Der Geschmack der Kindheit
Maries Teller
Ich habe einen Geschmack auf der Zunge, wenn ich an meine Kindheit denke, vor allem aber einen ganz besonderen Duft in der Nase. Sie befanden sich im Kofferraum des VW Käfers, in den man von der Rückbank hineinschauen und –greifen konnte. Das Auto hatte dieses legendäre, zweiteilige Minirückfenster, war schwarz, knatterte wie ein Weltmeister und rauchte wie Onkel Josef in seinen besten Zeiten. Rote Ledersitze klebten im Sommer an den besöckchenten Beinen und es kam mir unendlich groß vor. Dieses Gebäck roch einfach göttlich und ich freute mir Löcher in den Bauch, wenn der Ausflug in die große Stadt anstand. Denn dort gab es sie: Echte Brötchen! Meine Mutter erwarb sie in der Lebensmittelabteilung des Horten-Kaufhauses. Sie befanden sich zu sechst in roten Netzen und mussten aus einem Aromagefäß befreit werden. Das ganze Auto schwebte in einer Wolke aus Brot, wenn’s heim ging und mir lief regelmäßig das Wasser im Mund zusammen. Eigentlich buk unser Dorfbäcker um Längen besser und bei den geliebten Semmeln handelte es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um Industriebackwaren übelster Art. Doch sie waren eben die ganz große Ausnahme, das kulinarische Abenteuer für kleine Mädchen wie mich. Sie konnten nur noch vom Russenei oder der Bockwurst mit Kartoffelsalat und dem Erdbeer-Vanille-Eis im hochgelegenen Horten-Restaurant mit Ausblick über die Stadt überboten werden. Oder von Heringssalat, der ebenfalls den Titel „Seltenheit auf Maries Teller“ verdiente und damals noch vor Hering und nicht vor Roter Beete strotzte. Die Sitzbänke im Hortenrestaurant waren weich, kunstledern und knallorange, das Eis das allercremigste auf dem Globus.
Kenk – ein anderes Wort für zärtlich
Beim Dorfbäcker gab es eine Sorte Sauerteigbrot mit dicker Kruste, Landbrot genannt, saftigen Stuten und grobes Schwarzbrot und die besten „Teilchen“, also Apfeltaschen, Puddingteilchen, Streuselschnitte, Rosinenschnecken und Nussecken, der Welt. Aber Bäcker Koenen kam nur ein einziges Mal pro Woche mit seinem gelben Büschen, hupte die Nachbarschaft zusammen und verkaufte, was meine Großmutter auf Vorrat erwarb. Die Teilchen waren für uns Kinder gedacht und ebenfalls nicht die Regel. Oma rief mich zum Wagen und stellte die eine verlockende Frage. Ich ließ mich immer gern verführen und so lautete die Antwort auf „willssen Teilschen, Kenk?“, immer und ausnahmslos „Ja“. Sie war also eigentlich vollkommen überflüssig, doch wurde sie nach dem Signal des Wagens immer sehnlich erwartet und von mir fast wie eine liebevolle Umarmung empfunden. „Kenk“ war übrigens kein Spitzname, sondern heißt übersetzt „Kind“. Der Begriff war samt zärtlichem Unterton multiple verwendbar und traf vor allem in der Kirschenzeit auch gelegentlich Nachbarskinder, die eigentlich Wolfgang, Friedhelm oder Helmut hießen. Die wurden mit Obstkörben für zu Hause versorgt oder durften sich an den Früchten direkt vom Baum gütlich tun.
Meine Wahl fiel entweder auf Schnecken oder Nussecken. Die Schnecken enthielten Marzipan, sehr viel Marzipan und ließen sich auseinanderwickeln. Das galt mir als besonders spannend. Meine Mutter trieb meine Obduktion des Gebäcks zur Weißglut. Ihre Abscheu brachte mich allerdings kaum aus der Ruhe. Dazu war der Genuss einfach zu fundamental. Die äußeren Rosinen schmeckten kross und leicht bitter, die im Innern des Backwerks weich und süß. Der Zuckerguss knackte geräuschvoll beim Hineinbeißen und wurde manchmal Opfer kleiner, neidischer Langfinger, denen die Schnecke als Ganzes rigoros durch mich, begleitet von einem entrüsteten „Männo“, entzogen wurde.
Wurzeln schlagen
Unsere Küche war riesig und an ihrem Kopfende befand sich ein großer Holz- und Kohleofen, auf dem in meiner Erinnerung zu jeder Tages- und Nachtzeit ein gusseiserner Wasserkessel einen festen Platz hatte. Der Ofen wurde erst spät durch eine Elektroversion ergänzt. Er verschwand schließlich ganz. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mir bestimmt schon ein Dutzend Mal die Finger an ihm verbrannt und unzählige Eimer an Kohlen und Holz aus dem Schuppen in die Küche befördert. Am anderen Ende der Küche stand ein großer Tisch, an dem alle Mahlzeiten eingenommen wurden. Nur an Sonn- und Feiertagen traf man sich zum Essen im Wohnzimmer. Zentrum des täglichen Lebens blieb die Küche. Hier wurde mein Gemeinschafts-, mein Geruchs- und mein Geschmackssinn geprägt. Hier konnte das auch mir eigene Kommunikationsgen anschaulich unter Beweis gestellt werden. Man versammelte sich dort nicht nur zum Essen, hier saß man zum Nähen, Stricken, Häkeln und um mit den Nachbarn zu konferieren. Auf dem Küchentisch wurden die Kinder gewickelt und an ihm Skat gespielt.
Die Haustür stand immer offen.Wer zu Besuch kam, suchte in der Küche. Man klopfte an den Türrahmen und kündigte sich an. „Marieeeeesche,“ „A(n)gnes“,„Jüpp“ oder „Ho(r)chs(t)“ lautete die Begrüßung, die das Umdrehen oder Hochblicken meiner Oma, meiner Mutter, meines Onkels oder meines Vaters und ihr „ooooooch, kick ens aaan“ – „ach, schau mal an“, auslösten. Alternativ konnte ein „Gunnntach“ – „Guten Tag“ – erklingen und ein „ Wä hammer denn do“ – „wen haben wir denn da?“ Wir Kinder spürten Hände auf den Köpfen, durften unsere artig zum Gruß hinhalten und hörten gebannt zu, was es neues im Dorf oder dem Umland gab. Schlüssel existierten, aber man benutzte sie nur, wenn niemand daheim war. Gäste bekamen selbstredend einen Kaffee oder irgendetwas anderes, eben „jet ze drenke“ – „etwas zu trinken“. Und sie waren häufig. Es gab immer Gesprächsbedarf und –stoff, denn mindestens das Wetter wechselte oder tat es eben ums Verrecken nicht. Wenn Donnerstag und der Bäcker gerade da war, kam es sogar vor, dass mitten in der Woche Kuchen serviert wurde. Die tägliche Arbeit war hart, doch man hatte Zeit. Immer. Niemand störte beim Essen, denn das taten alle um 12 Uhr mittags. Und wenn gerade etwas anderes zu tun war, dann nahm der Besuch Platz, während man nähte oder die Kinder auf den Topf setzte.
Lovefood – that’s Brathering
An einem Abend im Herbst saß unsere sechsköpfige Familie, samt Tante Lenna, einer redefreudigen Dame aus der Nachbarschaft, an unserem Küchentisch, als es zu einen Stromausfall kam. Das geschah durchaus häufiger, denn die Leitungen waren an Holzmasten befestigt und konnten bei heftigen Wettern reißen. Die Männer sprachen in solchen Fällen vom notwendigen Einsatz der Feuerwehr und nannten Namen, wahrscheinlich von elektrisch versiertem Personal, dass den alten Zustand wieder herzustellen in der Lage war. Dieser Abend wurde einer der schönsten meiner Kindheit und verbindet den Geschmack und Duft von Brathering für mich bis heute unweigerlich mit Sturm und Regen und Candle light dinnern. Wer hätte gedacht, dass Brathering auf der Basis von Kindheitserfahrung zum Inbegriff purer Verführung werden kann? Ohne die Zutat eines guten und unterhaltsamen Erzählers kann mich allerdings auch der schönste Fisch nicht überzeugen, denn….
Bis zu jenem Stromausfall saßen wir alle beim Abendbrot. Die Tante war just vor Nässe triefend und lärmend dazu gestoßen. Dann wurde es urplötzlich stockdunkel. Obwohl derartiges gewohnt, erschraken wir. Schließlich wurden routiniert Kerzen besorgt. Die Küche erstrahlte in einem warmen Licht, das die Atmosphäre für mich damals fühlbar veränderte. Alles war still, wie unter Spannung, bis die Stumpen brannten… Highlevelaufmerksamkeitsmodus und Gänsehautgefühl bei uns Kindern. Man rückte enger zusammen. Meine Großmutter öffnete die legendären beiden großen Gläser mit Bratheringen und schmierte uns Kindern die Brote. Meine Mutter versorgte Tante Lenna mit Trocknendem, einem warmen Pfefferminztee aus der blauweißen Teekanne vom Tisch, der bald darauf von Steinhäger ersetzt wurde. Dann verloren sich die Erwachsenen zunächst in Berichten über vergangene Stromausfälle, die in den schönsten Erzählabend übergingen, den ich je erlebt habe. Abwechselnd übertrumpften sich die Anwesenden mit Geschichten aus der Vergangenheit der Familien des Dorfes, bei denen die neugierigen Fragen von uns Kindern inspirierend zu wirken schienen. Es wurde gelacht, gegessen, geschwatzt und gesungen, während es draußen stürmte und toste. Man wischte sich die Münder, trank und der Strom kam einfach nicht zurück. Sie erzählten so lange, bis uns die Augen zufielen. Selten habe ich mich so geborgen, aufgehoben, glücklich und geliebt gefühlt.
Oma Mariechens Herrschaftsgebiet
Mutter beherrschte an Sonn- und Feiertagen die Kochtöpfe, Oma schwang in der Woche den Löffel. Meine Großmutter war „le patron“, sichtbare Ernährerin der Familie, während meine Mutter alleine den Bauernhofbetrieb schmiss, mein Vater Häuser entwarf und baute und beide damit die Voraussetzungen dafür schufen, dass zwischen unsere Kiemen mehr kam, als nur Luft. Oma Mariechen bestach durch erhebliche Leibesfülle, die zweifellos ihrer Vorliebe für fettes Essen zuzuschreiben war. Sie war der gute Geist der Küche, manchmal auch der böse – je nachdem, was auf den Teller kam und uns Kindern schmeckte oder eben nicht. Ich hasste ihre Milchsuppe mit süßen Kirschen, Eisbein, jene unsäglich fade Graupensuppe und ich liebte ihr Sauerkraut mit weißen Bohnen oder ihr Hühnerfrikassee. Was sie kredenzte, war kalorienintensiv und beinhaltete eigen angebautes Gemüse, Obst oder Geschlachtetes vom Hof. Auf zweitausend Quadratmeter Garten fanden sich Rabatten mit verschiedenen Salatsorten, zweierlei Bohnen, Erbsen, Tomaten, Grünkohl, Gurken, Möhren und Radieschen. An Kräutern galten Petersilie, Schnittlauch, Kresse und Bohnenkraut als die einzig Akzeptablen. Kartoffeln, Rot- und Weißkohl lieferte der Acker und Obst der gigantische Obstgarten. Wir Kinder verfluchten ihn. Denn die Ernte von Kirschen, Erdbeeren, Himbeeren, Stachel- und Johannisbeeren, Pflaumen, Mirabellen, Pfirsichen, Aprikosen, blauen Kölnern und Boskopp, ihres Zeichens Äpfel und Andenken an den Kongress oder Gute Luise, ihres Zeichens Birnen, Schattenmorellen und Walnüssen fiel mit in unseren Aufgabenbereich und verdarb einem die Fußballnachmittage. Mit den Pflückergebnissen hätte man sofort ganze Garnisonen verpflegen können. Meine Großmutter machte aus Erntetagen stattdessen Großkampfküchentage, weckte ein, kochte Marmelade und Apfelmus, buk Pflaumen-, Kirsch-, Nuss- oder Apfelkuchen und trocknete, was dann noch übrig war.
Sie saß breitbeinig in Kittelschürze auf einem Küchenstuhl mitten in der Küche, die Tür zum Garten geöffnet, um sich riesige Körbe mit dem just vom Baum entfernten Obst, entkernte per Hand Kirschen, halbierte Pfirsiche, schälte und schnitt Äpfel in Viertel. Letztere wanderten in einen riesengroßen Bottich mit Wasser. Wie hab ich es genossen, diese Äpfelviertel aus dem Wasser zu fischen und gleich auf der Stelle zu vertilgen! Pflaumen wurden sortiert, da immer reichlich Würmer in ihnen ein Zuhause suchten, Kirschen wie Äpfel auch schon mal im Pfannkuchen mit Puderzucker aufgetischt, der durch ein Teesieb auf sie herunterrieselte.
Kirschen zu entkernen war eine Mordsarbeit. Ich wurde häufig für diese Aufgabe eingespannt und empfand sie als wenig erquicklich, da das Handgerät mit Feder für mich nicht leicht zu bedienen war und der Kirschsaft, vor allem bei Sauerkirschen, ein unschönes Ziehen unter den Fingernägeln hinterließ. Außerdem befielen mich stets Bauchschmerzen nach einer solchen Aktion, da ein nicht geringer Teil der leckeren Beute in meinem Magen landete. Manch eine der Doppelkirschen mit Stiel wurde auch zum Ohrschmuck umgewandelt und im Spiegel, der oberhalb der Spüle hing, profunde auf Tauglichkeit für die Verschönerung untersucht. Was brauchte ich silbernen Schnickschnack, wenn die Natur mir Minigöre solche Kleinodien präsentierte!
Swatsbrot mit Kräutsen
Nach der Zuckerrübenernte kam aus unerfindlicher Quelle, wahrscheinlich direkt aus der Zuckerfabrik, immer ein riesiger Eimer mit Rübenkraut, der mit einem großen Löffel in eine längliche, schnörkelreiche Glasschale geschöpft wurde und täglich auf dem Frühstückstisch oder auf Pfannkuchen landete. Auch Rübenkraut gab es also auf Vorrat. Meine Oma gab das ein ums andere Mal das „Kräutchen“ in den Kaninchen- oder Sauerbraten.
Ich liebte es, wenn es vom Bäcker frischen Stuten gab oder meine Oma gar einen in ihrer längst gelb gewordenen Kastenform gebacken hatte. Dann reichte blanke Butter oder ein Löffel Rübenkraut und das Zusammenklappen der Brothälften aufeinander für mein glückliches Kindergesicht. Mein Cousin Joachim bestellte bei unserer gemeinsamen Großmutter mit Vorliebe „Swatsboot mit Kräutsen“ – „Schwarzbrot mit Rübenkraut“ und tapezierte im Anschluss sein halbes Gesicht damit.
Viele Vorräte fanden in einem Keller Platz, der in die Erde hineingegraben schien. Vom Kaninchenstall führten einige wenige Stufen in sein kühles Inneres. Selbst als Kind kam mir seine Decke furchtbar niedrig vor. Es roch nach Lehm, denn der Fußboden und die Wände bestanden genau daraus. In den dunklen Holzregalen standen die Einmachgläser Glied an Glied, lagen Bier, Wein oder Dauerwurst. An ihnen hingen Schinken, Blut- und Leberwurst, die aus der Hand meines Metzgeronkels Peter in jedem Fall aber von den eigenen Tieren stammten. Hier lagerten Kartoffeln und Äpfel, die herrlich und intensiv rochen. Im Keller stand auch das Sauerkrautfass. Meine kleinen Finger hoben seinen Deckel und naschten, bevor sie sich daran machte, das Pfirsichglas, das die Köchinnen für den Belag des Tortenbodens bestellt hatten, auftragsgemäß vom Bord zu nehmen.
Mordslust
Die Tiere auf dem Hof hatten Namen. Mein Vater ließ uns die Kaninchen streicheln. Wir fütterten die Hühner, Gänse und Enten und sahen Küken schlüpfen. Wir fuhren Katzen, Hunde und Geflügel im Puppen- und Bollerwagen spazieren. Jedes Schwein hatte für uns ein Gesicht und wir waren in der Lage, sie voneinander zu unterscheiden. Und doch sammelten wir die Eier aus den Kuhlen in der Erde oder aus den Holzgehegen des Stalles. Und doch gelangten viele der Tiere früher oder später im Kopftopf. Es war normal, nicht grausam und nicht furchtbar. Sie hatten vorher ein gutes Leben gehabt. Für uns Kinder starben Tiere so. Manchmal siechten sie dahin, weil sie alt oder krank waren. Das erschien uns viel schlimmer, als der Tötungsakt zur Nahrungsgewinnung, so paradox das klingen mag. Wir empfanden keine Trauer, wenn geschlachtet wurde, wohl aber, wenn ein Kaninchen einging und lange litt. Wir sahen unserer Oma dabei zu, wenn sie dem Huhn auf einem Baumstumpf den Kopf abschlug. Die Häschen bekamen einen Schlag auf den Kopf und das Fell abgezogen. Schweine quiekten, bevor sie der Gnadenschuss traf. Der gekachelte Metzgerkeller meines Onkels war blutig. Wenn Blutwurst gekocht wurde, stank es. Aber nichts ging über Onkel Peters feine Leberwurst. Nichts über seinen gekochten und geräucherten Schinken. Er war leidenschaftlicher Metzger, probierte die Rezepte seines Schwiegervaters und experimentierte mit Kräutern und Gewürzen. Die Messer und Beile meines Onkels hingen nach Größe geordnet an der Kachelwand. Er selbst wirkte auf mich, als sei er gewachsen, wenn er seine gestreiften Hemden und diese riesige, weiße Metzgerschürze trug. Bei allem Anschein eines Gruselfilms war ich trotzdem neugierig genug, ihm solange bei seinem Tun zuzuschauen, bis ich ihm aus den Füßen geräumt wurde. Heute wäre ich dazu wohl kaum noch in der Lage.
Meine Großmutter hätte für Panhas sterben können. Er wurde knusprig in der Pfanne gebraten und mit Bratkartoffeln und Kohlrabi serviert. Als man ihr in hohem Alter bestimmte Lebensmittel verbot, ignorierte sie die Einschränkung vehement. Sie briet sich ihre Lieblingsspeise und schlemmte mit fettverschmiertem Mund, bis ihr der Panhas aus den Ohren quoll. Ihre Dauerwellensträhnen fielen ihr ins Gesicht, ihre Kittelschürze hielt ein Küchenhandtuch am Gürtel, das zugleich als Serviette diente und ihre Augen strahlten glücklich. Hätte man ihre Miene in Worte fassen müssen, so wäre sie wahrscheinlich mit „Läääääääckkkker“ betitelt worden. Ich war nicht dafür zu erwärmen, freute mich aber umso mehr über frische Schnitzel, die Bratwurst und das Leberwurstbrot.
Die Schweine fütterten mein Onkel und meine Mutter unter anderem mit den Resten der Kartoffeln, die nicht eingekellert oder auf den Markt transportiert wurden. Kleine Kartöffelchen und Kartoffelschalen wurden in einem voluminösen Kessel auf dem Kohleofen gekocht und verfüttert. Der Kessel stand nach dem Kochen auf dem Hof und war willkommene Naschresource für uns kleine Schleckermäulchen. Wir angelten uns die kleinen, feinen Kartoffeln heraus und waren dann mit gut gefülltem Magen oft nicht mehr bereit, Omas Mittagskochkünsten Respekt zu zollen. Das wurde oft mit Nase zuhalten und Mund auf, Augen zu bestraft. Eine recht rüde Methode, uns von der Notwendigkeit der Nahrungsaufnahme zu überzeugen, die keine Wiederholung verdient.
Wenn Schweinelendchen auf dem Speisezettel standen, die selbstredend aus gleicher Quelle wie alle Fleischwaren stammten, dann musste Sonntag oder ein besonderer Festtag sein. Leckereien wie Hühnerfrikassee, Bouillon vom frisch gezupften Suppenhuhn und Filetstücke gab es nur dann.
Die Tage in der Woche folgten einer festgelegten Speisefolge, die im Voraus geplant wurde. Alle Zutaten musste die Vorratskammer, der Keller oder der Garten hergeben. Die beiden Damen des Hauses rochen übrigens an den Lebensmitteln, um festzustellen, ob sie noch gut waren. Haltbarkeitsdaten waren nicht existent. Freitags war Veggie- oder Fischtag. An ihm gab es die verhasste Milchsuppe, geliebte, rare Fischvariationen oder Spiegelei mit Spinat. Samstags war Kotelett- oder Eintopftag. Neben Kaninchen waren auch Tauben,Wild oder Forellen begehrte Leckereien. Oft bissen wir dabei auf nicht entfernte Schrotkugeln, die im Zweifel, so geschluckt, ihren natürlichen Ausgang am nächsten Tag am stillen Örtchen fanden.
Torten schlachten
Für den Sonntagnachmittag wurde gebacken. Ich kann mich nicht erinnern, dass es jemals weniger als zwei Kuchen pro Sonntag gegeben hätte. Sogenannter Trockenkuchen verdiente geschlagene Sahne, die aus eigener Milch hergestellt wurde. Den Tortenboden besorgte man vom Bäcker und versah ihn mit Weckobst oder Erdbeeren aus dem Garten. Bisquitrollen und Philadelphiatorte gehörten zu den Spitzenreitern auf der Beliebtheitsskala. Aufwändigere Torten tat man sich vor allem dann an, wenn Sonntagsbesuch erwartet wurde. Buttercreme, Schwarzwälder Kirsch, Moccasahne waren Klassiker.
Meine Mutter weihte mich beim Weihnachtsbacken in die Geheimnisse der Konditorei ein. Bereits Wochen vor dem Fest wurden Unmengen von Plätzchen produziert. Der Geruch steigt mir heute noch in die Nase und war im ganzen, sehr großen Haus zu riechen. Ich sehe diese Haufen an Mehl auf dem besagten Küchentisch vor mir, zu denen Zucker, Eier, Vanille- und Rumaroma gefügt wurden, gemahlene Nüsse und Mandeln. Meine Mutter knetete und walkte, stach die Plätzchen aus und ließ uns am rohen Teig naschen. Eine Tat, die jede Mama heute wahrscheinlich wegen der Angst vor Salmonellen vermeiden würde. Wir Kinder erhielten immer auch ein Stückchen eigenen Teig, durften formen und gestalten und unsere Schnecken, Männchen und unförmigen Gebilde schließlich mit Schokolade, selbst hergestelltem und gefärbten Zuckerguss verzieren und warm genießen. Als ich alt genug war, stand Mutter nur daneben und ließ mich machen. Wir kreierten gemeinsam Marzipankartoffeln und Rumkugeln. Zur Hilfe kam mir dabei ihr handgeschriebenes Kochbuch: Ein Ringbuch mit dunkelblauem Ledereinband und weißen Punkten, das sie heute noch besitzt. In ihm finden sich all ihre kleinen Küchengeheimnisse. Mit ihm habe ich backen gelernt. Diese Bibel meiner Mutter und das Kinderkochbuch „Lirum, larum, Löffelstiel“ brachten mir das Kochen bei. Sobald mir das Backen leicht von der Hand ging, war ich ab sofort verantwortlich für den sonntäglichen Kuchennachmittag und aus dem Zweigestirn im Haushalt wurde ein Dreigestirn. Zu meinen Favoriten zählten versunkener Apfel- oder Kirschkuchen, Rodonkuchenvariationen und Frankfurter Kranz. Mit zunehmender Routine konnte ich die Zutaten auswendig, im Schlaf aufsagen. Süße Nachtischklassiker waren Vanille- und Schokopudding, Weincreme, Götterspeise, die wir Wackelpudding nannten und die in warmer Vanillesoße ertrank und Henriette Davidis‘ Russische Rahmspeise.
Fastfood deluxe
Einmal im Jahr wurde Kirmes gefeiert. Das gesamte Dorf war in Aufruhr, schmückte die Straßen mit bunten Blumenteppichen, an denen die Frauen tagelang arbeiteten und dafür ihre Gärten plünderten. Fahnen spannten sich von Mast zu Mast. Die Kapelle des Ortes prangte in neuem Glanz. Festzelt, Karussell und Schießbuden wurden aufgebaut und Hauseingänge mit Girlanden geschmückt. Wir Kinder freuten uns nicht nur auf Kirmesgeld und Kinderbelustigung, sondern vor allem auf eines: Hähnchen und Pommes Frites vom Imbisswagen. Wer damals Pommes Frites herstellen wollte, brauchte eine Friteuse. Backofenvarianten waren Zukunftsmusik. Hähne waren für die Hühner zuständig und wurden seltener zubereitet, als die Tauben, die Vater mit der Schrotflinte schoss. Imbissbuden gab es in der Stadt und die war 15 weite Kilometer entfernt. Dieses Mahl war jedes Mal eine kleine Schlacht, bei der zuletzt nur die Knochen der Opfer in einer lilafarbenen Schüssel übrig blieben. Wenn Schützen in grünen Uniformen mit Nelken in Gewehren militärisch beängstigend, aber gegenläufig lächelnd und flirtend durch die Straßen marschierten und in Sonntagsstaat gekleidete junge Frauen ihnen schüchterne Blicke zuwarfen und sich auf den abendlichen Tanz freuten, der mehr verhieß, hatten wir unser größtes Vergnügen schon hinter uns und freuten uns aufs nächste Jahr.
Der Geschmack meiner Kindheit, das ist Frühling, Sommer, Herbst und Winter mit all seiner Vielfalt aus Garten, Stall und Feld. Er ist das Leben in seiner reinsten und ursprünglichsten Form: Nahrung, nicht nur für den Leib, sondern auch und vor allem für die Seele. Er macht mich heute noch glücklich.
© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.