklich Hitler war.

Ob Mulisch uns mit einem weiteren Erfolgsroman überraschen wird, man wird sehen. Es bleiben ihm nach eigener Aussage noch mindestens acht weitere Jahre. Folgt man seiner Zahlenmanie, dürften wir wenigstens zum 85 Geburtstag noch mit einer Veröffentlichung rechnen, oder?

Literaturempfehlung und Quellen:

HP, De Tijd, Harry Mulisch, Het bijzondere leven van een fenomeen, 2007

Boek, Weet wat je leest, Harry Mulisch – God wordt 80!,  Juli/Augustus 2007

Harry Mulisch, Mijn getijdenboek, 1975

Harry Mulisch, Onno Blom, Mijn getijdenboek, zijn getijdenboek, 2002

Harry Mulisch, Selbstporträt mit Turban, Rowohlt, 1997

Harry Mulisch, De toekomst van gisteren, 1972

Knack, August 2007

Jori Boom, Sander Pleij, De beijenkoning, De Groene Amsterdamer 1997

Propria Cures, Bestrijd het leed dat Mulisch heet, 2007

Mulisch toegesproken, 2002

Hans Dütting, Over Harry Mulisch, Kritisch nabeeld, 1982

Für eine umfassende Bibliografie seines Werkes:

www.harrymulisch.com

Offizielle Website:

www.mulisch.nl

Ersterscheinungsdatum: 19.08.2007 auf einseitig.info

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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