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Menschenskind

 von Maria Jürgensen …

Jeder gesunde Mensch erzähle sich die Geschichte seines Lebens selbst, doziert der Mann im weißen Kittel und Thijs Vanderbeke bemüht sich darum, ihn wiederzuerkennen. Vertraulichkeit. Seinen Blickkontakt suchen. Aufmunterndes Nicken. Er pocht mit dem Kugelschreiber auf den Schreibtisch und Thijs folgt seinem Rhythmus. Denk.Nach. Denk.Nach.Denk.Nach.

Der Arzt erläutert, der Faden zu seiner Geschichte sei lediglich gerissen und es gelte, die einzelnen Versatzstücke wieder miteinander zu verknoten. Das brauche Zeit und Geduld. Immerhin seien Teile seines alten Lebens in seiner Erinnerung vorhanden und er habe nicht alles verloren. „Es gibt viel Anlass zur Hoffnung, Herr Vanderbeke,“ betont er, „Sie werden bald wieder segeln, um die Welt reisen und Ihre Reportagen schreiben können.“ Kursverlust. Eine gerissene, alte, undichte Maschine, die sich nicht mehr zusammenhalten lässt, das ist er. Schraube locker. Jemand hat auf eine Taste gedrückt und das Band angehalten.

Ein Boot segelt übers Wasser. Jemand lässt ein Lot hinunter. Schwärze. Früher. Jetzt. Helene. Später. Alles eins. Man weiß, wer man ist, wenn man darüber nachdenken kann. Denk.Nach.Denk.Nach. Hände schütteln. Wie hieß er doch gleich?

Vrouwenpolder © Jürgensen - DüsseldorfEr bewegt sich nicht. Blut läuft aus seiner Nase. Am neunten Juni Zweitausendsechzehn wird Thijs Vanderbeke, jemand, der weiß, wo es langgeht, mit einer Gehirnerschütterung in ein Krankenhaus in Panama eingeliefert. Der unerschütterliche Fels in der Brandung ist auf einen unerschütterlichen Fels in der Brandung getroffen. Ein weiches Gesicht mit großen, graugrünen Augen sieht ihn besorgt an, als er nach dem Unfall in einem breiten, drahtig knirschenden Bett erwacht. Vier Wochen Schwarz. Jeder Tag ist ein neuer Tag, an dem er sich nicht mehr an den vorherigen erinnern kann. Helene. Sie streichelt seine Stirn und seine Hände. Er fragt sie nach dem Aufwachen, ob sie wisse, was mit seinem Auto passiert und ob er Schuld am Unfall gewesen sei. „Segelboot“, antwortete sie nur, „es war dein Segelboot, Schatz.“ Schatz, denkt er. Einmal hat der Arzt den Versuch unternommen, sie einander ausführlich vorzustellen. Es konnte ja nicht sein, dass er seine eigene Frau vergaß. Wäre es nicht denkbar, dass das genauso wie vieles andere, was mit zunehmendem Abstand zum Geschehen wieder in seinem Gedächtnis auftauchte, plötzlich wieder da war? Das Gefühl für sie, die Liebe und Vertrautheit, ihr Name? Offenbar ist gerade dieser Gedanke für alle so unerträglich, dass sie sich an die Illusion klammern, eine simple Geschichte, eindringlich vorgetragen, verankere verlorene Identität und Gefühl. Helene will Hafen und Halt sein. Sie passe auf ihn auf, versichert sie ihm trotzig und er fragt sie täglich nach ihrem Namen. „Helene, verdammte Hacke,“ schreit sie ihn eines Morgens an. Da schreibt er ihren Namen auf ein Stück Papier, das er immer mit sich herumträgt. HELENE. Das hilft. Immerhin. Er vergisst immer weniger, auch den Zettel nicht. Und auch nicht den Kuss nach dem Aufstehen. Auf der Kommode neben dem Bett stehen jeden Tag frische Blumen. Sie spielen Scrabble. Sie lässt ihn Comics lesen, weil er bewegte Bilder auf Bildschirmen noch nicht verarbeiten kann. Beim Autofahren schließt Thijs die Augen und sieht ein Boot und ein Lot. Sie streichelt seine Arme und nimmt seine Hände. Ab und zu besuchen ihn die Freunde von früher. Er erinnert sich an die Gesichter und daran, wie sie sich kennenlernten. Thijs vermeidet Namen. Manchmal ist er sicher, seinen eigenen vergessen zu haben. Jeder nimmt eingehend Notiz von ihm und bleibt irritiert zurück, weil er irgendwie immer fehl am Platz wirkt und ihre Fragen nach seinem Befinden nicht wirklich beantworten kann. Das müssen andere für ihn tun. „Ich bin immer allein, selbst wenn jemand um mich herum ist“, sagt er zu Helene. Sie antwortet nicht. Aber er sieht, dass er sie arg verletzt hat. Dabei will er ihr nur erklären, dass sein innerer Monolog ständig abreißt. Es ist, als führe man ein Gespräch und vergäße im nächsten Augenblick, dass es überhaupt stattgefunden hat. Man kann nichts daraus mitnehmen, nichts lernen. Nicht sein. Er steht still, bewegt sich nie vom Fleck.

Der Unfall liegt inzwischen Monate zurück. Das Leben findet in unserem Inneren statt, sagt Helene und Thijs solle nachdenken, sich verdammt nochmal erinnern, sonst gehe ihr noch das letzte Bisschen verloren. Ich weiß, denkt er, ich weiß. „ Bist du nun tot oder bist du lebendig? Wer bist du überhaupt?,“ fragt sie. Das müsse ihn doch interessieren. Manchmal stampft sie mit den Füßen auf. Thijs joggt ums Haus. Er spielt Scrabble. Scrabble. Scrabble.

Das Schiff verliert das Gleichgewicht und Thijs mit ihm. Die Kajütenkante trifft seinen Hinterkopf. Er bleibt rücklings auf Deck liegen. Der Krankenwagen braucht eine Ewigkeit. „He’s bleeding like hell, for Gods sake,“ sein Steuermann legt eine Hand auf Thijs‘ Brust und ist erleichtert, als sein Atem sie hebt und senkt. Plattgewalzte Sprachfetzen säen sich in sein Hirn. Hear…me. Tell…here…rock…may…leak. Eine feine Quarte. Tonfolge A bis D. Sie sind da. Finally. Das Band schnurrt sanft vor sich hin, ein Motor tuckert in die Stille, erstirbt. Ruhe sanft in der Nacht. Ein paar Handgriffe genügen. Zwei Helfer heben ihn auf eine Trage, schließen ihn an ein Beatmungsgerät an und bringen ihn auf die Intensivstation des Fernando Perreira Krankenhauses in Colón. Fünf Tage, von denen kein einziger Fetzen Leben mehr übrig ist in seinem Kopf. Danach wird er nach Kortrijk ins Krankenhaus überführt. Helene ist bei ihm. Schatz, denkt er. „Ich würde dir gern alles erzählen,“ sagt er einem Freund,“aber ich weiß nichts mehr. Die Details musst du meine Frau fragen.“ Vier Wochen mit Wasser und Blut an Stellen im Gehirn, wo es nicht hingehört. Aber eine Gehirnblutung ist es nicht, sagt Helene. Auch einen bleibenden Gehirnschaden wird es nicht geben, weiß sie dem Freund zu berichten. Aber er erinnere sich nicht. An sie. Schon an ihre Vergangenheit. Da sei vieles da. Nicht alles. Die Erinnerung sei löchrig. Meist fehlten ihm die Namen und die Empfindungen dazu. Es ist, so sagt Thijs, als läge alles verklebt auf einem Haufen und könne nicht mehr voneinander getrennt werden. Als sei alles ein riesiges Bündel Papier, durchnässt vom Regen und mit verschwommenen Buchstaben. Ständig sei er auf der Suche nach den richtigen, den passenden Worten. Er erinnere sich an den Getränkeautomaten, der schräg gegenüber des Krankenhausfensters in einem Laden gestanden habe, sagt Helene. Vertraulichkeit. Seinen Blickkontakt suchen. Aufmunterndes Nicken. Sie pocht mit dem Zeigefinger auf die Sesselkante, schaut den Freund an. Denk.Nach.Denk.Nach.

Buchstaben © Jürgensen - DüsseldorfEr schreibt Tagebuch. Jeden Tag spaziert er zur Kommode, nimmt das Buch heraus und liest nach, was er am Tag davor gemacht hat, wer ihn besucht hat, was er isst. Thijs vergisst, dass er das, was da steht, tags zuvor hineingeschrieben hat. Aber er erkennt seine Handschrift. Scrabble. Helene streichelt seinen Arm und küsst ihn. Auch das schreibt Thijs auf. Sie ist seine Frau. Thijs weiß noch nicht, seit wann sie sich eigentlich kennen, kann sich aber an die Hochzeit erinnern.

Helene muss wieder zur Arbeit. Von irgendetwas müssen sie ja leben. Er kann noch nicht an den Computer zurück und schreiben. Das Tagebuch ist das, was er so gerade schafft. Sie hat einen Herd gekauft, der sich automatisch ausstellt, wenn er vergisst, die Platten auszuschalten.

Sein Nacken schmerzt. Es sind die ersten Schmerzen, an die er sich am nächsten Tag noch erinnern kann, seit er den Unfall hatte.

Und auch am übernächsten Tag weiß er noch, dass der Schmerz zwischen seinen Schulterblättern saß, sich dann allmählich hinaufzog bis in seinen Hinterkopf und sich gegen Abend verflüchtigte.

Thijs unternimmt nach dem Mittagessen am Montag oder Dienstag oder Mittwoch oder….einen kurzen Spaziergang am Strand von Vrouwenpolder, wo die Muscheln unter seinen Füßen knirschen und blutende Kerben in seine Versen ritzen. Das Meer dehnt sich in seiner ganzen Pracht vor ihm aus, die Möwen lärmen. In den Dünen begegnen ihm Wildpferde, eine weiße Dammhirschkuh und zwei Füchse. HELENE. Den Weg nach Haus trägt er in seiner Westentasche, notiert auf einem Blatt Papier.

Als Helene von der Arbeit zurückkommt, liegt er auf dem Sofa und träumt, von einem, der am Strand spazieren geht und einem, der ihm jeden Tag sagt, wer er ist. Da ist ein Boot auf dem innehaltenden Meer. Es sucht einen Weg zum Ankerplatz,ohne auf die Felsen oder eine Sandbank zu fahren. Wie ein Stück Holz, das man mit dem kleinen Finger über das Wasser dirigiert, gleitet das Schiff schwerfällig und teilt das Wasser vor sich in Wellen. Der Steuermann lauscht auf seine Anweisungen. Thijs hält ein Lot ins Wasser und blickt aufmerksam nach unten. Er sieht sein Spiegelbild. Und Aus.

Jeder einzelne, so sagt der Arzt im weißen Kittel, bezieht seine Identität aus der Unterscheidung vom anderen. Distinktion, so sagt Dr. Jan-Kees Leopold Molenaar genannt Mootje, sei wichtig, damit jeder Mensch er selbst werden könne. Deshalb sei es wichtig, dass Thijs seine Freunde um sich habe, Menschen überhaupt. Denn erst im Wechselspiel von Gemeinsamkeit und Abgrenzung kristallisiere sich das Eigene heraus. Das sei bereits als Kind so gewesen. Mit dem Wachsen entferne man sich zunehmend von den Eltern und erlange Persönlichkeit. Helene. Graugrüne Augen. Schatz, träumt er.

Die Haustür geht und schlägt ins Schloss. Helene streichelt seinen Arm. Thijs erwacht. Es war mein Segelboot, denkt er. Sein Nacken und sein Kopf schmerzen. Morgen muss er zu Dr. Molenaar und ihm erzählen, wie es ihm geht.

„Ach, Helene… Menschenskind!“ sagt er, gähnt, erhebt sich, nimmt den zusammengefalteten Zettel vor der Couch auf und steckt ihn wieder in die Westentasche seiner Jacke, die über der Sessellehne hängt. „Thijs, du weißt meinen Namen, ohne nachzuschauen!“, ruft sie erfreut und nimmt ihn in die Arme. Schatz, denkt er. Das fühlt sich gut an.


© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.




Das Fahrrad

 von Maria Jürgensen …

An der Universität nannte man ihn Oblomov. Cornelis Adrianus Maria de Wit, genannt Kees hatte erfolgreich das zwanzigste Semester in Niederlandistik, Germanistik und Anglistik hinter sich gebracht und würde, wenn es so weiter ging, noch einige mehr hinzuzufügen. Der schöne Kees war niemand, der sich leicht verführen ließ. Nicht mal von seinen Eltern, die ihm das Landleben als Inbegriff menschlicher Existenz beschrieben. „Du lebst mitten in der Natur, wirst von ihr getragen und unterwirfst dich ihrem Gesetz. Du arbeitest in und für sie. Das ist das Schönste, was es gibt!“, erklärte sein Vater, der in Ede bei einer Landbaukooperative der Viehzüchter angestellt war und nebenbei einen eigenen Hof betrieb. Ständig in Bewegung zu sein, früh aus den Federn und mit den Händen in der Erde, das war sein Element. Kees aber entfloh der Provinz, entschied sich gegen sie und für die große Stadt. Schon als Kind liebte er es, Dinge in ihre Einzelteile zu zerlegen, sich ganz darin zu verlieren und gemächliche Spaziergänge zu unternehmen, bei denen er stets ein Fernglas bei sich trug. Er schaffte es als Ausnahmetalent und lesehungriger, aber liebenswerter Eigenbrötler trotz Widerwillens seiner Eltern an die Hochschule. Was seinem Vater der Boden, den er beackerte, waren ihm Bibliotheken, Buchhandlungen, Theater, Museen und Konzertsäle.

Das Fahrrad © Jürgensen - DüsseldorfKees war der einzige Student ohne Fahrrad. Dafür hatte er viele Freundinnen, die weniger an ihm als Mann interessiert waren, als dass sie Mitleid mit ihm hatten. Corine Fonteijn brachte ihm regelmäßig einen Topf Suppe mit. Astrid Aanbeek kaufte ihm einen Wecker, den er sogar nutzte, obwohl er häufig erst gegen zwei oder drei Uhr mittags aufstand. Ab und zu besuchte er sogar eine der nachmittäglichen Vorlesungen oder Seminare und verstrickte sich nach Herzenslust in Diskussionen mit den Professoren. Das bereitete ihm vor allem dann eine diebische Freude, wenn gewisse Herren zuvor eine weibliche, in ihren Augen zu ehrgeizige und kluge Studentin überheblich gemaßregelt hatten, sie vor dem Rest der Zuhörerschaft zu blamierten suchten und mit ihrem Wissen prahlten. „Du Wurm,“ dachte er dann und zahlte mit gleicher Münze zurück. Dabei legte er einen Eifer an den Tag, den man ihm, dem Phlegmatiker, gar nicht zugetraut hätte. Die Damen liebten ihn für seine Galanterie und Unterstützung in eigener Sache. Sobald sie jedoch mit ihm nur drei Sätze des Dankes gewechselt hatten, endete das ganze wieder mit Suppe, Weckern oder der Anregung, doch mal ein bisschen „aus den Pötten“ zu kommen. Er gab sich wirklich soviel Mühe, wie er meinte an Mühe aufwenden zu können. Schließlich fand er, dass die Damen mit allem, was sie sagten recht und viel Interessantes zu sagen hatten. Nicht eine Sekunde lang zweifelte er daran, dass er sein Süppchen wirklich selbst kochen und das Fahrradfahren lernen würde. Bei dem Vorsatz blieb es.

Kees wohnte in einem Mehrparteienhaus, das seiner Tante gehörte. Die recht geräumige Wohnung des alten Kaufmannshauses mit stattlichem Kamin, hohen Packhausbalkendecken und einem geweißten Steingutboden hatte an jedem Platz seine Bestimmung. Wohnen, Schlafen, Kochen, Arbeiten, Gäste, selbst wenn sie nie kamen, brauchten jeweils einen eigenen Bereich. Man kann sagen, dass jeder der fünf Räume seiner eigenen Ordnung gehorchte, obwohl die recht eigenwillig war. Wenn die Birne im Arbeitszimmer ihren Geist aufgab, saß er im Dunkeln, hing seinen Gedanken nach und wartete, bis er müde wurde und es Zeit war, zu Bett zu gehen. Erst im Schlafzimmer schaltete er wieder das Licht an und fand spielend durch das Labyrinth von Büchern, die überall in der Wohnung herumstanden und lagen, den Weg dorthin.

Nach dem Aufstehen ging er meist in die Stadt, oft, um noch ein Buch zu kaufen, immer, um einen Earl Grey zu trinken. Während die anderen Studenten ihre Liebschaften pflegten, zu Ende studierten und einen Beruf oder gar eine Berufung fanden, harrte Kees aus und korrigierte mit äußerster Brutalität und Präzision die Dissertationen seiner Mitstudenten. Kaputte Birnen tauschten die Freundinnen für ihn aus. Klausuren schrieb er, ohne dafür lernen zu müssen und er schrieb sie nur, um das Geld, das seine Eltern ihm als zusätzliches Salär neben seinem bescheidenen Einkommen als Korrektor gewährten, nicht zu verlieren. Ihnen gegenüber musste er Rechenschaft ablegen. Denn so sehr sie auch von seiner Auffassungsgabe und Klugheit beeindruckt waren, so gut kannten sie seine Neigung zur Faulheit und zum Müßiggang, wie sie es nannten. Die für die Prüfungen verliehenen Seminarscheine zeigten immer die volle Punktzahl. Er vergaß regelmäßig, sie im Sekretariat abzuholen, bis man ihn daran erinnerte. Das echte Leben schob er vor sich her.

Das echte Leben hieß Gerda und zog samt Fahrrad bei ihm ein. Es hatte einen großen Gepäckträger vorne und hinten und eine Flaschenhalterung am Querstreben zwischen Sitz und Lenker, in die sie eine mit Korb isolierte Flasche eingehakt hatte. Es war schwarz, fast zu groß für seine Besitzerin, aber ausgestattet mit einem edlen, ledernen Brooks-Sattel und einer Fahrradglocke, die Gott samt Petrus von jeder Wolke geholt hätte. Gerdas Vater war Deutscher und gemeinsam mit der niederländischen Mutter in Düsseldorf ansässig gewesen. Nun waren beide tot und Gerda wollte im Land ihres Vaters leben. Die zweite Muttersprache ging ihr wie selbstverständlich von der Zunge. Sie hatte jedoch die Angewohnheit, das ein oder andere rheinische Schimpfwort im Redefluss unterzubringen. So auch, als Kees ihr die Tür öffnete, um von nun an in der ersten Wohngemeinschaft seines Lebens Mitbewohner zu sein. Was er denn für ein „Knaaskopp“ sei, fragte sie ihn, als er, verschlafen und zerknittert um acht Uhr vormittags verdrossen auf das Klingeln der Türglocke antwortete und drückte ihm die Korbflasche mit Tee in die Hand. „Mein Freund, der Earl für Dich, zum Wachwerden, Liefje.“ Er hatte am Telefon von acht Uhr am Abend gesprochen. Eigentlich sollte sich Gerda nur als potentielle Untermieterin für das ehemalige Gästezimmer bei ihm vorstellen, doch sie brachte neben dem Fahrrad auch gleich ihr ganzes Gepäck und einen neuen Elektroherd mit und das auf eine so selbstverständliche Art und Weise, dass er sich aus lauter Bequemlichkeit den Widerspruch sparte und ihr sofort ihr Zimmer zeigte.

Er hatte sich zur Vermietung entschlossen, nachdem er zu der Erkenntnis gekommen war, größere finanzielle Freiheit bringe ihm größere Gelassenheit und fördere das präzise Betrachten seiner Lebensumstände und die Planung seiner Zukunft. Dafür sei es langsam, sehr langsam mal Zeit. Die kluge, winzige und sehr flinke Dame mit dem wachen Geist, wuselte durch die Wohnung und organisierte in Nullkommanichts Koch- und Putzpläne, schrieb Einkaufszettel und To do Listen und sang morgens so laut, dass an Schlafen bis in die Mittagsstunden nicht zu denken war. Seit Gerda bei ihm wohnte, herrschte geistiges Chaos bei ihm und er hatte alle Mühe, die neue Situation zu verkraften. Doch war es nicht nur fehlender Antrieb, der ihn daran hinderte, sie wieder zu ändern. Es keimte eine unerwartete Neugier in ihm, als sei Gerda ein Objekt, dass es, wie alles sonst, im Detail zu beobachten und sezieren galt. Ein solches Interesse am weiblichen Geschlecht war ihm neu.

Zunächst fiel ihr nicht auf, dass Kees seine Freundinnen um die Erfüllung der jeweilig anstehenden Aufgaben bat, da sie sich tagsüber außer Haus befand, um ihrer Arbeit als Betreuerin und Übersetzerin deutscher Autoren im Verlag De Bezige Bij nachzugehen. Dann traf sie Corine Fonteijn mit der Mülltüte, als die gerade die Haustür verschloss. Ob sie die Freundin vom „Muuzepuckel“ sei, fragte sie und Corine sah sie verständnislos an. „Ich hab nur die Küche geputzt,“ antwortete sie, „ich mach das gern für uns Keesje. Der kriegt das doch nicht auf die Reihe. Dafür liest er meine Hausarbeit Korrektur. Du bist die neue Gerda? “ Die lud Corine daraufhin erst mal zu Kaffee und Kuchen ins „De Juf“ ums Eck ein. Die angesengten Topflappen, die als Dekoration über der Kaffeetheke hingen, hätten als ein Symbol für die kommende, leise Verschwörung gelten können. Die beiden aßen Aardbeienkwarktart und Citroenmeringue, tranken Eistee und Earl Grey und füßelten zur Probe mit den ziselierten Fußbeinen der groben Tische. Das Ende vom Lied war, dass Gerda Kees am nächsten Tag ein Fahrrad kaufte und Corine und sie sich regelmäßig bei wechselnden kulinarischen Verführungen zum Tratschen über den Mitbewohner trafen, um sich in Sachen Lebensertüchtigung Gedanken zu machen. „Wir kitzeln aus dir schon noch ein Höppemötzje heraus,“ meinte der Hyperquirl in Kees‘ Leben und sah ihn kampflustig an. Kees brachte das nicht aus der Ruhe. Doch als sie ihm unterstellte, lediglich kein Talent zum Radfahren zu haben und sich deswegen nicht zu trauen, juckte ihm der Pelz. Großspurig stieg er auf das glänzende Gefährt und fiel ihr prompt vor die Füße. „Strike,“ sagte sie und ließ ihn liegen. Er rieb sich die Knie und übte von da an jeden Morgen, nachdem sie das Haus verlassen hatte, das Gleichgewicht auf zwei Rädern. Als er eines Morgens radelnd mit Brötchen vom Bäcker kam, als sie gerade zur Arbeit gehen wollte, staunte sie nicht schlecht. „Bengelsche, Du kannst es! Ich bin beeindruckt!“ und ließ sich zu einem zweiten Frühstück überreden.

Das Fahrrad veränderte alles. Einundzwanzigzweiundzwanzigdreiundzwanzig. Die Umdrehung der Pedale wurden zum neuen Rhythmus seines täglichen Lebens. Einundzwanzigzweiundzwanzigdreiundzwanzig, raus aus den Federn und wenn er schon mal draußen war, konnte er auch mal eben mit dem Rad zur Uni. Auch wenn das eigentliche Ziel, das Besorgen neuer bezahlter Korrekturaufträge gewesen war, verband er es – einundzwanzigzweiundzwanzigdreiundzwanzig – hin und wieder mit einem Abstecher ins Studentensekretariat und sorgte dort für Aufsehen, da er pünktlich seine Leistungsnachweise abholte. Und wo er gerade dabei war, konnte er sich auch endlich für die Zwischenprüfung anmelden. Kurz vor Schluss, aber gerade noch rechtzeitig, um vier Wochen später ein amüsantes Prüfungsgespräch mit zwei Professoren zu führen und das Examen mit Auszeichnung zu bestehen. Einundzwanzigzweiundzwanzigdreiundzwanzig kam ihm Gerda nach der Arbeit am Prüfungsabend entgegen und holte ihn zu einem Ausflug ab. Solche machten sie in letzter Zeit häufiger.

Gerda sah das Motorrad nicht, als sie aus der kleinen Straße in Richtung SintJan-Straat fuhr. Einundzwanzigzweiundzwanzigdreiundzwanzig Sekunden bis zum Tod. Der ließ sich keine Zeit. Der Motorradfahrer wich aus, schlingerte und wurde von einem Auto erfasst, das mit überhöhter Geschwindigkeit auf der Gegenspur fuhr. „Wie im Flug,“ murmelte
Kees wie paralysiert. Gerda ließ ihr Fahrrad fallen und rannte zum Verletzten, doch jede Hilfe kam zu spät. Sie schrie „Oh, mein Gott, ich bin schuld!“, sie weinte und brüllte gleichzeitig den Autofahrer nieder, der ungläubig am Straßenrand stand und die Beulen an seinem VW begutachtete. Wenig später erschienen Krankenwagen und Polizei und beruhigten Gerda, die Vorfahrt gehabt hatte. Das tröstete sie zwar wenig, nahm ihr aber wenigstens ein wenig von ihrem Schuldgefühl. Die trüben Augen der Leiche, die unter dem Helm zu sehen gewesen waren, verfolgten Gerda und Kees lange.

Gerda blieb im Bett und meldete sich krank. Kees hingegen stieg sofort wieder aufs Rad. Einundzwanzigzweiundzwanzigdreiundzwanzig. Sechzig Umdrehungen pro Minute. Herzrhythmus. Seines schlug noch. Er war am Leben. Er war nicht tot und Gerda lebte ebenfalls.

Jedes Mal, wenn er wieder zu Hause eintraf, lag Gerda immer noch oder wieder in ihrem Bett. Ihre dunklen Haare lugten zersaust und stumpf unter einer karierten Decke hervor. Nase und die Augenlider waren rot und geschwollen. „Du bist mein kleiner Oblomov,“ flüsterte Kees dann und strich ihr über das Haar. Einmal antwortete sie: „Wie kann das sein?“, ihr Gesicht der Wand zugewandt. „In einem Moment ist er noch da und im nächsten Moment ist er weg!“ „So ist das Leben,“ antwortet Kees ihr. „Es ist in einem Moment da und im nächsten ist es weg. Aber dazwischen….“ Er sprach das Ende des Satzes nicht aus und dachte nur: „….gibt es Gerda.“ „

Als hätten sie Rollen getauscht, war es nun Kees, der To do Listen schrieb, den Haushalt meisterte und sogar seinen Freundinnen mitteilte, dass er nun ganz gut allein zurechtkomme. Gerda fand ihren Rhythmus schwer zurück und verkroch sich daheim in ihrer Kammer. Als sechs Wochen ins Land gegangen waren, in denen Kees auf der Beerdigung des Motorradfahrers gewesen war, als Zeuge vor Gericht ausgesagt und dort auch Gerda zur Seite gestanden hatte, in denen er ihr Attest geregelt und ihr alle drei Tage frische Blumen mitgebracht hatte, denen sie kaum Beachtung schenkte, in denen er intensiv arbeitete und schrieb, kaufte er ein neues Fahrrad. Gerda hatte das ihre nicht mehr haben wollen und es Corine geschenkt. Das neue war stabil, hatte einen orangenen Rahmen und einen großen metallenen Transportbehälter an der Lenkerseite. Am Gepäckträger flatterte ein gelbes Fähnchen und auch die Glocke hatte diese Farbe. Niemand würde sie damit je wieder übersehen können.

So viele rheinische Schimpfworte wie an diesem Tag aus ihrem Mund kamen, hatte er selten von ihr gehört, obschon sie damit nie geizig gewesen war. Gerda weigerte sich strikt, wieder auf ein Fahrrad zu steigen.

„Und sie bewegt sich doch,“ dachte er und blieb hartnäckig.
Eines Morgens begab er sich mit Gerdas Korbflasche in ihr Zimmer und stellte sie auf ihren Nachttisch. „Zum Wachwerden, Oblomov,“ sagte er. Und dann begann Kees, Gerda ausführlich und nachhaltig das Leben zu erklären. Sein Leben. Er erzählte von seinen Eltern, wie er als Kind gewesen war, wie wichtig Bücher für ihn waren und warum er gerne Earl Grey trank. Er erzählte vom Langsamsein und davon, wie viel Freude es ihm mache, stundenlang etwas zu beobachten und ihm möglichst viel Beachtung zu schenken. „Das ist wie Niederknien,“ sagte er. „Und dann kamst du mit deinem Fahrrad, Herzchen.“ „Und dann kam ich,“ antwortete sie und wandte sich ihm zu. Und an diesem Tag war ich …., fuhr er fort, „einundzwanzigzweiundzwanzigdreiundzwanzig…. komplett.“


© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.




Der Berg hat gelesen

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https://www.youtube.com/watch?v=EgJ76mUAQ50

Video/Motion Design: Magnus Jürgensen


Ein herrliches Fest der Worte!

Es hat wirklich Spaß gemacht, oben auf dem Oelberg in Wuppertal-Elberfeld.

Leider sind in diesem Film aus der Alten Backfabrik nicht alle Autorinnen und Autoren zu sehen und vor allem zu hören, die es verdient gehabt hätten. Aber dennoch dürften die Bilder Lust auf einen Besuch dieses sehr überraschenden Teils Wuppertals mit seinem vielfältigen und spannenden Literaturprogramm machen. Spätestens in zwei Jahren wird der Berg wohl wieder lesen.




Termine

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https://www.youtube.com/watch?v=HAoGGIbBcSY

Video/Motion Design: Magnus Jürgensen


Programm der Alten Backfabrik01.10.2017

Der Berg liest

–> Maria Jürgensen, Dirk Jürgensen und Michael Schumacher sind drei von 24 Autoren, die im Rahmen von“Der Berg liest – Das Lesefestival“ in der alten Backfabrik aus ihren Werken lesen. Gesungen wird auch.

Michael Schumacher – liest ab 12 :30 Uhr aus „Zeitlinien“

Maria Jürgensen – liest ab 13 Uhr aus ihrem Menschenskind-Programm und singt

Dirk Jürgenesen – liest um 13 Uhr 30 und 21 Uhr aus „Norderschauholm“.

Eintritt frei

Beginn: 10 Uhr

Ort: Alte Backfabrik, Marienstraße 52a, 42105 Wuppertal

Dieser Termin ist leider Geschichte. Hier gibt Eindrücke von diesem herrlichen Fest der Worte.


Menschenskinder - © Entwurf: www.wittinghofer.de31.10.2017

Menschenskind

–> Drei Autoren und ein Pianist erzählen uns etwas vom Leben. Gewürzt werden Missgeschicke, Begegnungen, Skurrilitäten und Erinnerung mit einer Prise Chanson und einer großen Portion Melancholie und Witz.

Mit von der Partie sind Detlef Burket (Pianist und Sänger), Dirk Jürgensen (Autor), Maria Jürgensen (Autorin und Sängerin), Michael Schumacher (Autor).

Eintritt frei

Beginn: 19 Uhr 30

Ort: Sebastianushaus, Sebastianusplatz 9, 41516 Grevenbroich-Hülchrath


05.11.2017

Lesesession Borken

–> Gewandte Vorleser und Autoren tragen ihre Lieblingstexte vor, die entweder aus eigener Feder oder dem Bücherschrank stammen. Das Ganze wird begleitet von Musik. Maria Jürgensen und Michael Schumacher sind diesmal ebenfalls bei Claudia Wiemer in Borken zu Gast.

Eintritt frei

Beginn: 17 Uhr

Ort: FARB Forum Altes Rathaus Borken, Wilbecke 12, 46325 Borken


 




Fotografische Entschleunigung

30 Sekunden – Eine halbe Minute Ewigkeit

 von Dirk Jürgensen …

Das Thema »Zeit« geht uns nicht aus den Köpfen. Ob wir unser Privatleben planen, die Arbeit uns Zeit stiehlt, versaut oder Erfüllung bringt, ob wir die Wochen und Tage bis zum Urlaub zählen oder das, was uns vom Leben übrig bleibt, ob wir auf den Bus warten oder im Stau stehen, die Zeit beschäftigt uns immer – besonders wenn wir von der so notwendigen »Entschleunigung« reden.

30 Sekunden © Jürgensen - DüsseldorfSo lag es für mich nicht fern, der Zeit ein Fotoprojekt zu widmen, eine künstlerische Annäherung an das Thema zu suchen. Denn besonders in der Fotografie ist die Zeit ein außerordentlich einflussreicher Aspekt.

Normalerweise, wir erwarten als Ergebnis in der Regel ein scharfes, nicht verwackeltes Bild, konserviert ein Foto einen Zeitabschnitt, der nur hundertstel oder tausendstel Sekunden währte. Es täuscht uns das, was mit dem Klacken des Verschlusses schon längst Vergangenheit wurde, als ewige Gegenwart vor. Mit ihrem Einfrieren des Bruchteils einer Sekunde ist die Fotografie ein Hilfsmittel für unsere oft zu fahrige Wahrnehmung und gleichzeitig eines für unsere unpräzise Erinnerung. Wir wollen das so und akzeptieren damit die zeitlich winzige Wirklichkeit eines Fotos als Wirklichkeit des Lebens.

Versucht man in der Fotografie Zeit sichtbar zu machen, gibt es die Möglichkeit mit Serienaufnahmen Veränderungen, Bewegungen und Abläufe in Sequenzen einzuteilen. Jedes Bild für sich ist dann wieder ein kurzer und für sich abgeschlossener Ausschnitt aus der Zeit. Den zwischen den einzelnen Bildern entstandene Zwischenraum füllt unsere Phantasie, so, wie auch ein Film aus vielen Einzelaufnahmen besteht und die Geschwindigkeit des Bildwechsels uns den lückenlosen Fluss des Geschehens vorgaukelt.

Eine andere Möglichkeit ist die, die Belichtungszeit zu verlängern, sie in einen Bereich zu bringen, den wir glauben, mit unserer Wahrnehmung erfassen zu können. Sagen wir, eine halbe Minute. Müssen wir eine halbe Minute warten, kann das eine Ewigkeit bedeuten, doch erleben wir gerade einen großen Genuss, gehen 30 Sekunden viel zu schnell vorbei. Beim Fotografieren selbst bedeuten 30 Sekunden oft eine Ewigkeit, eine Zeit, in der man sich mit dem Drücken des Auslösers dem Zufall aussetzt. Stellt man sein Kamerastativ beispielsweise in einer Fußgängerzone auf, möchte die Bewegung eines Passanten verfolgen, dreht er sich unerwartet um, ein Kind läuft ihm in die Quere und die eben noch schlaff am Mast hängende Fahne im Hintergrund wird von einer Windböe erfasst. Wer mit einer Belichtungszeit von einer halben Minute fotografiert, erfährt die Ewigkeit solcher Momente.

Wie sehr sich dieser Zufall sich auch an der Bildkomposition beteiligen mag, immer ist das Ergebnis ein Dokument dessen, was innerhalb seines Erfassens geschah, eines, das aber auch zeigt, wie flüchtig die Ausdehnung der Zeit dieses Geschehen macht. Menschen, Tiere, Dinge in Bewegung verwandeln sich in ihre eigenen Spuren, sie werden durchsichtig, verschwinden bei schneller Bewegung ganz. Was bleibt, ist die Position der Ruhe, nicht die der Eile. Die Hektik der Innenstadt verwandelt sich in eine indifferente Wolke, wird letzthin aufgelöst.

So würde ich mich freuen, wenn der Bildband mit einer Auswahl meiner Fotografien, die konsequenterweise alle mit einer Belichtungszeit von 30 Sekunden entstanden, der Wahrnehmung der Zeit ein kleines Stück Geschwindigkeit nehmen könnten.

Wir reden so viel von Entschleunigung. Auch sie ist eng mit einer bewussten Wahrnehmung von Zeit verbunden. Vielleicht mögen Sie in diesem Zusammenhang mein künstlerisches Experiment sogar für sich selbst fortsetzen, indem Sie sich einfach(?) die Zeit nehmen, sich eine der im Buch versammelten Fotografien herausgreifen und sie eine halbe Minute lang anschauen, so lange, wie die Kamera benötigt hat, das Bild aufzuzeichnen. Ich würde mich freuen zu erfahren, was Sie sehen, was bleibt.


Das Bilderbuch »30 Sekunden – Eine halbe Minute Ewigkeit« (ISBN:978-3-744-85498-6) hat 52 Seiten im handlichen Format von 21x15cm mit zahlreichen Schwarzweiß- und Farbaufnahmen und kann in Deutschland für 8.50 € überall dort erworben werden, wo es Bücher gibt. Ihr lokaler Buchhändler wird es gerne für Sie bestellen.

Wenn Sie es partout nicht vermeiden können, dürfen Sie es natürlich auch bei Amazon oder über die folgende Box beim BoD-Bookshop ordern.

Weitere Informationen zu diesem Projekt finden Sie unter knipsenundtexten.de im Netz.

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Menschenskind

Auswärtsspiel in Wuppertal

 von Dirk Jürgensen ...

Eine Lesung mit Musik mit Michael Schumacher, Maria Jürgensen und Dirk JürgensenDer Sommer hat noch nicht einmal begonnen, da laufen schon die Vorbereitungen für seine Hochphase. Am 16. Juli präsentieren wir, das sind Maria und Dirk Jürgensen gemeinsam mit unserem wunderbaren Freund Michael Schumacher in Wuppertal neue Geschichten und etwas Gesang unter dem Titel „Menschenskind“.

Menschenskind!

Ein Ausruf des Erstaunens, der Empörung und der Begeisterung – und irgendwie das, was wir alle sind.

Drei Autoren erzählen also etwas vom Leben.
Gewürzt werden Missgeschicke, Begegnungen, Skurrilitäten und Erinnerung
mit einer winzigen Prise Chanson und einer großen Portion Melancholie und Witz.

Michael Schumacher – Seit knapp drei Jahren treibt der gebürtige Wuppertaler sich nach einer mehrjährigen Pause wieder auf Bühnen herum, moderiert und organisiert in seinem Wohnort Xanten Poetry Slams und ist auch mit Prosa und Lyrik auf Lesebühnen zu hören.
Im Duo mit Ralph Beyer ist er mit dem Programm „Die tun euch nichts, die wollen nur lesen“ unterwegs. Morgens trinkt er Kaffee, danach Tee. Aufgewachsen im Bergischen Land, wohnt er jetzt grauhaarig und gerne am Niederrhein. Frei nach der rheinischen Lebensweisheit: Et is so, aber auch mal so. Was sagt das über seine Texte? Nichts. Oder alles. Je nachdem.

Maria Jürgensen schreibt, liest, singt, fotografiert und malt und macht ein bisschen davon auch vor Publikum. Sie schrieb für das Kulturmagazin „Einseitig.info“ und ist Autorin von Kurzprosa und Kolumnen. Als Mitglied des Netzwerks freier Kulturjournalisten war sie Mitorganisatorin und Jurorin des „Joseph-Heinrich-Colbin-Preises“. Wer mehr von ihr lesen will, findet sie genau hier.

Dirk Jürgensen wechselt gern vom Fotokünstler zum Autor und umgekehrt.
Als Mitbegründer und Schreiber des inzwischen legendären Online-Magazins „Einseitig.info“ war er Mitorganisator und Juror des „Joseph-Heinrich-Colbin-Preises“. Er ist Herausgeber einer deutschsprachigen Version des Finanzblasenklassikers „Das vergoldete Zeitalter“ von Mark Twain und Charles Dudley Warner. Gemeinsam mit seiner Frau versorgt er  dasvergoldetezeitalter.de mit Texten. Seine Fotografien sind im Netz unter knipsenundtexten.de und in einer Reihe handlicher Bildbände zu finden.

Die Veranstaltung findet im Wuppertaler Weltkulturladen statt, beginnt um 20 Uhr und der Eintritt ist frei, Spenden werden jedoch gerne entgegengenommen.

Weltkulturladen
Röttgen 102
42109 Wuppertal

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Wie war dein Tag?

von Maria Jürgensen ...

Fäden spinnen

Zwölf von zwölf heißt die Aktion, sagt W. und erzählt. Da posten Menschen Fotos von Jeanshosen in Waschmaschinen und gefüllten Kaffeetassen auf dem Frühstückstisch im weltweiten Netz und lassen uns an einem Tag in ihrem Leben teilhaben. Ich mag das. Ich mag Profanes. Winzigkeiten. Löcher in Socken, Schlafanzüge über nackten Füßen, Zahnpaste auf Zahnbürsten, angebissene Butterbrote, Apfelkitsche, Glasränder auf Kneipentischen, Kuchenkrümel, Blicke aus Fenstern oder in Fenster hinein. Ich liebe Wintermorgenfahrten mit dem Bus oder der Bahn. Er oder sie schaukelt über die Landstraße oder durchs Schwarz der Felder, durch die Schatten der Wälder, kriecht in die Orte hinein und dann krakeelen Lichter hinter verschlossenen Gardinen, erlauben Menschen gar den Blick auf ihre Hausaltäre. Dort nestelt eine Frau an den Zimmerpflanzen und gießt, da schaut einer morgens um sechs noch fern, hier besitzt einer Tausende Bücher, sortiert im Regal nach Alphabet oder Vorliebe. Anderswo schaut einer nicht mehr in den Spiegel und die andere tut’s erst recht. Irgendwo hüpft ein Kind durchs Wohnzimmer und schreit stumm. Ich male mir die Leben dazu aus oder stricke mir ein neues. Manche sind ganz verworren, Knäuel, die man auseinanderklamüsern muss. Und dann gibt es welche, die sind aus feinem, weißem, brüchigen Garn, hängen am seidenen Faden. Früher habe ich aus solchen Mäuschenspielereien Zufluchten für mich entworfen, ihnen gedanklich eine Form gegeben. Da bin ich mit Hammer und Nagel an die Wände und habe Bilder mit Erinnerungen aufgehängt. Das schaffte Identität. Immer wieder neu. Weiterlesen




Sein Name ist Oliver

 von Maria Jürgensen ...

Konrad Biber nimmt seine kleine Hand, kauert sich neben ihn ans Fenster und sieht auf die kaum befahrene Straße hinunter. Ein dunkelroter, einsamer Siebeneinhalbtonner umrundet die sonnenbeschienene Verkehrsinsel zum zweiten Mal, als versuche er, den eigenen Schatten einzufangen. Die Plane am Heck ist nur halb verschlossen und flattert im Fahrtwind. So, wie die Plane jenes Wagens, der ihn und den Jungen über die Grenze geschleust hatte. Die Vergangenheit liegt hinter ihnen, die Zukunft vor ihnen. Der flüchtige Augenblick dazwischen ist ihr Zuhause.  Weiterlesen

 




2016 – Ein Jahr für Egomanen

Demokratie im Selbstzerstörungsprozess

 von Dirk Jürgensen ...

Der Autor dieser Zeilen hat sich entschieden, das Jahr 2016 nicht mit einem Rückblick zu versehen. Zu oft müsste er seinen recht deprimierten Rückblick auf das Jahr 2015 zitieren und noch ein paar weitere dunkle Töne beimischen. 2016 war ein Erfolgsjahr für Egomanen, der Nationalismus greift weiter und immer stärker um sich – sogar bei uns in Deutschland, wo wir es doch wirklich besser wissen müssten. Zuletzt hat dann auch die Präsidentschaftswahl in den USA bewiesen, dass es immer auch noch schlimmer kommen kann und der Begriff der Schwarmintelligenz zumindest im Politischen ein sehr fragwürdiger ist.

Der Schwarm ist es, der den weltweiten Selbstzerstörungsprozess der Demokratien beschleunigt. Zerstörung und Zurückentwicklung statt Verbesserung und Fortschritt heißt die Devise, die mit diffusen Ängsten legitimiert wird, die man uns viel zu lange hieß ernst zu nehmen. Dabei hat das Umtätscheln der höchst informationsresistenten besorgten Bürger sie zum Schwarm werden lassen. „Postfaktisch“ wurde auch in diesem Zusammenhang zum würdigen Wort des Jahres 2016. Es scheint so, dass die jahrelange Lektüre der Bildzeitung und das Zurückziehen in eine ganz eigene kleine Welt des ach so einflusslosen „kleinen Mannes“ zu einer Überforderung angesichts der heutigen Informationsvielfalt geführt hat. Erschwerend kommt hinzu, dass das die Presse längst ablösende Medium Facebook immer nur die eigene Meinung stärkt, anstatt das Weltbild zu entfalten. Sogar dumme und falsche „Fakten“ dienen dem Jeweiligen Status quo. Nebenbei sei die Frage erlaubt, ob die derzeit aufkeimenden Debatte um die Verhinderung von „Fake News“ auch in der Redaktion der Bildzeitung als Drohung empfunden wird?

Establishment? Welches Establishment?

Der Autor, der in den Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts politisch sozialisiert wurde, der dem Establishment als Klasse einer reichen Machtelite durchaus immer kritisch begegnete, fragt sich, was die heutigen Kritiker des Establishments überhaupt unter diesem recht englischen Wort verstehen. Was ist das für ein Establishment, das überall und jetzt bekämpft werden soll, wenn man einen Donald Trump zum Präsidenten wählt? Einen, der genau jener Clique angehört, die man zu bekämpfen vorgibt. Wählt man ihn nur, weil er sich einer Ausdrucksweise bedient, die außer Dummschwätzerei und gröbster Beleidigung kaum Alternativen kennt, weil er ein so herrlich unerzogener und gemeiner Egomane ist, wie man es nie sein durfte? Political correctness ist zum Schimpfwort mutiert und niemand stellt die Frage, ob diese neue incorrectness hilft, wenn sie größtenteils aus Lügen und Blendereien besteht?

Protestwahl dient keinem Selbstzweck

Immerhin zeigt Trump schon jetzt ganz deutlich, wozu es führt, wenn man politisch ahnungslos allein aus Protest irgendjemanden, den lautesten und frechsten Kandidaten wählt. Protestwahl dient niemals einem Selbstzweck, hinterher kommt es genau anders herum, als man es wollte. Trump holt einen Außenminister aus der Ölindustrie, der sich herrlich mit dem anderen Egomanen in Russland versteht. Trump holt einen Finanzminister aus dem Umfeld genau jener Bank, die eine der Hauptrollen in der Krisenauslösung gespielt hat, die so viele seiner Wähler in die Armut trieb. Ein Kabinett reinen Establishments. Noch jubeln seine Anhänger, er würde die Regierung endlich wie eine Firma führen wollen. Eine Firma, das wird nur zu gerne übersehen, die auch pleitegehen kann, wie es auch Trump mit einigen seiner Firmen erlebt erlebt und erfolgreich verdrängen konnte.

Trump ist das Sinnbild für den absoluten Sieg des Kapitalismus, wenn man will, auch des Ablegers mit dem Namen Neoliberalismus. Der sogenannte Amerikanische Traum, in dem unzählige Tellerwäscher zu Millionären wurden, soll wieder im ganzen Land geträumt werden. Wohlgemerkt, geträumt soll er werden. Gelebt wurde er noch nie, denn dass der Kapitalismus immer nur temporär zu einem breit angelegten Wohlstand führt, wenn man ihn nicht mit ganz engen Zügeln fasst, dass er immer ein Spiel von wenigen Gewinnern und vielen Verlierern ist, gelangt immer erst in das Bewusstsein seiner Jünger, wenn die nächste Krise auch sie erreicht. Ewiges Wachstum ist auch so ein Wunschtraum, der nicht Realität werden kann, der uns aber von jenen wenigen Gewinnern als Realität „verkauft“ wird, die in einer Krise nicht wieder bei Null beginnen müssen.

Kein Meister rettet den Zauberlehrling

Wir in Europa sollten uns einfach wieder an die paar Jahre Geschichtsunterricht in der Schule erinnern und daran denken, dass lauter Protest immer dann angemessen ist, wenn er der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Toleranz dient. Der Ruf nach einem starken Mann als Äußerung des Protests ist fatal. Die demokratisch gewählten Trump, Putin und Erdogan (es sind die markantesten Beispiele und die Liste könnte durchaus viel länger sein) sollten Mahnung genug sein.

Vielleicht ist der Wahlerfolg Trumps zumindest einigen Europäern eine Lehre, eine, die einen Wilders in den Niederlanden, eine Le Pen in Frankreich oder die unsäglichen Nein-ich-bin-kein-Nazi-aber-Verharmloser der AfD verhindern.

Political correctness heißt nicht, dass man sich in großen Koalitionen bis zum Tode kompromissbereit zeigt. Im Sinne der Grundrechte – der Menschenrechte – darf es keine Kompromisse geben. Das sollten auch jene Parteienvertreter und Kommentatoren wissen, die derzeit hoffen, dem Rechtsrutsch und den Rufen der „besorgten“ Bürger mit Thesen aus dem braunen Umfeld begegnen zu müssen. Mischt man einem Eimer mit roter oder schwarzer Farbe Braun hinzu, kann das Rot oder Schwarz hinterher nur schmutziger aussehen – eine nachträgliche Korrektur ist schwierig.

Ach, da kommt der Meister!
Herr, die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister
werd ich nun nicht los.

Das ist ein oft verwendetes und passendes Zitat, doch wir sollten nicht zu fest damit rechnen, dass den politischen Zauberlehrlingen im Parlament und auf der Straße mitten im größten Schlamassel Goethes Meister zu Hilfe kommt.

Populisten verbreiten keinen Spaß

Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass „Die Zeit“ kurz vor dem Jahresende in ihrer 52. Ausgabe an ein Jubiläum erinnert hat, das mir sehr am Herzen liegt. Zugegebenermaßen etwas uninspiriert – aber immerhin – erinnert die Wochenzeitung in ihrem Feuilleton an das vor 500 Jahren erschienene Werk „Utopia“ des Thomas Morus. Nun ist es sicher keine Binsenweisheit, dass „Die Zeit“ unter den „Lügenpresse“ skandierenden „besorgten“ Bürgern kaum Käufer findet, doch halte ich es für ein gutes Zeichen, dass überhaupt eine Zeitung an dieses Thema erinnert. Die Gegenwart verlangt angesichts der von den Populisten unterstützten und in ihrem Sinne verwendeten Schreckensbildern nach einer Wiederkehr der Utopie, der Vorstellung davon, wie Gesellschaft besser, gerechter und friedlicher funktionieren kann. Populisten nutzen die Ziel- und Bilderlosigkeit einer Gesellschaft rücksichtslos und leider sehr erfolgreich aus.

Wer meine hier zu findenden Beiträge zum Utopie-Thema kennt, der weiß, dass ich eine Utopie für ein Mittel halte, ein verständliches Bild von einer besseren Welt zu zeichnen, das sich anzustreben lohnt. Und um den üblichen Einwänden zu entgegnen: Niemals sollte davon ausgegangen werden, dass eine Utopie eins zu eins umgesetzt werden kann. Zu kompliziert ist diese Welt. Aber was nützt der Weg, wenn es kein Ziel gibt, das zu erreichen Spaß macht? Haben sie schon festgestellt, wie wenig Spaß die rechten Populisten verbreiten? Ihr Hass und der Wunsch nach Herrschaft und Abgrenzung ist kein wünschenswertes Bild einer friedlichen und freien Zukunft! Utopien können hingegen Optimismus und positives Handeln fördern. Sie erzählen nicht von einem religiös begründeten Totenreich, von keinem Paradies, für das man sterben muss, um hinein zu gelangen und für das bislang niemand eine wirklich nachweisbar gültige Eintrittkarte vorliegen konnte.

Der Geist der Utopie gehört in den Politik- und in den Wirschaftsteil der Zeitung

Wir müssen die Utopie nur wieder in unser Leben holen und darüber sprechen, ob die Menschen tatsächlich immer nur schlecht und korrupt sind, eine Idee von Gerechtigkeit zur Dystopie kippen. Dabei sieht man sich selbst doch immer auf der Seite der Guten. Was hindert uns „Gutmenschen“ also daran, die Utopien der historischen Autoren – nicht die Dystopien, mit denen sie oft verwechselt oder gleichgesetzt werden – zur Hand zu nehmen und selbst an einer neuen Utopie zu bauen? Mit etwas Engagement könnte der Geist der Utopien dann aus dem Feuilleton heraus sogar die Seiten der Politik und der Wirtschaft inspirieren, denn da gehört er hin.

Dieser Gedanke soll mein – wenn auch nur eine winzig kleiner – Hoffnungsschimmer auf ein besseres 2017 sein. Ein Schimmer, der auch auf dieser Internetpräsenz einst sichtbar werden soll. Spätestens dann wird die Facebook-Präsenz darunter leiden.

Hoffnung Utopie - Bild: ©Dirk Jürgensen - Düsseldorf

Bild: ©Dirk Jürgensen – Düsseldorf




Das Bilderbuch vom Rheinturm in Düsseldorf

Anregungen für einen Spaziergang

 von Dirk Jürgensen ...

Vor einigen Monaten habe ich einen kleinen Fotoband herausgebracht, in dem der Düsseldorfer Rheinturm zahlreiche Cameo-Auftritte hat. Cameo-Auftritte sind jene Überraschungsauftritte, die man meist vom großen Alfred Hitchcock in Erinnerung hat. Gut, man kann auch sagen, dass der Rheinturm auf den 64 Seiten des kleinenBandes die Hauptrolle spielt. Aber das wäre dem Ansatz meines Fotoprojekts nicht gerecht geworden, denn es geht darum, was dieses schlicht-schöne Bauwerk uns Düsseldorfern bedeutet und wie es uns täglich begegnet.

Rheinturm - Bild: ©Dirk Jürgensen - Düsseldorf

Rheinturm – Bild: ©Dirk Jürgensen – Düsseldorf

So ist diese Sammlung auf 64 Seiten eine Anregung für eigene Erkundungen geworden. Es lohnt sich, mit offenen Augen durch die Stadt zu gehen, ihre teils recht verborgenen schönen Seiten zu entdecken. Natürlich darf sie auch Besuchern der Stadt am Rhein einen Anlass zu Spaziergängen jenseits von Königsallee, Rheinpromenade und Altstadt liefern. Es ist schon spannend, wie viele Sichtachsen, Durchblicke und Einblicke immer wieder neu gefunden werden können. So kann auch ich nach Fertigstellung des Bandes immer wieder nur feststellen, dass ich noch ganz viele wichtige Ansichten übersehen habe.

Vermutlich könnte das Bilderbuch niemals komplett werden.

Das moderne Wahrzeichen einer modernen Stadt

Der Rheinturm ist innerhalb kürzester Zeit zu einem bedeutenden modernen Wahrzeichen der Landeshauptstadt Nordrhein-Westfalens geworden. Das liegt vermutlich an seiner Lage direkt am Rhein, vielleicht auch an seiner überaus schlichten Architektur und sein Korrespondieren mit der Düsseldorfer Brückenfamilie. Sicher lassen sich auch noch zahlreiche weitere Gründe finden, warum die Düsseldorfer ihn so mögen und Besuchern immer wieder die an ihm angebrachte Dezimaluhr erklären. Auf jeden Fall ist der Rheinturm ein Hinweis darauf, dass Düsseldorf eine sehr junge Großstadt ist und sich erst in Zeiten der Industrialisierung von einer beschaulichen preußischen Provinz-Verwaltung zu einer dynamischen Metropole verwandeln konnte.

Der kleine Band wird im Print-on-Demand-Verfahren hergestellt und ist über den stationären Buchhandel, wenn es nicht anders geht, auch über die Online-Händler wie Amazon zu beziehen.

Rheinturm – Cameoauftritte eines Düsseldorfer Wahrzeichens
ISBN: 978-3-741-28557-8
Format 21×21 cm
Preis (in Deutschland) 8,50€

Weitere Informationen zum Buch.




2015 – Ein Jahr, das keinen Rückblick verdient

Die Rückwärtsbewegung hat weiter Fahrt aufgenommen

 von Dirk Jürgensen ...

Das Jahr 2015 liegt in den letzten Zügen und es wäre wieder einmal Zeit für einen Rückblick. Doch noch nie war die Arbeit an einer solchen Rückschau trostloser als heute. Daher, die Leser meiner früheren Jahresrückblicke an dieser Stelle und im leider nicht mehr existenten Online-Magazin Einseitig.info mögen mir verzeihen, weigere mich angesichts dieser Trostlosigkeit der Recherche, der Überprüfung, was denn erwähnenswert sein könnte. Meine Motivation weiter belastend kommt hinzu, dass es kaum auffiele, wenn ich meinen „Rückblick auf ein rückwärtiges 2014“ einfach erneut verwendete. Diesen leitete ich damals so ein:

„Der Jahresrückblick auf das nun auslaufende Jahr 2014 fällt recht kurz aus: Demokratien wie Diktaturen haben sich weltweit darauf geeinigt, zwischen Nationalismus, religiösem Fanatismus und Marktradikalität angesiedelten Bekloppten alle Freiheiten zu gewähren. Kein Zeitgenosse wird sich an mehr Krisenherde oder gar Kriege erinnern können, was nicht allein an der größeren Durchdringung unseres Bewusstseins durch weltweite Nachrichten liegt. Vernunft ist nur noch das Leitbild einer schweigenden Mehrheit – oder gar Minderheit? Man weiß es nicht, denn schweigend degeneriert jede Mehrheit zu Minderheit. Auch in diesem Sinne war 2014 zu großen Teilen ein Jahr der Rückwärtsbewegung.“ Danach ließ ich „eine auszugsweise Auflistung der Beklopptheiten“ folgen, die meine These von der Rückentwicklung der menschlichen Gesellschaften mühelos belegten.

Bild: ©Dirk Jürgensen - Düsseldorf

Bild: ©Dirk Jürgensen – Düsseldorf

Nun muss konstatiert werden, dass die dramatische Rückwärtsbewegung 2015 noch weiter Fahrt aufgenommen hat, dass schlimmste Befürchtungen noch übertroffen wurden:

Bekloppte Fanatiker stürmten und mordeten in der Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo.

  • Ein bekloppter Pilot ließ eine vollbesetzte Passagiermaschine an einem Berg zerschellen.
  • In den Krisenherden dieser Welt werden täglich so viele Menschen Opfer von Fanatismus und Gewalt, dass der Massenmord vom November in Paris in globaler Sicht beinahe als nebensächlich empfunden werden könnte – und natürlich nicht darf.
  • In Deutschland – also in einem Land, dessen Bürger es wahrlich besser wissen müssten – brennen Flüchtlingsheime und es dürfte sogar sein, dass die Eltern oder Großeltern der aus unerfindlichen Gründen selten rechtsradikalen Brandstifter einst selbst Flüchtlinge waren. Pegida, AfD, Le Pen, Orban und wie all die Ableger der rückwärtsgerichteten Ideologien auch heißen, geben ihnen das moralische (sic!) Fundament für ihre Taten. Sicher, die bestreiten es und werden, sollte es noch schlimmer werden, die Folgen ihrer Reden weder erahnt noch gewollt haben. Wir kennen das.
  • International verkommen Demokratien mehr und mehr zu Castings und in der Folge zu Veranstaltungen zur Wiederwahl angehender und bereits fertig entwickelter Despoten.

Man kann so viel erahnen und muss dabei noch nicht einmal diversen Chemtrails am Himmel oder anderen Verschwörungstheorien folgen. Mit etwas Mühe schafft das jeder Mensch, der einen Rest von diesem – wie heißt dieses so oft und gern missbrauchte oder einfach nur falsch verstandene Ding noch? Ach ja – gesunden Menschenverstand besitzt und die Finger von der Bildzeitung lässt. Aber was macht dieser Mensch?

Er sieht zu, wie die europäische Idee der Solidarität, der Freiheit und der Gemeinsamkeiten zuerst zur bloßen Solidarität mit staatstragenden Banken verkam und nun vom längst für vermodert gehaltenen Nationalismus verdrängt wird. Er hört, dass die Verhandlungen über ein ihn in allen Lebensbereichen betreffendes Freihandelsabkommen (T-TIP) einer strengen Geheimhaltung unterliegen, eine öffentliche Diskussion von den demokratischen Institutionen ferngehalten wird. Er geht nicht auf die Straße, um gegen den Waffenexport, gegen den demokratiefeindlichen Lobbyismus, gegen die menschenverachtenden Auswirkungen der Globalisierung zu demonstrieren. Nein, er demonstriert gegen die Flüchtlinge, die er auch aufgrund seiner vorherigen Interesselosigkeit erst zu solche hat werden lassen. Seine Interesselosigkeit schreibt er dann auch noch der allgegenwärtigen Lügenpresse zu. Wählen geht er lieber gar nicht oder macht sein Kreuzchen ausgerechnet bei denen, die von Freiheit des anders Denkens gar nichts halten. Ignoranz, Abgrenzung und die ängstlichen Schritte zurück machen die Welt so wunderbar einfach und den Bekloppten dieser Welt die Bahn für ihr beklopptes Wirken frei. So bleibt Bertold Brechts Aussage aktuell:

„Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Schlächter selber.“

Wer mag, darf nun im Rückblick auf 2014 nachlesen, ob dieses Jahr 2015 an irgendeiner Stelle doch einen nennenserten Fortschritt verborgen hält. Der Autor ist für entsprechenden Hinweise dankbar.

Trinken wir auf ein hoffentlich besseres 2016! Was bleibt uns auch anderes übrig?




Der Angler

Eine Kurzgeschichte von Maria Jürgensen (Marie van Bilk). Jemand liebt.

© Foto: Maria Jürgensen

© Foto: Maria Jürgensen

– Sie waren alle ohne einen Funken Verstand und Gefühl. Die Schar der Gäste im Saal des Grand Hotels verlor sich in heftiger Betriebsamkeit und schwang von der einen Seite des Raumes zur anderen. Voller Ernst parlierten sie bei Rotwein und Crémant über Belanglosigkeiten des eiligen Vormittags. Hier und da zückte ein Silbergrauer, Glattrasierter oder Bärtiger ein Handy, liebkoste mit dem Daumen den Bildschirm, der seinen Widerschein vereinnahmend auf dem Gesicht seines Betrachters hinterließ und tippte behände eine Nachricht. Es wurde stetig lauter und geschäftiger. Das gleichförmige Summen der Stimmen bekam Gesellschaft von rhythmisch unterbrechenden Pings der Mobiltelefone, die eine Antwort aus dem Off signalisierten. Sie schmiegten sich eng aneinander, als sei man einander vertraut und zugewandt. Ihre Stimmen zerschnitten die körperlich skizzierte Nähe mit Worten. Laut, betont und das eigene Bild voreinander zeichnend markierten sie ihren Bereich. Sie war die einzige Frau hier. Sie schwieg, als sei das Schweigen Ausdruck ihrer anderen Haltung und die einzige Möglichkeit, ihren so notwendigen Abstand zu wahren. Weiterlesen




Der Berg liest

Ein Ausflug nach Wuppertal

Wenn Düsseldorfer einen Ausflug nach Wuppertal planen, haben sie zwei Dinge im Sinn. Erstens möchten sie mit der Schwebebahn fahren und zweitens den Zoo besuchen. Oder umgekehrt. Ein Wuppertaler wird ganz sicher noch zahlreiche andere Attraktionen seiner Heimatstadt aufzählen können, doch auch ohne Aufzählung kommt nun eine dritte Sache hinzu, die Düsseldorfer nicht verpassen möchten, an der sie sogar aktiv teilnehmen werden:

Der-Berg-liest-2015_Plakat_webAm 27. September 2015 findet in der Nordstadt Elberfeld die dritte Ausgabe des Lesefestivals „Der Berg liest“ statt und wenn der Erfolg nur annähernd so groß wie bei die zweite Ausgabe 2013 mit 211 Lesungen an über 80 verschiedenen Orten wird, wird sich die Reise ins Bergische auch in diesem Jahr lohnen.

Wir, Maria (alias Marie van Bilk) und Dirk Jürgensen sind diese Düsseldorfer, die den Leseberg mit einer ganzen Reihe eigener Texte besteigen möchten und haben sich dafür den Hinterhof der Marienstraße 89 ausgesucht. Bei schlechtem Wetter, so wird gemunkelt, kann in den Hausflur gewechselt werden. Von 16 bis 17 Uhr werden die grandiosen Ralph Beyer und Michael Schumacher diesen Ort bespielen, bis dann ab 17 Uhr die eben erwähnten Jürgensens eine Auswahl ihrer eigenen Texte den hoffentlich zahlreichen Ohrenpaaren präsentieren werden.

Zusammengefasst:

Der Berg liest, die Jürgensens auch.

Am 27. September 2015.

Von 16 bis 19 Uhr im Hinterhof der Marienstraße 89 in 42105 Wuppertal-Elberfeld.

Der Eintritt ist kostenlos und der Zugang frei, bis der Hof voll ist.

Weitere Informationen zum Lesefestival, das ganze Programm und Karte mit allen Schauplätzen gibt es hier.




Ein solcher Bau steht normalerweise 200 Jahre

Ein Rückblick auf den erfolglosen Kampf um den Düsseldorfer Tausendfüßler

 von Dirk Jürgensen ...

Die Debatte um den Abriss der von den Düsseldorfern liebevoll „Tausendfüßler“ genannten Hochstraße ist ein bedenkliches Kapitel der jüngeren Stadtgeschichte. Die Art und Weise, wie die Bürger vor vollendete Tatsachen gestellt und wie standhaft ihre Einwände und vielfach konstruktiven Gegenvorschläge ignoriert wurden, ist ein Musterbeispiel dafür, wie man die allgemein beklagte Politkverdrossenheit manifestiert. Parallelen zu „Stuttgart 21“ und Bilder von der Arroganz der Macht sind unverkennbar.

Der Düsseldorfer Tausendfüßler – Die Auseinandersetzung um den Erhalt der Hochstraße und um die Kö-Bogen-Planung

Der Düsseldorfer Tausendfüßler

Der Tausendfüßler war ein Baudenkmal, ein Teil eines Ensembles mit dem Dreischeibenhochhaus, dem Schauspielhaus und dem angrenzenden Hofgarten, das die an klassischen Altertümern arme Stadt in ihrem Kern als moderne und aufstrebende Stadt prägte und bekannt machte. Dieses Ensemble ist nicht mehr vollständig und aus den Wirren der noch auf Jahre dominierenden Großbaustelle treten nach und nach riesige Tunnelrampen ins Blickfeld, die stark daran zweifeln lassen, dass die Befürworter des Abrisses Recht behalten werden.

Est stimmt zeitweise traurig, mit seinem Protest und den anderen Vorstellungen von einer Aufwertung der Düsseldorfer Stadtmitte richtig gelegen zu haben. Ein Triumph sieht jedenfalls anders aus. Und um nicht all das selbst Erlebte aus der Amtszeit der Oberbürgermeister Joachim Erwin und Dirk Elbers (beide CDU) aufführen zu müssen, möchte ich all jenen Menschen ein Buch ans Herz legen, die wissen möchten, wie eine bürgerferne und bezüglich der Folgekosten unvernünftige städtische Baupolitik aussieht und wie sie leider von Erfolg [sic!] gekrönt sein kann.

Der Düsseldorfer Tausendfüßler – Die Auseinandersetzung um den Erhalt der Hochstraße und um die Kö-Bogen-Planung

Die Herausgeber Manfred Droste und Hagen Fischer haben in akribischer Kleinarbeit eine umfangreiche Dokumentation zusammengestellt, die all die Informationen von der Zeit der Planung und dem Bau des Tausendfüßlers, zu seiner Ästhetik, seiner bis in die letzten Tagen tadellosen Funktionalität über den fragwürdig abgelaufenen Verkauf des ihm anliegenden Jan-Wellem-Platzes und der sehr stückweisen Neuplanung seines innerstädtischen Umfelds bis zu seinem endgültigen Abriss aufführt.

Aus der Sitzung des Düsseldorfer Stadtrats am 5. Mai 1960, als der Bau der Hochstraße beschlossen wurde, eine kurze Passage zitieren, in der vom damaligen obersten Stadtplaner Friedrich Tamms die heute oft geäußerte Behauptung eindeutig widerlegt wird, der Tausendfüßler sei nur ein Provisorium gewesen:

Ratsherr Schulhoff (CDU): „Ich habe nur eine Frage, Herr Professor Tamms, die Sie nicht beantwortet haben. Sie wurden gefragt, wie lange die Hochstraße stehen wird. Darauf haben Sie gesagt: Die Hochstraße steht solange sie steht. Das ist nicht exakt. Sie müssen doch über die Lebensdauer etwas sagen können.“ (Starke Unruhe – Zwischengespräche)
Beigeordneter Professor Tamms: „Ein solcher Bau steht normalerweise 200 Jahre.“

Im Folgenden hält uns das Buch die ausführliche gutachterliche Stellungnahme zum Denkmalwert des Bauwerks von Axel Föhl (LVR-Amt für Denkmalpflege im Rheinland) aus dem Jahr 1991 bereit. Sie ist außerordentlich aufschlussreich und beinahe spannend zu lesen. Man möchte fast bedauern, dass sie in der Zeit der Abrissdiskussionen nicht als Mehrteiler in den Düsseldorfer Tageszeitungen erschien. Sie ist selbst für einen Laien beinahe spannend zu lesen und zeigt sehr detailliert, wie intensiv und ohne zu sparen an der grazilen Form des Tausendfüßlers geplant und wie sorgfältig die Bauausführung erfolgte. Nur ein Zitat daraus:

Für die Erhaltung der Hochstraße Jan-Wellem-Platz liegen künstlerische, wissenschaftliche und städtebauliche Gründe vor. Die Gestaltungsqualtät des Brückenbauwerks hebt sich mit der Leichtigkeit ihrer Formgebung (ihrer „Entmaterialisierung“, um den Begriff Tamms aufzugreifen) wie der Eleganz im Grundriss, Aufriss und Querschnitt, mit ihren „kontinuierlich geführten Kurven höherer Grade“, ihrer einfach und doppelt sinusförmig geschwungenen Untersicht und ihrer geringen Bauhöhe von dem Gros der gleichzeitig, aber auch später ausgeführten innerstädtischen Hochstraßen positiv ab.

Es ist wirklich eine Schande, dass man diese Sicht der Dinge niemandem mehr am Objekt vorführen kann.
Lore Lorentz sagte einmal:

Düsseldorf hat eine Stärke: Kein Dom überragt die Gegenwart.
Ihre Schwäche: Sie weiß nicht, daß es ihre Stärke ist.

Dieses schwierige und einen voreiligen Abriss fördernde Verhältnis Düsseldorfs zu seiner eben nur aus Bausünden bestehenden Moderne könnte man nicht besser beschreiben. Baudenkmäler benötigen Zeit, um allgemeine Wertschätzung erfahren zu können. Uns Düsseldorfern fehlt es wohl an der nötigen Geduld.
So wird die hier beschriebene Dokumentation die Fehler der Vergangenheit nicht mehr korrigieren können, aber vielleicht kann sie helfen, in Düsseldorf und anderswo demnächst weniger solcher Fehler zu begehen und vor einem Abriss zu überlegen, was eine attraktive, eine lebenswerte und individuelle Stadt zwischen den vielerorts zu beklagenden Normbauten ausmacht.


 

Der Düsseldorfer Tausendfüßler – Die Auseinandersetzung um den Erhalt der Hochstraße und um die Kö-Bogen-Planung
Manfred Droste und Hagen Fischer (Herausgeber)
erschienen beim Droste-Verlag in Düsseldorfer
ISBN 978-3-7700-6000-9
19,80 € (D)


Mehr zum Thema:

Der große Pan ist tot

Abschied vom Tausendfüßler

Zwei Netzfundstücke zum Thema:

Die Rettung des Tausendfüßlers ist noch möglich! – Scissorella

Tausendfüßler. 1962 – 2013. Düsseldorf verabschiedet sich von der Moderne. – Scissorella




Der Tourist bei den Kürzestfilmfestspielen

Magnus Jürgensen und Johannes Menzel erzählen in nur zwölf Sekunden eine ganze Geschichte

 | von Dirk Jürgensen ...

Aus dem Kurzfilm „Tourist aus der Zukunft“ wurde ein 12-Sekunden-Kürzestfilm für die vom österreichischen „Landjäger-Magazin“ veranstalteten Festspiele. Nicht nur aus familiären Gründen wünsche ich mir bis zum 3. Juni 2015 ein vielfaches Liken und Teilen des minimalen Spielfilms, der uns innerhalb von nur zwölf Sekunden eine ganze rätselhafte Geschichte erzählt:

Link zum Wettbewerbsbeitrag

Bildlink zum Wettbewerbsbeitrag

PS: Der Name des veranstaltenden Magazins täuscht. Ein Blick hinein widerlegt glücklicherweise die übliche Befürchtung.




Libertalia – Von Piraten lernen

Wir brauchen Utopien – Teil 6

von Dirk Jürgensen ...

Vermischen wir das Bild gesetzloser Halunken mit etwas Seefahrerromantik und wildem Abenteuer, stellen wir der brutalen Truppe einen herzlosen, von Grund auf bösen oder einen unfreiwillig in Ungnade des Königs geratenen Kapitän voran, ist unsere tradierte Vorstellung von Piraten zwischen Captain Blood, Captain Flint, dem Roten Korsar und Jack Sparrow vollständig. Wir übersehen dabei, dass das Piratentum durchaus auch eine bis in die heutige Zeit wirkende politisch-philosophische Komponente besitzt, die in der sich entwickelnden Globalisierung des 17. und 18. Jahrhunderts zu begründen ist und uns heute alternative Ideen zum aktuellen Demokratieverständnis im so dominanten Kapitalismus aufzeigen kann. Ein im Januar 2015 erschienenes Buch bietet uns eine wichtige Ergänzung zu unserem bisherigen Piratenbild:

Libertalia - Die utopische Piratenrepublik - bei Matthes & Seitz

Libertalia – Die utopische Piratenrepublik – Link zu Amazon

Es handelt von der Geschichte des auf Madagaskar gegründeten Seeräuberstaates „Libertalia“, es beschreibt die Legende von einer wohl tatsächlich gelebten Utopie, die früh Vorbild für Basisdemokratie, einen freiheitlichen – also libertären – Kommunismus werden sollte und einige Parallelen mit den spanischen Anarchisten der Dreißigerjahre des letzten Jahrhunderts aufweist. Sie dürfte lange vor der französischen Revolution und der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung eine enorme Brisanz besessen haben, da in einem Gemisch aus Tatsachenberichten, journalistischem Material, Fiktion und politischer Idee sogar Vorgriffe auf die Aufklärung gewagt wurden und der Text die Bewunderung der vorgetragenen Ideen mit einigen eher alibihaft  daherkommenden Bemerkungen zu überspielen versucht.

1728 erschien unter dem Namen Charles Johnson der bis heute meist Daniel Defoe zugeschriebene zweite Band der „Allgemeinen Geschichte der Piraten“, der ein Bericht über die Piratenrepublik und ihre Gründer enthalten ist. Dass die Urheberschaft weiterhin umstritten ist, dazu ein niederländischer Buchdrucker und eine anonyme Autorschaft ins Spiel gekommen ist, soll hier nur am Rande erwähnt werden. Viel interessanter ist, dass der Text fast dreihundert Jahre warten musste, um endlich unter der Herausgabe von Helge Meves von David Meienreis erstmalig in die deutsche Sprache übersetzt zu erscheinen. Dass man sich beim Berliner Verlag Matthes & Seitz für Daniel Defoe als auf dem Cover zu vermerkenden Verfasser entschieden hat, sei der Einfachheit oder auch der besseren Vermarktung geschuldet. Dass man den schmucken Band um eine von Arne Braun übersetzte „Beschreibung der Regierung, Gewohnheiten und Lebensart der Seeräuber auf Madagaskar“ von Jacob de Bucqouy und um eine Vielzahl ergänzender Beiträge vervollständigte, macht ihn umso wertvoller.

„Libertalia“ erzählt vom aus wohlhabenen Hause stammenden Misson, der eher zufällig an die Führung eines Schiffs gerät und seinem Freund, dem von der geld- und karrieresüchtigen Kirche enttäuschten ehemaligen Priester Caraccioli, der ihm die theoretischen Grundlagen für seinen revolutionären Führungsstil schafft und die Mannschaft in aufklärerischem Geist religionskritisch und antimonarchistisch belehrt.

Caracciolis Rat folgend lässt sich Misson von der Mannschaft zum Kapitän wählen und ebenso demokratisch über den weiteren Kurs abstimmen. Bei der Diskussion um die zu hissende Flagge schlägt der Bootsmann eine schwarze vor, doch Caraccioli entgegnet:

Sie seien keine Piraten, sondern Männer, entschlossen, die Freiheit zu behaupten, die Gott und die Natur ihnen geschenkt hätten; sie würden sich keinen anderen Regeln unterwerfen als denen, die für das Wohlergehen aller nötig seien.

Weiterhin führt er aus, dass Gehorsam gegenüber Vorgesetzten notwendig sei,

wenn diese die Pflichten ihres Amtes kennten und danach handelten; wenn diese beflissene Wächter der Rechte und Freiheiten der Menschen seien; wenn sie dafür sorgten, dass Gerechtigkeit walte; wenn sie sich gegen die Reichen und Mächtigen stemmten, sobald diese versuchten, die Schwächeren zu unterdrücken.

Nach weiteren Ausführungen kommt er zum Schluss, dass ihre Sache

mutig, gerecht, unschuldig und ehrenhaft und die Sache der Freiheit sei und plädiert für eine weiße Flagge mit der Göttin der Freiheit, Libertas, darauf […]

Das auf dem Schiff vorhandene Geld wird in einer Schatztruhe verwahrt und von Misson zum Gemeineigentum erklärt. Er mahnt, dass

wenn die Gleichheit untergehe, folgten Elend, Verwirrung und gegenseitiges Misstrauen wie die Ebbe der Flut.

Auch ruft er auf,

Gefangenen eine humane zu großzügige Behandlung zuteilwerden zu lassen,

obwohl ihnen selbst vermutlich nicht so ergehen würde.

Auf nun folgenden Kreuzfahrten wird reichlich Beute gemacht und zahlreiche Sklaven können befreit werden, die sich in einem recht modernen Sinne meist in die eigene Schiffsbesatzung integrieren lassen, denn sie werden eingekleidet und auf die Messen der Mannschaft aufgeteilt, um unter anderem schneller die Sprache zu erlernen und sie zu überzeugten Verteidigern der Freiheit zu machen. Hier zeigt sich der wirklich zeitgemäße humanistischer Aspekt der Geschichte, der uns in Zeiten einer bis zum Hass zunehmenden Angst vor einer gesellschaftlichen Überfremdung zu denken geben müsste, schließlich ist die lebensnotwendige Interaktion auf einem Schiff der damaligen Zeit ein gutes Laborumfeld zur Erprobung des Funktionierens einer Gesellschaft.

Nach einigen weiteren Abenteuern wird irgendwo auf Madagaskar die freie Kolonie Libertalia – die Bewohner bezeichnen sich als Liberti – gegründet und der recht bekannte Piratenkapitän Thomas Tew schließt sich an. Tew erhält den Auftrag zur Eroberung von Sklavenschiffen, um durch deren Befreiung die Kolonie auszubauen, was überaus erfolgreich gelingt. Erbeutetes Geld wird

dem kollektiven Schatz zugeführt,

da in einer Gesellschaft ohne Eigentumsschranken

Geld keinen Nutzen

hat.

Nachdem es in der Kolonie zu Streitigkeiten zwischen Missons und Tews Mannschaften gekommen ist, fordert Caraccioli die friedliche Beilegung und regt für zukünftige Fälle der Allgemeinheit dienende Gesetze und eine Regierung an. So wird eine demokratische Staatsform beschlossen, in der ein für drei Jahre gewählter Conservator als höchste Gewalt eingesetzt wird. Danach wird innerhalb von zehn Tagen die Verteilung eines gerechten Anteils von Privateigentum, wie auch ein allgemeines Gesetzbuch beschlossen, gedruckt und verteilt.

Leider endet kurz nach der Konstitution Libertalias aufgrund einiger dramatischer Schicksalsschläge und eines Angriffs auf die Kolonie – keinesfalls aufgrund interner gesellschaftlicher Probleme – die Utopie der ersten libertären Republik. Doch hält uns das hier besprochene Buch noch einige sehr aufschlussreiche Piratensatzungen bereit, die durchaus nachweisen können, dass die auf Gerechtigkeit basierenden Ideen der Liberti höchstwahrscheinlich unbewusst in ähnlicher Form auch von ganz anderen Piraten geteilt wurden. Neben allgemeinen Verhaltensregeln werden in diesen Satzungen die Verteilungsschlüssel für den Umgang mit erbeuteten Gütern und sogar die soziale Absicherung bei Verwundung festgelegt.

Nicht nur einmal erwähnt darf die „nähere Beschreibung der Regierung, Gewohnheiten und Lebensart der Seeräuberdes Niederländers Jacob de Bucquoy bleiben, der aufgrund seiner Gefangenschaft in der Hand von Piraten interessante Hinweise auf die erstaunlich unabhängige und vernunftorientierte piratische Gerichtsbarkeit und eine Art Muster-Piratensatzung vorlegt. Danach – vermutlich angesichts der multikulturellen Zusammensetzung der Mannschaften – ist es unter Androhung von Strafe beispielsweise untersagt, über die Religion zu streiten. Ein Ansatz, der uns heute sehr gut gefallen sollte.

„Libertalia – Die utopische Piratenrepublik“ ist ein überraschend aktuelles Werk, das zwar sehr spät, aber irgendwie genau zur richtigen Zeit in deutscher Sprache erschienen ist. An Tagen, an denen Pegida und deren Derivate jenseits von Dresden einen bedenklichen Konservativismus mit dem Vehikel einer hervorgelockten latenten Fremdenangst propagieren und wirkliche Ideen eines gesellschaftlichen Fortschritts in Form von größerer Gerechtigkeit als „Gutmenschentum“ abtun. Wer hätte je gedacht, dass man Piraten in dieser seltsamen Wortverdrehung als „Gutmenschen“ bezeichnen könnte?

Die Idee eines libertären Kommunismus, der nichts mit dem bekannten totalitären Kommunismus gemein hat, die Hinweise darauf, dass multikulturelle Gesellschaften doch funktionieren, sogar von ihrer Vielfalt profitieren, das Integration auch bedeutet, den zu Integrierenden an den eigenen Tisch einzuladen, dass unsere auf Zins aufgebaute Geldwirtschaft und die ungerechte Verteilung von Reichtum auf Kosten einer armen Mehrheit mehr als einer Reform bedürfen, findet in dieser früh gelebten Utopie von Libertalia Unterstützung und ist ein wichtiger Kontrapunkt in einer aktuell so abgelenkten Diskussion. Ja, wir können von 300 Jahre alten Piraten lernen, wie wichtig Utopien sind.

Ganz nebenbei, dieser wichtige recht unpolitische Punkt sei nicht vergessen, sollte der mit schöner Goldprägung ausgestatte „Libertalia“-Band samt seines reichen Schatzes an ergänzender Information in keinem Bücherregal mit einer abenteuerlich ausgerichteten Sammlung von Piratengeschichten fehlen.


Daniel Defoe: Libertalia – Die utopische Piratenrepublik

Im Verlag Matthes & Seitz, Berlin

Herausgegeben von Helge Meves, übersetzt von David Meienreis und Arne Braun

ISBN 978-3957570000 – 22,90 € (D) – Fragen Sie Ihren lokalen Buchhändler!


Surfziele zum Thema:

Ein Interview von Tobias Lehmkuhl mit Helge Meves beim SWR2 am 5.1.2015

Wikipedia zum „Goldenen Zeitalter der Piraterie“

Informationen zu Thomas Tew