Das Institut

Gedanken nach einem Spaziergang entlang einer 1b-Lage

Meistens schließen Läden. 1b-Lagen sind schwer zu vermieten. Doch manchmal werden auch neue Geschäfte eröffnet. Und eben ging ich ein paar Karrees von meiner Wohnung entfernt an einem solchen frisch eröffneten Laden vorbei. Seine Schaufenstergestaltung suggerierte mir eine Branche, die sich irgendwo im Viereck Lohnsteuerhilfeverein / Zahnarztpraxis / Kontaktlinsenvermittler / Nagelstudio befand. Dem Reklameschild nach handelte es sich um ein:

Institut für dauerhafte Haarentfernung.

„Der Grund einer jeglichen Existenz erschließt sich niemandem“, könnte ein Denker gesagt haben. Ich sagte im Vorübergehen gar nichts und denke jetzt „Nun ja!“ oder eher fragend „Häh? … Ein Institut lässt etwas Wissenschaftliches, etwas Öffentliches und auch Offizielles vermuten.“ Doch erinnere ich mich ebenso daran, dass es in der bunten Welt der Institute auch welche zum Zwecke der – in gar nicht so seltenen Fällen wiederholten – Eheanbahnung und/oder zum Zwecke der leider einmaligen Bestattung gibt.
Ja, Begriffe lassen sich beugen und schlechte Zeiten verlangen Phantasie. Besonders im marktwirtschaftlichen Überlebenskampf.

Überlebenskampf? Ich bin fast fünfzig Jahre alt, leider gesamtökonomisch verantwortungslos dienstleistungsresistent, und verstehe partout nicht jede Werbebotschaft auf Anhieb. Ich lehne telefonisch erklärte Gewinnchancen und supergünstige Telefonvertragsupdates regelmäßig ab, habe eine Ehe ohne vorherige institutionelle Anbahnung final enttäuscht hinter mich gebracht und interessiere mich aufgrund blühender Gesundheit und zeitweise mangelhafter Verantwortung gegenüber meiner zukünftigen Hinterbliebenen noch nicht sonderlich für meine unvermeidliche, aber hoffentlich im mehr als mittelfristigen Zeitrahmen bevorstehende Bestattung verantwortlich. Als ich sehr jung war und mir noch wesentlich kürzere Sätze missrieten, träumte fast jeder meines Alters davon, einen Plattenladen zu eröffnen. Hätten wir Gleichgesinnten es getan, dann würde die Zahl der Plattenläden pro Stadtteil ungefähr der heutigen Dichte von Frisiersalons entsprechen.

In diesen Tagen werden Träume – so schräg (und die Pleite der Träumenden vorhersehbar vorantreibend) sie auch sein mögen – verwirklicht. Und ich muss feststellen, dass es heutzutage in diesem wirr zwischen Dauerarbeitslosigkeit und Dienstleistungsgesellschaft umherhuschenden Geiste auch Geschäftsideen gibt, die in vergangener Zeit – und vollkommen unkommerzialisiert – alleinige Sache der Natur waren. Sie visierten Segmente des schillernden Marktes an, in denen ich mich – kurz gesagt – nicht aufhalte.

Ein Beispiel für meine Zielgruppenferne für das oben angesprochene

Institut für dauerhafte Haarentfernung

sehe ich – Sie erfuhren vorhin übrigens meine erfahrungsgemäß für Vermarktungsstrategen unbedeutende, aber stetig anwachsende Altersklasse – jeden Morgen (natürlich auch abends) im Spiegel meines Badezimmers. Zwar kann ich mich noch längst nicht als kahlköpfig bezeichnen, aber dennoch muss ich feststellen, dass sich ein wesentlicher Teil meines Haarschopfes seit geraumer Zeit, Schritt für Schritt, stillschweigend und ohne Zuhilfenahme jeglicher kompetenter Beratung, davongemacht hat. Nicht, dass Sie mich missverstehen: Der soeben beschriebene Vorgang bedeutet für mich nicht das geringste Problem. Da lasse ich mir auch keines einreden. Ich finde mich sogar in der jetzigen – zu großen Teilen enthaarten – Schädeloptik weitaus attraktiver als zum Zeitpunkt der Kaum HaareAufnahme jener vermaledeiten alten Fotos mit dieser strähnigen Siebzigerjahrefrisur im unfreiwillig nachgeahmten Stile eines Günter Netzers.
Einerseits wollte ich solche Bilddokumente gerne verschwinden lassen, doch ich sehe andererseits einen Vorteil in ihrer farblich bedenklich changierenden Existenz, denn einige Männer meines Alters scheinen solche Schreckensbilder, welche mir immer wieder „Das Alter hat auch Vorteile!“ zurufen, nicht mehr in ihrer Schublade zu finden. Anders ist deren Frust anlässlich des vollkommen normalen Haarverlustes und sentimentalen Vergangenheitsidealisierens wohl nicht zu erklären. Therapeuten, Haarersatzlieferanten oder wenigstens Hersteller klebstoffverwandter Haargels zur Fixierung überlanger Schläfensträhnen oberhalb einer sich immer höher schiebenden Stirn, leben samt Familie und einer gerade noch überschaubaren Angestelltenschar – wie sie die Statistik für einen typischen Vertreter mittelständischer Unternehmen kennt – hervorragend davon. Ich gönne ihnen ihr Geschäft. Verstehen kann ich den nostalgischen Hang zur eigenen Jugendlichkeit jedoch nicht.

Ebenso ist es mir ein Rätsel, warum jugendliche oder auch ältere, hormonell, genetisch oder umweltbedingt mit dauerhaftem Kopfbewuchs bedachte Zeitgenossen dem Haarausfall unbedingt in einem Institut, wie dem jüngst eröffneten, Vorschub leisten wollen. „Jungens!“ möchte ich aufrufen, „Haare sind in Ordnung, wenn sie wachsen, denn heute muss niemand mehr wie Günter Netzer 1974 aussehen. Höchstens Günter Netzer.“

Wer Haare als störend empfindet und wem der Jahrmarktsjob als Wolfmensch, der Menschen mit kräftigster Ganzkörperbehaarung ein genügendes Auskommen sichern kann, nicht behagt, dem gab Gott einen Rasierapparat in die Hand. Wankelmütigen bietet dieses Gerät übrigens die Chance des Nicht-Dauerhaften! Zu gerne würde ich die Tränen der Heulsusenpartei unter den Kahlen trocknen: „Eure Glatze ist in Ordnung, wenn sie natürlich „wächst“ und glaubt mir: Die Frauen stehen drauf! Nur bedarf sie – endlich ein Nachteil! – angesichts der jährlich stärker brennenden Sonne von Zeit zu Zeit einer geeigneten Bedeckung oder Ölung.“

Da fällt mir ein, dass ich mich vor drei Tagen zum letzten Mal rasiert habe.

Ich reibe mehrmals mit der Hand über mein Kinn. Mal mit und – was für ein Genuss gefühlter Männlichkeit! – auch kräftig gegen den Strich.
Ein Blick auf die Uhr.

Gleich kommt meine Liebste nach Hause. Das ist aber auch lästig!

Natürlich nicht, dass die Gute nach Hause kommt, sondern dieses ständige Rasieren.

Warum gibt es eigentlich keinen Haarausfall im Gesicht? – Ich frage morgen mal nach, ob man da was machen kann, beim

Institut für dauerhafte Haarentfernung.

 

Ersterscheinungsdatum: 24.11.2006 – zuerst auf Einseitig.info

© Dirk Jürgensen – Veröffentlichungen des Texts, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.

 

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