Haben Lügen lange Beine?

Zwanzig Vaterunser und zehn Gegrüßet-seist-du-Maria

Keine log so schön wie Rosemarie Riemenschneider. Selbst ihr Beichtvater war von ihren samstäglichen Auftritten und der dann folgenden Inbrunst Ihrer Geständnisse beeindruckt.

Nach seinem „Gelobt sei Jesus Christus“ antwortete sie voller Leidenschaft mit „In Ewigkeit. Amen“ und betonte das Wort Ewigkeit nachdrücklich. Nach der letzten Beichte brauchte er nicht zu fragen. Sie kam regelmäßig. Sie genoss es. Und immer begann Rosemarie ihre Sündenlitanei mit „Mein Vater, ich habe gelogen.“ Dann lächelte sie und begann zu erzählen. Von ihren sieben Kindern. Von ihrer Unfähigkeit eine gute Mutter zu sein oder davon, dass sie zurückgeschlagen habe, als ihr Mann sie wieder einmal züchtigte. Pater Bernhardt wusste, Rosemarie hatte keine Kinder. Sie war unverheiratet und lebte in einer sechzig Quadratmeter großen Mietwohnung am Stadtrand. Wenn er ihr die zehn Gebote erläuterte oder sie strategisch klug fragte, warum sie sich so bestrafe, schaute sie nur mit großen Augen durch das vergitterte Fensterchen, das sie trennte und schwieg dazu. Es war, als hörte sie seine Worte nicht. Stattdessen fuhr sie fort, sich anzuklagen und um Erlass ihrer Schuld zu flehen. Er gab ihr mit schmelzendem Widerstand die Absolution und verdonnerte sie zu zwanzig Vaterunser und zehn Gegrüßet-seist-du-Maria, die sie anschließend, mit Rosenkranz bewaffnet und kniend in der Kirchenbank ableistete. Ihr Kopftuch rutschte ihr dabei jedes Mal wie die Kapuze einer Mönchskutte in den Nacken und ließ ihre schwarze Haarpracht sehen. Danach verließ sie beschwingt, sanft und unschuldig lächelnd die Kirche. Pater Bernhardt dagegen saß geknickt im Beichtstuhl und musste sich eingestehen, dass er sich auf die Samstage freute, an denen sie kam und ihre abstrusen Geschichten preisgab.

Ihr Weg von der Kirche führte sie in das Café am Ort. Wenn sie sich an der Garderobe ihres Mantels entledigte, kam darunter vermeintlich erstklassige Haute Couture zutage. Es roch sogar nach Chanel oder Yves Saint-Laurent, wenn man an ihr vorüberging. Doch kaum einer tat das, ohne ihr, auch ohne sie zu kennen, einen guten Tag zu wünschen. Rosemarie grüßte überschwänglich zurück und schüttelte Hände. Manch einer war hocherfreut über ihre Reaktion und fragte sie nach dem werten Befinden, um sie anschließend auf eine Tasse Kaffee einzuladen. Aus der wurden auch zwei oder drei oder vier, Kuchen und ein Cognac und es ergab sich ein spannender Nachmittag, an dem Rosemarie von ihren Weltreisen berichtete oder von ihrem Pech beim letzten Galopprennen in Heimerzhagen, bei dem sie bei der Viererwette im Hauptrennen nur um Haaresbreite daneben gelegen hatte. Manchmal war es auch die Geschichte mit der Morddrohung, die sie zum Besten gab. In ihr hatte sie nur knapp einem nächtlichen Überfall in Casablanca ausweichen können und war dem Tod mit knapper Not entronnen. Auch die Schmonzette, die eine Liaison mit einer zukünftigen Berühmtheit in der Politik zum Inhalt hatte und die sie pikant würzte, wurde gerne gehört. Fasziniert lauschte der großzügige Gastgeber dem nicht endenden Wortschwall Rosemaries und kommentierte mit einem geraunten „Neeeeein“, „Isnichwahr“ und prüfenden, aber nicht ungläubigen Blicken. Kaum jemand stellte ihre Schilderungen in Frage. Rosemarie war überzeugend. Eine ehrliche Haut. Und so nett. Und so hübsch. Und überhaupt. Ja, überhaupt war es gar nicht langweilig mit ihr. Gab es doch einmal jemanden, der den Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen in Frage stellte, so lachte sie laut auf und nahm ihm flugs den Wind aus den Segeln. „Ja, das klingt alles un-glaub-lich, nicht wahr? Ich kann es selbst manchmal kaum fassen und sage mir immer, mein Gott, Rosemarie, womit hast Du das verdient!“. Daraufhin pflegte sie den Kopf zu schütteln, griff nach der Puderdose in Ihrer Handtasche, verschönerte ihr Näschen. Rosemarie blickte offen und ernst ins Gesicht des Schmähenden und wartete auf die einlenkenden Worte ihres Gegenübers, die meist von einer hochprozentigen Einladung begleitet wurden. Immer verabschiedete sie sich freundlich, fest und herzlich für die unerwartete Einladung dankend, wenn es ans Bezahlen der Rechnung und ans Aufbrechen ging. Sie sprach von einem eiligen Termin, der samstags allwöchentlich auf sie warte und den sie ja ob der anregenden Unterhaltung schon fast vergessen habe.

Dr. Otto von Fischler lernte sie genau auf dieselbe Art kennen. Er half ihr aus dem Mantel und geleitete sie galant zu einem Platz im hinteren Eck des Cafés, während sie schon eifrig aus ihrem schillernden, jungen Leben zitierte. Otto bevorzugte Armani und rauchte Cohiba, die er jeden Tag dreifach im Humidor des Tabakhändlers aussuchte und erwarb. Er küsste immer wieder ihre Hand, ohne sie auch nur einmal zu unterbrechen und Rosemarie wusste, nun war es um sie geschehen. Der Pfaffe sah sie nicht so schnell wieder, höchstens vor oder besser hinter dem Traualtar. Als Otto schließlich, ihr seine Karte reichend, eilig zu einer Verabredung gerufen wurde und ihr einen neuen Fünfzigeuroschein zusteckte, gestand sie es offen. Rosemarie war verliebt.

In der folgenden Woche wartete er mit einem Strauß weißer Nelken auf sie vor dem Café. Ganz gegen ihre Natur schwieg Rosemarie für drei Minuten und lächelte milde. Otto machte ihr den Hof. Wenn Rosemarie redete, unterbrach er sie nur, um ihr zuzustimmen, sie mit einem „Wie tragisch!“ oder „Wie aufregend!“ anzufeuern. Sie besuchten nun nicht mehr nur das Café, sondern täglich edle, verschwiegene Etablissements. Rosemarie sah Otto des öfteren mit dem Maître oder Besitzer des Restaurants, der Cocktailbar oder des Clubs plauschen. War eine solche Unterhaltung beendet, verbeugte man sich vor ihm, wischte mit einem lautstarken „Keine Ursache“ oder „Ach was“ eine Äußerung weg, die Otto wohl in aller Bescheidenheit gemacht hatte und die vielleicht sogar schmeichelnd war. Ja, ihr Otto verstand sich aufs Komplimente machen. Die Rechnungen beglich er diskret und ohne Rosemarie damit zu behelligen. Nie sah man ihn sein Portemonnaie zücken. Sie war selig, im siebten Himmel und ertappte sich dabei, wie sie ihre Geschichten ihm gegenüber gelegentlich so verfremdete, dass sie fast der Wahrheit entsprachen. Manchmal fehlte nur ein Hauch bis zur Offenbarung. Ihren Auserwählten schien das nicht zu schrecken. Nach einigen Wochen war Otto zu Rosemaries bevorzugtem Thema geworden. Sie übertrieb ein bisschen. Alles erschien aus ihrem Munde noch ein wenig prächtiger, die Blumensträuße größer, die Küsse heißer und die Limousinen länger. Doch auch hier hielt Rosemarie sich nur noch selten in Luftschlössern auf, hatte sie ihren Prinzen doch längst gefunden und der Weg zum Schloss war nicht mehr fern.

Eines Abends war es dann soweit. Sie lud Otto ein, bei ihr zu nächtigen. Das Bett war frisch bezogen, der Kühlschrank voll und der Duft von Chanel nicht mehr nur im Vorbeigehen an ihr zu riechen. Rosemarie hatte alles bestens präpariert und zitterte vor Freude. Vor ihm stand sie bloß, vollkommen nackt, rein und wahrhaftig. Otto kam, sah und siegte.

Als seine Holde am nächsten Morgen alleine aufwachte und, ihn suchend, die Küche betrat, war sie gerührt vom Anblick, den sie vorfand. Der Tisch war fürstlich für sie gedeckt worden, die Zeitung lag auf ihrem Platz. Sie rief nach Otto, den sie ihm Bad vermutete und entfaltete Serviette und Zeitung, als ein Briefchen zu Boden fiel. Bevor Rosemarie sich bückte, um ihn aufzuheben, überflog sie die Schlagzeile: „Von Fischler auf dem Weg zur Kanzlerschaft“. Sie nahm den Brief auf, öffnete ihn und las: „Ich lüge schöner als Du, Dein Otto“.

Ersterscheinungsdatum: 23.10.2011 auf einseitig.info

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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