Le Grand Bordel oder das große Durcheinander

Eigentlich soll es nur ein Kochbuch sein

Le Grand BordelPicasso bekommt sein Fett weg, eine richtig große Portion und Inès kocht derweil unerschütterlich mit und ohne, je nachdem, was die Zeiten gerade hergeben. Und da gibt es zwei Köche, die eigentlich keine sind und dennoch leidenschaftlich kochen. Sie fühlen sich nicht berufen und tragen keine weißen Krönchen oder Ehrennadeln am Revers und mit Kniefällen vorm Kochtopf oder noch vor der eigenen Person durch andere haben sie es auch nicht so. Es soll halt lecker sein, die Leute freuen und vor allem sie selbst. Sie hatten genug von Kämpfen für „Leute, die unbedingt Recht haben“ wollten – der eine ist Jurist – und genug vom „Völkchen von in aller Regel narzisstisch etwas versehrten darstellenden Künstlern“- der andere Tänzer, Schauspieler und Sänger, wie Judith Stoletzky es im Text zu „Le Grand Bordel“ so schön beschreibt. Stephan Hippe und Boris Krivec werden zunächst einander und dann Südfrankreich lieben. An der Côte d’Azur lernen Sie Nicolas Polverino kennen, der nach einem bewegten Leben den Rest desselben dem Essen und der Gastronomie widmet und Stephan einen Praktikumsplatz in seiner Küche anbietet. Die Freundschaft ist tief, die Geschichten rund um alle beteiligten Personen spannend. Von ihnen weiß Judith Stoletzky episch breit, vor allem aber sehr unterhaltsam zu erzählen, bevor es zur Gründung der „Brasserie La Provence“ in Hamburg Ottensen kommt und dazu, was es dort überhaupt zu essen gibt. In ihrer Küchengeschichte wird Sartres Ofenrohr verstopft, spielen Polverinos Dandy und sind Mafiosi, es wird geliebt, entliebt und verliebt. André Aron verfilmt Drehbücher von Antoine de Saint-Exupéry und wird vor den Nazis gerettet. Die Kochbibel von Artusis, „La szienzia in cucina e l’arte di mangiar bene“ wird angeblich bis ins Details von einem Verbrecher nachgekocht und Escoffiers „Guide Culinaire“ weist Einschusslöcher des Kalibers 7,92 auf. Es wird viel Französisch gesprochen, vor allem aber gekocht und das gut. Nur Picasso isst nichts und hat keine Ahnung. Auch wenn ein Kapitel „Pablo a faim – Pablo hat Kohldampf“ heißt. Aber er hat trotzdem keine Ahnung vom Essen. Höchstens davon, wie man es malt. Pablo, der größenwahnsinnige Frauenheld, Misanthrop und Macho hat trotzdem eine der besten und geduldigsten Köchinnen im Haus. Immer noch, auch nach fast 50 Jahren. Immer und ewig: Inès. Picassos Bilder transportiert Nicolas Polverino, eine unserer Hauptpersonen, von einem Wohnsitz des berühmten Egomanen zum anderen. Einfach so, weil er mit Inès verwandt ist. Ohne großes Aufsehen, aber samt einer riesigen Ladung Proviant, der dazu verführt, die Reise gleich ein zweites Mal zu machen. Irgendwie dreht sich alles irgendwo und immer wieder um Essen. Denn darum geht es eigentlich auch. Mindestens zwischen den Zeilen, aber meistens auch darin.

Mein T-Shirt ist blau-weiß gestreift, mein Beinkleid eine Jeans, die Sonnenbrille schwarz, im Chanel-Stil, genauso wie meine Haare und der Lippenstift knallrot, als ich diesen Text in einem Café bei Earl Grey und Blaubeer-Wölkchen schreibe. Das passt zum Kapitel über den Glamour Hollywoods an der Côte d’Azur, in dem auch Cary Grant vorkommt, oder war’s im nächsten? Wäre ich ein Mann, ich hätte gerne ausgesehen wie er. Und den Badeanzug von Grace Kelly hätte ich auch getragen, aber wahrscheinlich eher ausgesehen wie Jane Russell in der Orangenplantage. Wie gerne auch hätte ich diese tarte Tatin gegessen, die der Fotograf Gert George auf dem Bild „The light! The blue! The tarte Tatin of the Weinbergpfirsich! The Lovely Liegestuhl! The Hollywood diva will never, never go nach Hollywood zurück“ ablichtet. Das Tässchen Tee dazu, Füße in die Sonne und Blick aufs Meer! Göttlich! Orangenplantage hin oder her. Hier, auf diesem einen hübschen Foto unter einigen hübschen Fotos in „Le Grand Bordel“ ist es Charles Heidsieck, der das passende Getränk fürs Fotosetting liefert. Passt wohl auch eher zu Glamour, Cannes und Nizza. Im Kapitel geht es um die Filmindustrie, die in Frankreich Ende des Ersten Weltkriegs eine große Rolle spielt. Hemingway, T.S. Eliot, F.Scott Fitzgerald frühstücken und essen halbe Hummer. Der zweite Weltkrieg steht vor der Tür, es geht um französische, amerikanische Filme und um Bikinis. Mein gestreiftes T-Shirt oder ein Fischerhemd erscheint übrigens auf Harper’s Bazaar und Julia Child, ihres Zeichens Fernsehköchin bringt den Amis französische Küche bei. Die Warner Brothers drehen Filme an der Riviera und fürwahr…. Frau Stoletzky weiß das noch weit anschaulicher und sehr humorvoll zu schildern. Nicolas Polverino kennt die Stories rund um Warner und Co, hält sich aber zurück und erzählt der Judith nicht mehr, was sie enttäuscht. Doch sie denkt sich ihr Teil und findet Fotos!

Im nächsten Kapitel werden wir Jeanne Polverino vorgestellt, die ihr unerhörtes Temperament unter Beweis stellt und so gar keinen Respekt vor Herzoginnen hat, auch wenn Christian Dior, seines Zeichens ihr Arbeitgeber, sie an eben jene von Windsor, Mrs. Wallis Simpson ausleiht und ihn verlangt. Das Foto, das dieses Kapitel begleitet, macht großen Malern alle Ehre, auch ohne Brioche. Ich bekomme Hunger. Nein, Appetit. Aber wie! Und ich habe großen Respekt vor der Leistung von Autorin und Fotograf. Dass Jeanne keinen vor der Frau von Windsor hat, ist nachvollziehbar. Was soll man von einer Frau halten, die ihre Figur dem Kleid anpasst und nicht umgekehrt? Von Genusstalent keine Spur. Und so lässt sich aus „Le Grand Bordel“ zitieren: „Die magere (!!) Wallis Simpson trug Konfektionsgröße 32, denn Konfekt ließ sie stets links liegen. Magret au canard und boeuf à la Roger Vergé dummerweise auch“. Und jetzt hätte ich gerne auch eine dicke Scheibe Landpastete auf einer doppelt so dicken Scheibe Landbrot. Danke Judith. Das sehr kleine Schwarze geht jetzt nicht mehr.

Und dann kommt ein Opa auf den Plan. Der von Küchenchef Stephan Hippe. Er hat ungeheures Talent für „Le Grand Bordel“, eine Leidenschaft für rassige Frauen, Autos und Frankreich und teilt zumindest eine der dreien mit seiner Tochter, Stephans Mutter. Stephan selbst erbt vom Opa die Akkuratesse in Sachen Finanzen. Sie ist diesem eigen, nachdem er im ersten Anlauf einen Bankrott hinlegt und das nicht noch einmal erleben will. Gut für die „Brasserie La Provence“! Der Opa ist auch schuld, dass Stephan und Boris auf ihre erste Reise in die Provence aufbrechen, denn sie tun es in einem der von ihm geerbten Autos.

Nicolas Polverino steht Dior Modell, der an ihm Hemdsärmel fürs Schulhemd probiert. Seine Mutter Jeanne ist nach wie vor seine Köchin. Christiane isst im Gegensatz zu Picasso gern und versteckt, da ihm Leckereien bei angeschlagener Gesundheit nicht erlaubt sind, kleine Sünden vor Madame Zehnacker. Er kocht sogar begeistert und kann sich einen Ausflug ins Gastgewerbe vorstellen. Judith beschreibt Diors Suche nach der verlorenen Zeit und seinen kometenhaften Aufstieg in die elegante Modewelt, spricht von Likörchen, Dior-Schürzchen und einem Kochgelage gegen das Unglück, nicht nur mit oeufs pochés Pompadour und fromage brillat savarin. Kein Wunder, dass Dior stirbt, als er Diät halten muss und nur schuldbewusst die Henkersmahlzeit genießen darf.

Und schon sind wir da, an der grauen Küste Hamburgs, der Stephan und Boris plötzlich etwas verschaffen, das wir wohl mit südländischem Gemüt und vergnügtem Genuss umschreiben können. Das Restaurant wird blutrot gestrichen – warum das beinahe eine Verbrechen ist, wird hier nicht verraten – die Geburt der „Brasserie La Provence“ schon im Werden von kulinarischen Hochgenüssen und die um es rankenden Geschichten und der darin befindlichen Lebenslust begleitet und Frankreich in Herz und Form in den Norden Deutschlands transportiert. Von Deutschen Französisches! Viele Stimmen raunen „Wenn das mal gut geht!“ Und Judith Stoletzky schreibt schon wieder treffend zum ersten Konzept: „Kleiner Raum, kleine Mannschaft, kleine Karte, kleine Tische, großes bonjour, viele Küchenklassiker, keine Tischdecken, keine Kleiderordnung, kein chichi, aber Chansons!“ Es geht nicht auf, denn kreatives Chaos und überschwängliche Herzlichkeit sind den Hanseaten suspekt. Das Paar wird mutiger. Le Chef singt dazu, das kann er, wie wir wissen und lädt auch andere dazu ein, sich künstlerisch zu betätigen. Der Jurist wirft rheinische Frohnatur mit in den Topf und gemeinsam überlistet man mit Energie und Verve die Hanseaten und gewinnt ihr Herz und vor allem ihren Magen. Warum Steaks in der „Brasserie La Provence“ mit Scherben gegessen werden, lese man bitte selbst. Es lohnt sich allemal!

>Wer bis hierhin gekommen ist, hat wahrscheinlich schon längst die Schürze um, auch wenn sie nicht von Dior daselbst geschneidert wurde und freut sich beim mise en place auf die Tat. „Lassen Sie sich also bei Tisch ein wenig bewundern, auch dafür, dass Sie nicht den ganzen Abend in der Küche verschwunden waren,“ darf Le Chef zitiert werden. Er bringt einem bei, ein Bouquet garni zu binden, Fonds herzustellen und Saucen ordentlich zu binden, Blätter-, Mürbe- und Hefeteig vorzubereiten und – für alle die jetzt gähnen – wundervolle Gerichte zu kochen. Alle Rezepte sind aufgeteilt in mise en place, réalisation und présentation. Nichts ist in Stein gemeißelt, Kreativität gewünscht und mit Gerichten wie Confit de lapin à la moutarde – Confierte Kaninchenkeule mit leichter Thymian-Senf-Sauce, Pavé au chocolat avec crème anglaise – Schokoladenkuchen mit englischer Creme oder Tarte au chèvre frais avec confiture – Tarte mit Ziegenfrischkäse und Konfitüre, mit Sünden wie Crème brûlée à lavende – gebrannte Vanillecreme mit Lavendel, Urlaubsstimmungen wie Scampi au four „à la Boris“ – Scampi aus dem Ofen „à la Boris“ und meiner Tarte tatin de pêches de vigne – Kopfüber gebackene Tarte mit Weinbergpfirsichen lässt sich kulinarische Verführung lernen.

Wer nicht selber machen will, fährt hin, nach Hamburg und lässt machen. Die Idee zum Kochbuch, geboren in einer Weinlaune, ist eine grandiose und sie bereichert hoffentlich nicht nur mein Regal und meine Töpfe. Ich sage „Danke“, Messieurs! Danke sagen die Macher dieses genial schönen Kochgeschichtenbuchs auch, wem, kann man auf den letzten Seiten nachlesen und etwas über fotogene Stallhasen und königliche Eselsdamen erfahren. Und auch da wird natürlich eines immer noch: Gegessen.

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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