Gesundheit! Danke.
Dieser Text stammt aus dem Jahre 2007. Aktuell dürfte er auch weiterhin sein, wenngleich inzwischen einige Kratzer im Image von Bankern und anderen Anzugträgern zu finden sein dürften, denen nachzeifern der Jugend damals recht leich fiel. Mir sind jedenfalls kompetente Menschen im lässigen Outfit und mit lauteren Manieren lieber als schnieke Blender.
Wenn ich also heute eine Bank, ein Versicherungsgebäude oder einen Handyshop betrete, denke ich immer an diesen Text und an den armen Herrn Knigge.
— — —
Gesundheit!
Sie antworteten mit einem Lächeln, meine Dame. Das freut mich sehr. Schließlich kennen wir uns nicht. Schließlich werden wir uns wahrscheinlich niemals wieder begegnen, wie Sie auch in diesem Augenblick bereits aus meinem Gesichtskreis verschwunden sind. Allzu viele Menschen eilen durch diesen Ort und unsere Begegnung währte eine, vielleicht zwei, höchstens drei Sekunden. Keinesfalls mehr.
Sie mussten niesen,
ich schaute mich um,
empfand Sympathie,
ganz unverfänglich,
wünschte: Gesundheit,
sah ein Lächeln, darin das Andeuten eines:
Danke!
Es blieb
Ihr Verschwinden und meine Freude
Mensch zu sein.
Nun hörte ich jüngst eine Radiosendung, in der berichtet wurde, wie ein mittelständischer Unternehmer seine Angestellten in eine Benimmschule schickte. Auch hörte ich, wie „angesagt“ der Knigge samt seiner Urgroßenkel wieder sei, dass gepflegte Umgangsformen gefordert, gewünscht und geschult gehörten und entsprechende Umgangsschulen gehörig „boomten“.
Meine Unbekannte, das passt ins Bild. Kaum fertigpubertierte Jungen begegnen mir schon morgens in adretten Anzügen, mit geschickt gebundener Krawatte über blauem Businesshemd. Mädchen, gestern noch nabelfrei kichernd, staksen im mehr als dezenten Kostüm einer Museumswärterin, mit damenhaften Nylons und nicht zu hohen Pumps ins „Office“. Sie kleiden sich so, weil es ihr Chef so will, weil Kunden es so erwarten, weil am Duft der großen und weiten Businesswelt, seine ungeschrieben akzeptierten Gesetze, die Hoffnung auf eine irgendwann einsetzende Gehaltszahlung, nur im standesgemäßen Outfit gerochen werden kann. Anpassung, früher als Fluch des Alters verpönt, gilt als opportunes Mittel zum Erfolg. Womöglich auch als Aufbäumen gegen die Schlampigkeit der Alten, die doch glatt ohne „vernünftige“ Kleidung die Welt verbessern wollten? Wie hat sich doch die Welt verdreht, als Joschka Fischer die Lederjacke auszog!
Ach, ich selbst, meine Dame, bin nicht alt genug, ein Alt-Achtundsechziger zu sein und doch schon so alt, die neuerdings sogar freiwillig in die Tanzschulen strömende Jugend in meiner ungerechten Verallgemeinerung, der für mich so gestrigen Art des Spießertums zu bezichtigen.
Es gehören zu standesgemäßer Kleidung der „neuen“ ökonomischen Stände entsprechende Umgangsformen. Allein äußere Umgangsformen – Etiketten eben – sind gemeint, denn Innerlichkeit, das, was drinnen vorgeht, wenn es nicht der Überzeugung des eigenen Tuns entspricht, ist irrelevant und im real existierenden Wirtschaftsleben störend, bremsend, gar kontraproduktiv und lästig. Individualität, Abweichen vom Verhalten des Standes könnte falsch verstanden werden, es könnte an (un-?)geeigneter Stelle als unpassend unangenehm auffallen, es könnte die noch gar nicht gestartete Karriere jäh beenden. Da hilft nur Schulung! Denn wer vor einem halben Jahr auf den Bus zur Schule wartend, noch den Boden des Haltestellenhäuschens mit welligen Pfützen eigener Rotze dekorierte, wird ahnen, was im gerade entdecken Reich der Träume, der Vorstandsetage eines weltumspannenden Unternehmens, Sitte und Anstand bedeutet?
Nein, meine Dame, wie Sie erahnen, geht es mir nicht um ein Anprangern guten Benehmens. Jener nicht ausformulierten Regeln des Zusammenlebens, die sich während ungezählter Generationen herausbildeten und sich ihnen anpassten, dieser Spielregeln, der sich die Mehrheit einer Kulturgemeinschaft freiwillig unterzieht. Gutes Benehmen ist keine Glücksache! Es erfordert allein eine gewisse Empathie, Rücksichtnahme und gelassenes Hinnehmens kleiner Unzulänglichkeiten anderer Zeitgenossen, in Summa eine kleine Ausgabe des kategorischen Imperativs.
„Man“, verzeihen Sie, meine Dame, diese Derbheit, pinkelt nicht in der Öffentlichkeit an Hauswände, wie auch der Geschlechtsverkehr in der vollbesetzten Straßenbahn als ungehörig anzusehen ist. Das Popeln bei Tisch fördert nicht den Appetit des Gegenübers und wenn man jemanden anrempelt, sollte man um Verzeihung bitten, wie auch laute Musik, gleich welcher stilistischen Richtung, um drei Uhr nachts vom Nachbarn in der Regel als störend empfunden wird. Sogar der Umgang mit dem meist angebotenen Besteck sollte – möglichst schon im Kindesalter – geübt werden, obgleich ich Kenntnisse über das Hantieren mit einem Spezialwerkzeug, wie der Hummerzange für nicht unbedingt erforderlich halte.
So dürfte nicht einmal das Nachfragen, wie mit dem Gerät zu verfahren sei, als peinlich empfunden werden und erst recht nicht zum Beleg schlechten Benehmens reichen. Schließlich gehört das große Krebsgetier nicht zur mitteleuropäischen Standardkost, zumal ich eher die Frauen der Fischer als Fachleute in der Zubereitung und im Verspeisen von Hummer akzeptiere, als ein Vorstandsmitglied der Deutschen Bank. Ob die Fischersfrau jemals eine Hummerzange besaß? Was meinen sie? Haben Familie Fischers Tischsitten als barbarisiert zu gelten?
Es gilt wieder „fein“ zu sein. Die oder der Einzelne sehnt sich nach… – sagen wir – Aristokratie und ich glaube, meine Dame, den Ursprung zu kennen.
Es sprießen Benimmschulen aus dem in der längst vergessenen Kohl-Ära bereiteten Boden, den die rot-grüne Koalition, wenn überhaupt, nicht tief genug umzugraben wusste. Leistung, so die über alles stehende Aussage zur Zeit der konservativen „Wende“, die nur in einer zeitgemäßen(?), allein an Zahlen orientierten Form zu definieren war, hatte sich wieder zu lohnen. Das Individuum als Leistungsträger hatte sich als Einzelkämpfer zu verstehen, die Gesellschaft wurde zum bloßen Objekt opportunen Handelns, zum Markt, zur Arena.
So ist es noch heute. So schicken Unternehmer ihre in ihren Augen ungehobelten, nicht genügend markt-, arena-, in ihrem Opportunismus uniformen Angestellten in Fortbildungsseminare – mit dem Ziel, sich geeignet auf jedem hochglanzpolierten Parkett bewegen zu können. Die Konkurrenz, die Kundschaft, die sogenannten Partner können mit Hummerzange hantieren, erwarten solches auch von ihnen. Und die Geschulten fühlen sich geehrt, dürfen sich, so glauben sie, endlich mit „feinen Leuten“ messen, an den vermeintlichen Fähigkeiten klassischer Prominenz, wie man sie im Fernsehen oder der Bunten sieht, laben. Dabei will man von ihnen nur, dass sie besser, also mehr verkaufen, den Kunden, den „Partnern“ mit ihrem angehobenen Benimm, diesem mit Brillanten besetzten Schlauch, die gleiche alte Plörre wie im letzten Jahr andrehen. Es ist doch wahr, meine Dame!
Was kann Herr Knigge dafür?
Die Schulen der Umgangsformen, es sind letzthin Unternehmensberatungen hinter neuem Etikett, die gutes Geld verdienen, berufen sich stets auf modernisierte Regeln und auf den Namen des Adolph Freiherrn Knigge und seinem „Über den Umgang mit Menschen“ – und schon haben sie die Benimmrechte gepachtet.
Doch wer verpachtet das gebührliche Verhalten? Kann das nicht nur die Gesellschaft, die große Lebensgemeinschaft selbst sein, in der diese Schulen, wie auch die Verfasser heutiger „Knigges“ sind.
Niemand dürfte, auch ich will es nicht, kritisieren, wenn sich Menschen darangeben, die ungeschriebenen Gesetze festzuhalten, zu formulieren und somit mit denen anderer Kulturen vergleichbar oder unvergleichbar zu machen. Dafür ist die Geschichte der Entstehung, der wissenschaftliche Vergleich viel zu interessant und dem Verständnis untereinander förderlich. Doch möchte ich kritisieren, wenn sich Menschen zu Wächtern des guten Geschmacks, des guten Benehmens erheben. Gerade dann, wenn es über die Aspekte der – zugegeben – leider oft unzureichenden elterlichen und schulischen Erziehung hinausgeht.
So bin ich kurz vor dem ersehnten Ende, meine unbekannte Dame, doch im Grunde wieder am Anfang meines Pamphlets und muss von neuem beginnen.
Ich bin wieder bei der Begegnung mit der unbekannten, niesenden, sympathischen Dame und auch bei der Radiosendung angelangt, in der ein Beispiel angesprochen wurde, das den Ursprung meiner Geschichte zutiefst betrifft.
Man sprach „Das Niesen in der Öffentlichkeit“ an – welche Dramatisierung ist dieser Zwischentitel doch an sich! Die heutzutage angesagte, nein, von der Kniggelehrerschaft angesagte Form der Verhaltens(maß)regel im Bemerkungsfall wurde endlich thematisiert.
Und was kam, meine Dame, hörte sich nahezu wörtlich so an, wie es auf der in deren Sinne höchstnotwendigen Internetplattform namens www.knigge.de verkündet wird:
„Muss man selbst, oder aber eine andere Person in einem Raum niesen, ignoriert man dies als einen unerheblichen Zwischenfall. Dieser sollte nicht durch ein schallendes „Gesundheit!“ zu einem Drama gesundheitlichen Verfalls verfremdet werden.
Dies gilt übrigens ganz Allgemein für sehr viele Spielarten von Missgeschicken (umgestoßenes Weinglas, Saucenspritzer auf der Krawatte/ Bluse, eine ungewollt unpassende Bemerkung uvm.), die man geflissentlich übersieht, statt mit vehementer Anteilnahme die ohnehin schon unangenehme Situation noch zu dramatisieren.
Im gegebenen Fall werden die unmittelbar Beteiligten sich unter vier Augen, d.h. unter Ausschluss der Beteiligung der gesamten Gesellschaft über eine Entschuldigung und deren Gewährung in stilvoller Weise einigen können, womit die Angelegenheit dann unauffällig erledigt ist.“
Wie bescheuert, ich bitte ob meines wiederholten Echauffierens erneut um Verzeihung, muss die Menschheit eigentlich noch werden? Ein harmloser Nieser wird als Fauxpas gewertet? Und die der Wahrnehmung dieser höchst menschlichen Riechorganreizung folgende Reaktion mit einen kurzen „Gesundheit!“ soll die Situation zu einem Drama verfremden? Und dann soll sich der Nieser oder die Nieserin auch noch hinterher „unter vier Augen […] über eine Entschuldigung und deren Gewährung in stilvoller Weise einigen“? Hat hier jemand dramatisiert? Und wenn ja, wer?
Meine Dame, Sie haben gelächelt. Sie mögen auch nach obigem Zitat gelächelt haben. Sie mögen auch – kein Zweifel meinerseits – über gute Manieren verfügen und haben mich dennoch nicht angeschaut, als hätte ich Sie nach einem Missgeschick erwischt. Sie haben mich nur freundlich lächelnd angesehen, nickten kurz und deuteten einen dezenten Dank an. Sie zeigten mir eines und so möchte ich es interpretieren:
Es wird auch heute noch für ein Zeichen der Höflichkeit gehalten, einem Menschen zu zeigen, dass man ihn wahrgenommen hat und ihm trotz seiner Fremdheit zuerst einmal wohlgesonnen ist, dass man ihm nach einem Niesen das wünscht, was allenthalben als zweithöchstes Gut nach dem Leben selbst erachtet wird. Gesundheit!
Verstehen Sie mich recht. Einem vom Heuschnupfen gepeinigten Dauernieser werde ich nicht mit ständigen Reaktionen auf sein Leiden nerven. Das ginge auch am Thema vorbei.
Doch auch ich selbst, wenn meine Nase kitzelt und sie sich zur kleinen Explosion in aller Öffentlichkeit entschließt, freue mich über ein „Gesundheit!“ aus unerwarteter Ecke. Für ein Missgeschick oder gar für ein Vergehen halte ich mein Niesen nicht. Schuldgefühle, wie sie mir die fehlgeleiteten Jünger Knigges einreden wollen, kenne ich in diesem Zusammenhang nicht.
Wenn ich hingegen ein Weinglas umstoße, dann sorge ich mich um eine Eindämmung des Schadens und werde nach Tüchern oder ähnlichen Hilfsmitteln fragen. Dann bitte ich bei der Gastgeberin oder dem Gastgeber um Verzeihung und werde mich ohne viel Aufhebens über bezüglich der Reinigungskosten einigen. Auch bei einem wirklichen Fauxpas ist in der Regel kein großes Theater erforderlich. (Ganz nebenbei bemerkt: wir leben in einer Zeit der massenmedialen Entschuldigungsinflation.) Vielleicht sollte man, liebe Kniggianerinnen und Kniggianer, an ganz anderen Stellen einmal lehren, dass sich niemand selbst entschuldigen kann, sondern immer nur um Verzeihung oder Entschuldigung bitten!
Wären wir nun in Zeiten des Freiherrn Knigge, dann hätte ich, meine Dame, Ihnen sicherlich ein sauberes und gestärktes Tuch gereicht, hätte ihnen ebenso wie heute „Gesundheit!“ gewünscht. Sie hätten mich vielleicht etwas schüchterner als in moderner Zeit angelächelt und wären mit einem kurzen Nicken des Dankes mit meinem Tuche entschwunden. Ich hätte es gern gegeben und keine Entschuldigung erwartet.
Ob wir beide in den Augen Meister Knigges richtig gehandelt hätten?
Leider habe ich beim Durchstöbern seines ebenso oft zitierten wie unbekannten Werkes „Über den Umgang mit Menschen“ keine Bemerkung übers Niesen gefunden, doch bin ich sicher, dass wir so falsch nicht liegen können. Und wenn, dann ist es mir auch egal, denn Sie, Madame, haben gelächelt.
So möchte ich Ihnen zum wirklichen Abschluss E.T.A. Hoffmann andienen, wie er in die Rolle des Katers Murr schlüpft, der die wahre Zielgruppe des kniggschen Anstandswerkes erkennend sagt:
„Es war, wie ich später erfuhr, Knigge „Über den Umgang mit Menschen“, und ich habe aus diesem herrlichen Buch viel Lebensweisheit geschöpft. Es ist so recht aus meiner Seele geschrieben und passt überhaupt für Kater, die in der menschlichen Gesellschaft etwas gelten wollen, ganz ungemein. Diese Tendenz des Buchs ist, soviel ich weiß, bisher übersehen und daher zuweilen das falsche Urteil gefällt worden, dass der Mensch, der sich ganz genau an die im Buch aufgestellten Regeln halten wollte, notwendig überall als ein steifer herzloser Pedant auftreten müsse.“
Demnächst meine Dame, werde ich Ihnen gestehen, wie eklig ich es finde, wenn jemand sein Brotstück mit beiden Händen bis zur Unkenntlichkeit atomisiert und den Restkrümel danach bei gespreiztem kleinen Finger zwischen Daumen und Zeigefinger pinzettiert in seinen Mund bugsiert. Dabei ist ein kraftvoller Biss ohne künstliches Gehabe in der Regel weitaus appetitlicher anzusehen. Und er berichtet nicht von schlechten Manieren, sondern von einer positiven Eigenschaft der oder des Essenden: Sie oder er kennt und liebt den Genuss.
Vielleicht schreibe ich dereinst einen eigenen Knigge und biete überteuerte Seminare für die armen und verirrten Seelen der Chefetagen. Aber Sie, meine Liebe, können sich Lektüre wie Kosten mangels Bedarf ganz sicher sparen.
„Über den Umgang mit Menschen“, den Ur-Knigge also erhalten Sie im örtlichen Buchhandel. Dort finden Sie selbstverständlich auch E.T.A. Hoffmanns Lebensansichten des Kater Murr.
© Dirk Jürgensen – Veröffentlichungen des Texts, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.