Brot und Spiele ohne Brot

von Dirk Jürgensen ...

Friedlicher Nationalismus?

Ich gebe es ja zu: Auch ich habe Spaß an der Fußball-WM.

Nationales Nervensägen - Überall SRGDoch manchmal überfällt mich eine Angst. Immer dann, wenn vor dem Spiel von Mal zu Mal inbrünstiger die Hymne eines Landes gesungen wird, wie es mir beim spielerisch begeisternden Achtelfinalspiel zwischen Brasilien und Uruguay besonders aufgefallen ist. Ja, es herrscht in den Stadien dieser WM ein friedliches Gemisch verschiedenster (oder doch immer wieder gleichartiger?) Nationalismen. Diese WM bietet uns ein klassisches und immer deutlicher werdendes Bild, dass ein Volk mit Spiel und Nationalstolz erfolgreich davon abgehalten kann, nach Brot zu schreien. Brasilien – nur ein Beispiel – ist ein stolzes Land mit stolzen Menschen.

Aber was bedeutet dieser Stolz?

Worauf beruht sich dieser Stolz und was macht ihn zum Opiat? Die Fähigkeiten einiger Fußballspieler können eigentlich nicht ausreichend sein, um ihn zu begründen. Sie sind es aber, wie es scheint. Wo sind all die Proteste gegen die Regierung, gegen die Korruption, gegen die Machenschaften der Fifa, den Bau ungemein teurer Stadien und das gleichzeitige Vertreiben der Ärmsten aus ihren Favelas geblieben? Kann erst ein Ausscheiden der Mannschaft Brasiliens, sagen wir aufgrund eines offensichtlichen Versagens des Heilbringers Neymar, den Betrug aufdecken, das Aufbegehren aufflammen lassen? Was sollen wir hoffen? Menschen, die unter der Einwirkung von Opium stehen sind friedlich, doch wir wissen nicht, wie lange die Wirkung der Droge anhält und ihnen auffällt, dass Nationalstolz auf Dauer kein Brot ersetzen kann.

Der bei der WM gezeigte Nationalismus ist ein friedlicher. Die Fans aus allen Ländern feiern mehr oder weniger gemeinsam in ihren Trikots. Doch immer ist Nationalismus ein Tanz auf der Rasierklinge, kann schnell umschlagen. Ein kleiner Fehltritt aus Angst, Überheblichkeit oder individueller Dummheit ist tödlich und niemand ist in der Lage seine Art und seinen Zeitpunkt vorherzusagen. Das begründet meine Angst, wenn ich die Inbrunst erlebe, in der die nationalen Hymnen vorgetragen werden. Dazu muss ich noch nicht einmal an all das erinnern, was der Nationalismus zwischen Sarajevo 1914 und der Ukraine 2014 angerichtet hat.

Die Fifa lässt Banner der Fans abhängen. Sei es, um teuer bezahlte Werbebanner sichtbar zu halten, sei es aus dem verständlichen Geist heraus, nationale Symbole aus der (vorgeblich?) unpolitischen Veranstaltung herauszuhalten. Sie lässt auch Banner entfernen, die sich gegen Rassismus und politische Unterdrückung richten. Aber sie lässt vor jedem Spiel eine Nationalhymne spielen, die immmer ein politisches Symbol darstellt und oftmals sehr martialisch und die Nation verherrlichend daherkommt. Ich halte das für einen Widerspruch.

Ich träume von einer Fußball-Weltmeisterschaft ohne Nationalhymnen im Russland des Jahres 2018 und weiß, dass Träume gar keinen Sarkasmus kennen.

 

Lesen Sie weiter, wie mich dieses Thema bereits 2006 anlässlich des beginnenden „Sommermärchens“ beschäftigte: Nationales Nervensägen

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