Hoffnung und Lust setzen Ziele
von Dirk Jürgensen ...
Wir brauchen Utopien – Teil 3
William Morris und seine „Kunde von Nirgendwo“
William Morris war ein Multitalent, ein Maler, Herausgeber, Architekt, Dichter, Drucker, nach heutiger Begrifflichkeit Designer und gilt als einer der ersten Vertreter der britischen sozialistischen Bewegung.
Als Mitgründer des Arts and Crafts Movement empfand Morris die Produkte der Massenproduktion der damals aufstrebenden Industrie als und forderte eine auf die höhere Qualität handwerklicher Arbeiten. Genau diesen Ansatz verfolgte er in seinem als Gegenentwurf zu Edward Bellamys „Rückblick aus dem Jahre 2000“ verstandenen Utopie „Kunde von Nirgendwo“, die 1890 veröffentlicht wurde.
In seiner Zeitung „The Commenweal“ veröffentlichte Morris zuvor (1890) eine vielbeachtete Kritik des „Rückblicks“, in der er deutlich macht, wie fundamental die Unterschiede in der Sichtweise auf einen idealen, auf einen ebenfalls gerecht angesehenen Staat sein können:
Die einzige sichere Art, eine Utopie zu lesen, ist, sie als Ausdruck der Gesinnung ihres Autors zu betrachten.So gesehen ist Mr. Bellamys Utopie immer noch als sehr interessant zu bezeichnen, da sie mit reichlich ökonomischem Sachverstand und großem Geschick aufgebaut ist. Und natürlich ist sein Temperament das zahlreicher Menschen. Diese Temperament könnte man als unverfälscht, als modern, als ahistorisch und unkünstlerisch bezeichnen; es hat zur Folge, dass jemand (falls er denn Sozialist ist) mit der modernen Zivilisation völlig zufrieden wäre, wenn es nur gelänge, Ungerechtigkeit, Elend und die Sinnlosigkeit der Klassengesellschaft abzuschaffen;solche halbherzigen Veränderungen scheinen ihm machbar. Das einzige Lebensideal, das solch ein Mensch zu sehen vermag, ist das eines fleißigen Angestellten aus der Mittelschicht von heute, geläutert vom Verbrechen der Komplizenschaft mit der Monopolistenklasse und unabhängig anstatt, wie jetzt, parasitär. Es ist nicht zu bestreiten, dass ein solches Ideal, falls es denn verwirklicht werden könnte, im Vergleich mit den derzeitigen gesellschaftlichen Verhältnissen ein großer Fortschritt wäre. Aber kann es überhaupt verwirklicht werden? […]
Aus der Zufriedenheit des Autors mit den besten Bestandteilen des modernen Lebens folgt naturgemäß, dass er den Wandel hin zum Sozialismus als eine Vorgang betrachtet, der ohne den Zusammenbruch dieser Lebensweise vonstattengeht oder jedenfalls ohne größere Störungen, und zwar vermittels der finalen Entwicklung der großen privaten Monopole, die so charakteristisch für die heutige Zeit sind. Er unterstellt, dass sie zwangsläufig in einem einzigen großen Monopol aufgehen müssen, welches das ganze Volk einschließt und und vom ganzen Volk zu seinem Vorteil betrieben wird. schläft nach einer hitzigen Debatte über einen der Revolution folgenden Zukunftsstaat schlecht und wacht am frühen Morgen des vermeintlich folgenden Tages auf und macht sich auf einen Spaziergang an die Themse. Zu seiner Überraschung ist das Wasser des Flusses sauber, es schwimmen sogar Lachse darin. E sieht keine Industrieschornsteine mehr und die bisherige moderne (vermutlich Stahlbau-)Brücke wurde durch eine im alten Stil aus Stein errichtete ersetzt. Guest trifft am Ufer einen Fährmann, dem er sich als jemand vorstellt, der lange auf Reisen gewesen ist und die Verhältnisse fremd geworden seien. Mit den als Bezahlung angebotenen Münzen, die Guest in seiner Tasche findet, kann der Fährmann nichts anfangen und so beginnt eine Reihe von Fragen und Antworten, in der dem Gast die Vorzüge des Lebens im 20. Jahrhundert im Laufe einer Reise auf der Themse von verschiedenen Menschen gezeigt werden.
Die Lebensverhältnisse in Morris‘ Idealstaat, dessen Struktur aufgrund seiner radikalen Dezentralisierung dem Anarchismus nicht fern ist, sind von einem romantischen „Zurück zur Natur“ geprägt, aus von einer starken Bewunderung des Mittelalters spricht.. Die großen Städte, die rußigen Industriezentren des 19. Jahrhunderts wurden längst zurückgebaut,die Slums niedergerissen.Das neue London ist von Wäldern und Wiesen durchzogen, die Landflucht der Industrialisierung konnte umgekehrt werden. Nur Reste alter großer Gebäude sind noch zu finden. So wird das Parlamentsgebäude in London übergangsweise noch als Düngerlager verwendet. Heutigen Lesern kommt es oftmals befremdlich vor, dass Morris Gebäude, die wir als schön und alt ansehen, als unerträglich modernistisch und beschrieb.
Die Ästhetik der Natur, der dörflichen Strukturen, der Häuser, der Gebrauchsgegenstände und das Entstehen dieser Dinge stellen ein grundlegendes Thema in Morris‘ Utopie. Die Menschen seines Zukunftsentwurfs haben das Handwerk, Kunsthandwerk, die Kunst, die aufgrund maschineller Massenproduktion vergessenen Fähigkeiten zurückgewonnen und entwickeln diese von Generation zu Generation weiter, werden perfektioniert. Es gibt keine Fabriken mehr, man trifft sich gegebenenfalls in vereinigten Werkstätten zur gemeinschaftlichen Arbeit. Arbeit, Kreativität und dadurch entstehende Befriedigung und Identifikation mit dem Hergestellten oder Geleisteten haben die Gedanken an einen monetären Gegenwert verdrängt. Da es aufgrund des Fehlens von Geld oder eines auf Tauschbasis funktionierenden Marktes keine monetäre oder vergleichsbedingte Wertigkeit der Güter mehr gibt, ist das durch die sinnvolle, befriedigende Arbeit erfüllte Leben selbst Belohnung genug. Güter werden an die Menschen verschenkt,die sie benötigen und sich an ihnen erfreuen können.
Gegenseitige Hilfe, besonders in landwirtschaftlichen Saisonzeiten ist obligat, doch immer auch freiwillig und kommt als fröhliche Freizeit auf dem Lande daher.
Die Schönheit der Lebensumstände hat sich auch auf die jugendliche Schönheit der Menschen übertragen, da sie alle aus einer durch Freiheit, (eine für das 19. Jahrhundert erstaunlich freie und gleichberechtigte) Liebe und Vernunft bestimmten Beziehung entstanden sind. Frauen sind selbstbestimmt, selbstbewusst und gleichberechtigt, wenngleich die Aufteilung der Arbeiten der Erwachsenen eher einem klassischen Modell der Geschlechterrollen zu entsprechen scheint.
Kinder wachsen in einem antiautoritärem Umfeld auf und das Wort „Erziehung“ hat sich in ein Fremdwort verwandelt. Somit sind auch Schulen obsolet. Der Begleiter Guests, Dick, formuliert es, nachdem er augenzwinkernd nachfragte, warum denn nicht auch alte Leute erzogen würden, so:
Aber ich kann Ihnen immerhin versichern, dass unsere Kinder etwas lernen, ohne dass sie durch eine Lehr- oder Unterweisungssystem zu gehen haben. Ei, nicht eines dieser Kinder sollten Sie finden, Junge oder Mädchen, das nicht schwimmen, nicht eines, das sich nicht auf kleinen Waldponys zu tummeln verstände […]! Kochen können sie durch die Bank, die größeren Jungen können nähen, viele können Dachdecken und verrichten allerhand Tischlerarbeit oder sie verstehen sich auf sonst einen Hantierung. […]Allein ich begreife wohl, dass Sie von Büchergelehrsamkeit reden, und die ist doch eine einfache Sache. Die meisten Kinder, welche Bücher umherliegen sehen, bekommen es schon mit vier Jahren fertig zu lesen […] Fremdsprachen werden über den zahlreichen Kontakt mit ausländischen Gästen gelernt und bezüglich historischen Wissens heißt es, […]viele forschen nach dem Urspung der Dinge, nach den Gesetzen und der Verkettung von Ursache und Wirkung, – sodass Wissen und Kenntnisse unter uns zunehmen[…]. Andere wiederum […] verbringen ihre Zeit mit Mathematik. Es ist ja doch unnütz, die Neigungen der Menschen zwingen zu wollen.
So friedlich und harmonisch es in dieser Utopie zugeht, so konnte sich William Morris deren Entstehen keinesfalls in einem langsamen, evolutionärem Prozess vorstellen. Wie er ausführlich beschreibt, musste es ein harter, über mehrere Jahre viele Opfer fordernder Bürgerkrieg sein, der andauerte, bis Hoffnung und Lust ihm ein Ziel setzten führte zur Revolution im eigentlichen Sinne. Ohne den totale Zusammenbruch des alten Systems und seiner partiellen Privilegien und scheinbar allgemeinen Vorzüge der kapitalistischen Ordnung sieht Morris demnach aufgrund des Fehlens eines gemeinsamen Zieles Aller keine Chance auf einen Wandel zum idealen Staat. Mit dieser Überzeugung steht er nicht allein, wie neuere Utopien – und leider auch Dystopien, die beispielsweise eine nach einem nuklearen Fallout entstandene Gesellschaftsordnung (oder Unordnung) beschreiben. Immerhin erwacht William Guest am Ende des Romans – zwar etwas traurig, weil sich neben der angenehmen neuen Gesellschaftsordnung gerade eine Liebesgeschichte andeutete – wieder in seiner gewohnten Umgebung, um seinen Zeitgenossen in zukünftigen revolutionären Diskussionen das Bild und die Hoffnung auf einen idealen Zukunftsstaat vermitteln zu können.
Wir dürfen uns heute entscheiden, ob wir Ballemys oder Morris‘ Utopie näher stehen. Beide geben uns – so konträr sie sich gegenseitig verstanden – die Möglichkeit, eigene Variationen einer gerechten, friedlichen und zufriedenen Welt zu entwickeln, die einen wirklichen Fortschritt jenseits unseres neoliberalen Alltags bedeutet, in dem uns Zufriedenheit als Stillstand „verkauft“ wird. Der Ansatz, dass nur Hoffnung und Lust Ziele setzen, ist kein schlechter. Aber funktioniert das wirklich erst nach dem totalen Zusammenbruch?
Um der Antwort auf diese und andere Fragen näher zu kommen, empfehle ich nicht zuletzt aufgrund der dort enthaltenen Zusatzinformationen die im Golkona-Verlag erschienene Ausgabe der „Kunde von Nirgendwo“ von William Morris, die Sie bei jedem lokalen Buchhändler erwerben können.
Morris charakterisierte Bellamys Zukunftsentwurf als stark national zentralisierten Staatskommunismus, als gesellschaftliche Maschinerie zwischen Arbeitszwang und Verpflichtung zur Aufgabe der Arbeit mit 45 Jahren. Zudem hielt er die urban geprägten Lebensräume angesichts der realen Wohnverhältnisse in den Ballungszentren, für nicht erstrebenswert und lehnte den vermehrten Einsatz von Maschinen zur Verringerung der menschlichen Arbeitszeit sinnlos ab. Morris glaubte, dass das Ideal der Zukunft nicht in einer Verringerung der menschlichen Anstrengungen durch die Reduzierung des Arbeitsumfangs auf ein Minimum bestehen wird, sondern in einer Reduzierung der „Mühen“ der Arbeit auf ein Minimum, das so klein ist, das sie aufhören,Mühen zu sein; in einem Gewinn an Menschlichkeit, von dem nur geträumt werden kann, bis die Menschen noch gleichberechtigter geworden sind, als es ihnen Mr. Bellamys Utopie gestattet,[…].
Mit der „Kunde von Nirgendwo“ formulierte William Morris seinen in der Rezension angedeuteten Gegenentwurf zum „Rückblick“.
Sein in London lebender Ich-Erzähler William Die namentliche Ähnlichkeit mit Bellamys Julian West ist ganz sicher kein Zufall. Außerdem weist der Name gleichzeitig auf den Autor selbst und die Gastrolle des Protagonisten in Morris‘ Utopie hin.