Von Unschuld, Moral und Verantwortung
Der Junge im gestreiften Pyjama kommt in die Kinos
Schützt Naivität vor Schuld?
„Der Junge im gestreiften Pyjama“ erzählt die Geschichte des achtjährigen Jungen Bruno. Als er 1942 sein Elternhaus in Berlin betritt, packt das Hausmädchen Maria gerade seine Koffer. Die Familie muss umziehen. Der Vater ist zum Lagerleiter von Ausschwitz befördert worden. Bruno ist entsetzt. Er muss ein großes Haus und seine geliebten Freunde verlassen. Der Kosmos des kleinen Jungen wird erschüttert. Alles geht schnell, unvorbereitet und plötzlich. Er wird von den Umständen überrascht.
Bereits zu Beginn setzt die Erzählung den perspektivischen Schwerpunkt: Der Autor impliziert, dass Bruno von den Plänen seiner Eltern nicht unterrichtet wurde. Sein Mikrokosmos sieht diese Veränderung nicht vor und die wenig kommunikativen Eltern nehmen sich keine Zeit, ihren Jungen über Gründe und Zusammenhänge aufzuklären.
Für Bruno gelten, wie für alle „ordentlich erzogenen Kinder“ der Zeit nicht Verständnis und liebevolle Zuwendung, sondern Disziplin und Härte nach den Maßgaben und Moralvorstellungen des Nazistaates. Zu sehr sind die Eltern mit dem System verwoben und von den neuen Regeln überzeugt. Die Mutter hadert mit der neuen Aufgabe des Vaters. Doch auch hier wird die Begründung dem Jungen vorenthalten und bleibt kryptisch.
Boyne fährt perspektiventreu fort. Der „Furor“, der Führer oder dessen Gefolgsleute also, schicken die Familie nach „Out-With“, in der deutschen Übersetzung nach „Aus-Wisch“, also Auschwitz. Bruno schnappt auf, interpretiert kindlich beschränkt, was es hört, doch dass um ihn herum der zweite Weltkrieg wütet, Juden deportiert und ermordet, Menschen gebrandmarkt werden, sein Vater gar maßgeblich beteiligt ist, liegt außerhalb seiner Vorstellungswelt. Obschon sein Vater der SS und den ersten Reihen Hitlers angehört, weiß er vom Beruf des Vaters nichts. Dessen Arbeitszimmer ist Tabuzone für das Kind. Bruno verteidigt seinen Vater, als schlecht über ihn gesprochen wird und gehorcht ihm distanziert bewundernd.
Die Unschuld des Kindes ist angesichts des linientreuen Elternhauses und der insistierenden Lehrer erstaunlich, umso mehr als die Schwester des Jungen deutlich von den Ansichten der Erwachsenen und entsprechender Erziehung geprägt zu sein scheint. Die Tatsache, dass die Eltern mehr mit sich, der Karriere des Vaters und möglichen Repressalien bei Nichtbefolgung der Regeln beschäftigt sind, lässt ihn recht stiefmütterlich aufwachsen. Die Haushälterin Maria, die dem Regime eher kritisch, aber angstvoll gegenübersteht, hat weit größeren Einfluss auf ihn, als seine Eltern. Doch auch sie konfrontiert ihn nicht mit der schrecklichen Wahrheit. Sie schirmt ihn ab, erzählt hinter vorgehaltener Hand oder mahnt zur Verschwiegenheit. Größtenteils begreift Bruno nicht, worauf sie anspielt. Er ist von Passivität und der Ignoranz der Erwachsenen umgeben. Sie wollen nicht sehen und durchschauen und schon gar nicht ändern. Freies Denken, Fragen oder Auflehnung sind verpönt. Brunos Neugierde, wo sie denn aufflammt, wird unterdrückt.
Und doch bleibt, trotz dieser Einflüsse, Brunos Unverderbtheit außergewöhnlich und in gewisser Weise künstlich. Er legt vermeintlich und ohne große Mühe eine innere Stärke an den Tag, die ein Kind unter diesen Umständen nie durchhalten würde. Sie ist wenig plausibel, wurden doch gerade die Kinder während der NS-Zeit gezielt von der Maschinerie vereinnahmt und indoktriniert. Schule und Freizeit wurden gleichermaßen durchsetzt von nationalsozialistischem Gedankengut. Schwäche und Kindlichkeit wurden negiert. Athletik und die Bereitschaft zur Gewalt verherrlicht. Ein wenig von diesen zweifelhaften Idealen deutet Boyne an, als er Bruno vom Lehrer und dessen Verbot unnütze Bücher zu lesen berichtet. Nicht intellektuelle Bildung, sondern körperliche Stärke und das Bekenntnis zur neuen deutschen Geschichte sind für die Nationalsozialisten erstrebenswert. Lesen, Forschen und Wissen – Tugenden, die der kleine Bruno zu schätzen weiß – sind in den Augen des Lehrers und des Vaters schädlich. Brunos Auflehnung gegen diese Regeln ist zaghaft, sanft, kindlich, aber dennoch mehr oder weniger erfolgreich. Zuwiderhandlungen werden schließlich überraschenderweise kaum geahndet oder Bestrafungen rasch abgehakt. Sowohl Bruno als auch seine Schwester geraten nicht in die Fänge der Nazijugendorganisationen wie ihre Altersgenossen, müssen nicht die gleichen Pflichten erfüllen.
Die Arglosigkeit des Jungen verhilft dem Buch zwar zu seiner unnachahmlichen Präsenz und Eindringlichkeit am Schluss, sie ist jedoch angesichts der historischen Fakten nicht nachvollziehbar und dient lediglich als Mittel zum Zweck. Zudem wirkt der Junge in seiner Unbedarftheit oftmals eher wie ein Sechsjähriger, ja fast schwer von Begriff. Seine Unschuld und offenbare Verletzlichkeit ist Ursache für das Unglück, das ihm widerfährt. Sie lehrt die jungen Leser dummerweise aber auch, dass Kinder im Nationalsozialismus nicht verführbar waren und immun gegenüber faschistisch orientierten Vorbildern und Erziehern. Sie lehrt sie damit im zweiten Schritt außerdem, dass man unter gewissen Umständen nicht verantwortlich für das ist, was man tut. Für die Fehlorientierung ihrer Kinder sind zwar in erster Linie die Erwachsenen verantwortlich, doch waren Kinder, die der Nazierziehung ausgesetzt waren, alles andere als unschuldig und bar jeder Verantwortung für ihre Taten.
Der Tod eines Kindes
Durch sein Fenster beobachtet Bruno, was auf der anderen Seite des Zaunes vor sich geht. Dort befindet sich das Konzentrationslager, das er aber nicht als Vernichtungslager wahrnimmt. Er wundert sich über die Art der Menschen, sich zu verhalten und einheitlich in gestreiften Pyjamas zu kleiden. Bruno verwirrt die Aussage seiner Schwester, die behauptet, dort befänden sich keine Menschen. Immerhin sieht er sie ja. Für ihn ist der Platz hinter dem Zaun schlicht ein seltsamer, fremder Ort, dessen Sitten und Gebräuche er nicht begreift. Die Trostlosigkeit des Ortes verknüpft er mit dem eigenen, in seinen Augen, unermesslichen Leid. Schließlich hat der Junge die alte Heimat verlassen und seine Spielkameraden zurücklassen müssen. Bruno ist einsam. Er langweilt sich und sehnt sich nach Gesellschaft. Mit den Kindern, die er auf der anderen Seite des Zaunes sieht, möchte er spielen.
Er streift, obwohl es ihm verboten wurde, am Zaun des Lagers entlang, geht seiner Lieblingsbeschäftigung, dem „Forschen“ nach und wird fündig. Schmuel, ein kleiner Junge, sitzt auf der anderen Seite des Zauns. Mit ihm kommt er ins Gespräch und freundet sich mit dem halb verhungerten jüdischen Jungen an. Bruno, der Träumer, erfährt vieles und begreift immer noch viel zu wenig. Die Jungen treffen sich regelmäßig am Zaun.
Bruno versorgt Schmuel mit Essen, ohne sich bewusst zu werden, dass sein Freund hungert. Oftmals hat er den Proviant schon verzehrt, bevor er den Treffpunkt erreicht. In den Worten des Freundes schwingt Geheimnis und Angst mit, aber nichts von dem nimmt Bruno wirklich bewusst wahr. Er hält das Lager nach wie vor für ein fremdes, unbekanntes Land. Es sei Polen, erklärt ihm Schmuel und erzählt ihm von verschwundenen Menschen, der Deportation ins Lager und anstrengenden Märschen. Man habe keine Zeit zum Spielen. Gerade um die Gesellschaft aber beneidet ihn Bruno und wundert sich über seltsame Sitten und Gebräuche oder die Ausübung von Berufen im Lager, die keiner der Insassen ursprünglich gelernt zu haben scheint. Er möchte Schmuel dorthin begleiten.
Bei ihren regelmäßigen Treffen werden sie nie gestört, kein Offizier scheint in die Nähe des doch wohl regelmäßigen Aufenthaltsorts der beiden zu kommen. Die Treffen wirken ungefährlich. Unwahrscheinlich, doch auch das lässt der Autor geschehen. Der Zaun reicht ihm als Trennungslinie zwischen den Welten der Kinder und Bedrohungsimplikat per se.
Den Untergebenen des Vaters und angehimmelten Idol der pubertierenden Schwester, Oberleutnant Kotler, erfährt Bruno latent und schließlich ganz konkret als bedrohlich. Durch ihn lernt er zum ersten Mal, was Grausamkeit bedeutet. Als dieser Mann gegen den ihm gut gesonnenen Helfer und Anstaltinsassen Pavel, später dann gegen den heimlichen Freund Schmuel vorgeht, ist er schockiert. Schmuel, zur Hilfe in der Küche des Vaters abberufen, wird von Bruno just dort mit Resten von Mahlzeiten verpflegt. Allein die Reaktion des Offiziers, der die Jungen in der Küche erwischt, vermittelt ihm, dass er vermeintlich ein Unrecht begangen hat. Bruno verrät den Freund, leugnet Bekanntschaft und die Weitergabe des Essens. Er fühlt sich schuldig und glaubt, in der Abwesenheit des Freundes am Zaun, seine Bestrafung zu erkennen. Der wurde jedoch schlicht wegen des Vorfalls gezüchtigt und gequält. Kurze Zeit später taucht er wieder auf.
Angesichts der historischen Verbrechen erscheinen die geschilderten Begebenheiten, gar die Bestrafungen äußerst harmlos. Wer um die tatsächlichen Gegebenheiten weiß, interpretiert möglicherweise mehr in die Geschichte hinein, als zu lesen ist. Die meisten Kinder und Jugendliche werden das nicht tun. Weit Grausameres ist in den Konzentrationslagern geschehen. Um die eigene Verantwortung zu begreifen und dabei mitzuwirken, so etwas nie mehr geschehen zu lassen, darf nichts verschwiegen werden. Gerade in Zeiten, in denen die Zeitzeugen sterben und damit Informationen aus erster Hand zunehmend verschwinden, müssen Kinder authentisch über damals aufgeklärt werden.
Dieses bedeutungslose Symbol für Gefahr, Oberleutnant Kotler wird von der eigenen Realität eingeholt und als Gefahrenquelle schließlich komplett ausgeschaltet. Brunos Vater dagegen manifestiert sich als aalglatter, kühler und berechnender Kriecher innerhalb des Systems und sticht dabei sein bislang nach Karriere gierendes Opfer um Längen aus. Jedoch nach wie vor nicht in seines Sohnes Augen. Der freut sich über die Hilflosigkeit des imponderablen Peinigers und glaubt den Vater aus nicht näher beleuchteten Gründen im Recht. Kotlers simple, unachtsame Erwähnung seines Vaters, der zu den Regimegegnern gehört, kostet den Offizier die privilegierte Stellung. Die Bredouille, in der dieser überzeugte Verfechter der nationalsozialistischen Maximen gerät, entgeht Bruno nicht. Doch wo für die Betroffenen Angst, Unterdrückung, Maßregelungen oder Züchtigung Platz finden, herrscht für ihn einfach nur die kalte, irritierende Welt der Erwachsenen, die ihn nicht betrifft. Er gehört nicht dazu und ahnt bestenfalls die Gefahr. Allein seine Isolation innerhalb ihrer täglichen Existenz sichert seine Immunität. Egal, welchem Albtraum Bruno ausgesetzt wird, es scheint an diesem schützenden Kokon abzuprallen. Nichts wirklich Böses scheint in diese heile Welt vordringen zu können.
Die Notwendigkeit, die Haare nach Läusebefall zu scheren, lassen Bruno aussehen, wie seinen Freund. Um ihn optisch zum Insassen zu machen, fehlt nur noch der gestreifte Pyjama. Als Bruno nach Berlin zurückkehren soll, entschließen sich die Jungen zum Abschied zu einer verhängnisvollen Tat. Schmuel besorgt den Pyjama und Bruno schlüpft für ein paar Stunden durch den Zaun ins Lager. Er soll niemals mehr aus ihm zurückkehren. Gemeinsam mit seinem Freund kommt er in der Gaskammer um. Doch damit ist die Geschichte nicht zu Ende. Die Familie sucht nach Bruno, ohne Erfolg. Der Vater wird von eintreffenden Alliierten verhaftet.
Die Geschichte endet mit den Sätzen: „Natürlich geschah dies alles vor langer Zeit, und etwas Ähnliches könnte nie wieder passieren. Nicht in diesen Tagen. Nicht in diesem Zeitalter.“
Ein gefährlicher Satz, wenn man die Gesamtheit des Buches betrachtet.
Anders als bei „Die Welle“ von Morton Rhue wird hier nicht deutlich, dass so etwas sehr wohl wieder geschehen kann, wenn sich die Wachsamkeit verliert. So etwas kann sehr wohl wieder geschehen, wenn verharmlost wird. Es wird nicht deutlich, dass ähnliche Dinge auf der Welt täglich geschehen und dass es gegen sie vorzugehen gilt.
Ein guter Satz, wenn man die Geschichte kennt und die Ironie des Satzes begreift. Natürlich tut man das, wird manch einer sagen. Vermutlich gehört dieser Jemand jedoch einer Generation an, die einer entsprechend aufklärerischen Erziehung in Sachen „Drittes Reich“ teilhaftig werden konnte. Davon sollte man, je weiter die Geschehnisse zurück liegen, jedoch nicht ausgehen. Erklärung tut not, gerade gegenüber Kindern. Mehr denn je.
Klischees sind nicht genug
An vielen Stellen des Buches stutzt man ob der deutlichen Abweichung von historischen und anderen Plausibilitäten. Boynes Ziel ist es, den Leser erschrecken zu lassen. Die Intention des Autors ist hier durchaus lobenswert, denn der Holocaust ist schrecklich, grausam und nach wie vor unbegreiflich. Doch nutzt er dazu unverblümt cineastische Klischees. Ein unschuldiges Kind der Täter wird Opfer der unmenschlichen Gewalt, die der eigene Vater verschuldet. Das macht betroffen, reduziert das Geschehen jedoch auf Hollywood-Niveau. Das Buch verharmlost, verschiebt und verleugnet historische Details und es erklärt zu wenig über die geschichtlichen Zusammenhänge.
Boyne hat „Der Junge im gestreiften Pyjama“ nicht als Jugendbuch angelegt. Erst seine Verleger sahen für dieses Buch diese Klientel. Einen wesentlichen Punkt lassen Boyne und seine Verleger aber außen vor: Wer sind Brunos Vorbilder? Was macht ihn zu dem, der er ist? Was schützt ihn vor den Einflüssen, die ihn deutlich und massiv umgeben? Und warum?
Nicht umsonst erziehen Extremisten Kinder in Schulen gemäß ihrer Doktrin. Denn gerade Kinder nehmen unkritisch auf und vertrauen blind. Sie lernen erst durch erwachsene Vorbilder, Lehrer und Eltern Fragen zu stellen, Verantwortung zu übernehmen und Manipulation zu erkennen – oder eben nicht. Und sie lernen durch solche Bücher.
Gerade weil dieses Buch in ein für Kinder und Jugendliche noch populäreres Medium, in einen Kinofilm verwandelt wurde, der demnächst auch in Deutschland die Leinwände beherrscht, ist es wichtig, Kinder und Jugendliche damit nicht allein zu lassen.
Zum Neugierigwerden auf die tatsächlichen Begebenheiten reichen Buch und Film sicher. Zur historisch-moralischen Erziehung oder gar, wie empfohlen, als Schullektüre ist es ungeeignet. Es sei denn, man geht von vorneherein sehr kritisch mit den Schilderungen um.
„Der Junge im gestreiften Pyjama “ kommt am 7. Mai 2009 in die Kinos.
Ersterscheinungsdatum: 03.05.2009 auf einseitig.info
© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.