Der Angler

Jemand liebt

© Foto: Maria Jürgensen

© Foto: Maria Jürgensen

Sie waren alle ohne einen Funken Verstand und Gefühl. Die Schar der Gäste im Saal des Grand Hotels verlor sich in heftiger Betriebsamkeit und schwang von der einen Seite des Raumes zur anderen. Voller Ernst parlierten sie bei Rotwein und Crémant über Belanglosigkeiten des eiligen Vormittags. Hier und da zückte ein Silbergrauer, Glattrasierter oder Bärtiger ein Handy, liebkoste mit dem Daumen den Bildschirm, der seinen Widerschein vereinnahmend auf dem Gesicht seines Betrachters hinterließ und tippte behände eine Nachricht. Es wurde stetig lauter und geschäftiger. Das gleichförmige Summen der Stimmen bekam Gesellschaft von rhythmisch unterbrechenden Pings der Mobiltelefone, die eine Antwort aus dem Off signalisierten. Sie schmiegten sich eng aneinander, als sei man einander vertraut und zugewandt. Ihre Stimmen zerschnitten die körperlich skizzierte Nähe mit Worten. Laut, betont und das eigene Bild voreinander zeichnend markierten sie ihren Bereich. Sie war die einzige Frau hier. Sie schwieg, als sei das Schweigen Ausdruck ihrer anderen Haltung und die einzige Möglichkeit, ihren so notwendigen Abstand zu wahren.

Maria Damme wartete am Aufgang zur Empore, fern der Masse. Sie schaute zur Flügeltür, die den Parkettsaal von der mit Teppichflor ausgelegten Eingangshalle trennte. Sie musste an den in diversen Kreisen so betitelten Skandal denken, den Jemand im Jahr, bevor ihr Vater starb in der Bar dieses Hotels ausgelöst hatte. Jemand sei völlig nüchtern gewesen, hatte man ihr berichtet, eine Koryphäe auf dem Gebiet der Evolutionspsychologie und durchaus Herr seiner Sinne, als er einem älteren, sehr attraktiven Mann eine angeblich unschöne Szene gemacht habe und anschließend von ihm geohrfeigt worden sei. Keine Reaktion habe er gezeigt, seinen Kontrahenten nur angeschwiegen, traurig dreingeblickt, fast enttäuscht, kurz vor den Tränen. Er habe gewartet, vielleicht, dass der Mann sich entschuldige. Dieser, ein Fotograf, so hörte man, habe wortlos und erbost den Ort des Geschehens verlassen. Das könne man ja nur allzu gut verstehen. Der Erzähler hatte sich mit einem abschätzigen „Pffff“ einer Wertung nicht enthalten können. Der Mann könne sich glücklich schätzen, so der Berichterstatter, dass der Vorfall nicht gefilmt worden sei. Heutzutage lande doch so etwas in Nullkommanichts auf Youtube, der Ruf sei ruiniert… obwohl, was könne man da noch…Jedenfalls werde so ein Vorfall dann von allen gesehen und belacht. Worum es denn gegangen sei, hatte Maria gefragt. Ihr Gegenüber wusste es nicht. Der Mann sei nur ganz sicher zu weit gegangen und habe die Züchtigung verdient. Sie möge das entschuldigen, aber der müsse ja nun wirklich sehr vorsichtig sein. Sie wisse ja, was man über ihn rede. Maria hatte verneint. Unbeirrt fuhr der Erzähler fort, der Mann bekleide schließlich ein öffentliches Amt. Ständig drängten sich Fotografen um ihn herum. Da werde so etwas gleich in der Öffentlichkeit diskutiert. Es habe ja nun gar nichts mehr mit Anständigkeit zu tun. So lebe man nicht. Das sei ungehörig und überhaupt. Die „drei Ausrufezeichen“ sprach er als Nachsatz: „Drei Ausrufezeichen!“. Und er lese ja schließlich auch die Zeitung, zumindest quer. Das tat sie nicht mehr, zumindest für eine Weile. Jemand wurde erwartet, davon hatte sie gehört. Sie sah also zur Tür.

Maria hatte am Abend zuvor am Schreibtisch gesessen, auf den Bildschirm gestarrt, ohne eine einzige Zeile schreiben zu wollen und hatte mitten im Sommer die Heizung angestellt. Es war kühl im Land.

Die Dummen, die Faulen, die Abwartenden hatte Mühlenkamp behauptet, machten neunzig Prozent des Personals aus. Das sei nicht weiter schlimm, dann setze er sie halt für Routineaufgaben ein. Hauptsache, sie kämen nicht zum Nachdenken und auf seltsame Ideen. Er sprach sich deutlich gegen Mitarbeiterbefragungen aus, hasste jede Art von Feiern und sogar die Mittagspausen, in denen die Angestellten beisammen saßen, Freundschaften schlossen und pflegten. „Wenn sie nachdenken können, sind sie weder dumm, noch faul“, hatte sie erwidert, „und erst eine starke Gemeinschaft, die überlegt, empathisch, vereint und freiheitlich handelt, bewegt auch etwas und erkennt ihre Chancen.“ „Papperlapapp. Die brauchen eine starke Hand, sonst wird das nix. Husch, husch. Zack, zack. Handeln und aktiv sein. Emotionslos. Sentimentalitäten können wir uns nicht leisten. So lautet die Devise“, wurde sie unterbrochen und gleich in ihre Schranken verwiesen. „Sie müssen ja einen meterlangen Kleiderschrank haben und ich mag es, wenn sie hohe Schuhe tragen“, lautete sein nächster Satz.

In solchen Momenten stand er von seinem Stuhl auf, setzte sich vor sie auf die Schreibtischkante und blickte auf sie hinunter. Sie verschränkte die Arme und drehte ihren Stuhl von ihm weg. Maria wusste, was nun kam und zog es vor, erst bei beim Stichwort „Festrede“ wieder auf Aufnahme zu schalten. Sie zog ihre Schuhe unter dem Besprechungstisch aus: “Louis Vuitton, 10 Zentimeter Absatz, das ist Augenhöhe“, hatte er gesagt. Er nahm ihre Revolte gar nicht wahr. Das wunderte sie nicht. Der Boden unter den bloßen Füßen fühlte sich gut an.

„Wir sind aktiv, wir bewegen etwas…“, hörte sie ihn aus der Ferne sagen. Er hatte aus dem Fenster geschaut und in den Hof auf das graue Pflaster hinunter. „Wir müssen auf der Höhe der Zeit bleiben, intelligente Lösungen bieten, einen Höhenflug starten. Wir sind der Antrieb, die Zukunft. Machen wir eine tolle Aktion! Werbung – bester Service und so. Kundenbeziehung.“ Er betonte: „Beziehung“. „Wer’s glaubt“, dachte sie.

Sie rannte an jenem Tag vor dem Abend der endgültigen Erkenntnis vom Bahnhof nach Hause und blieb abrupt, sich selbst bremsend, außer Atem vor ihrer Haustüre stehen. Sie sah ruhig auf die Klinke, das Schlüsselloch, die Holzmaserung der Verkleidung, die Backsteinfassade. Sie verbarg die Schlüssel in ihrer Faust, setzte sich auf die Stufen vor der Tür und wartete. Sie betrachtete den Bürgersteig vor sich und ihre darauf landenden bloßen Füße, die vom stummen Nieselregen benetzt und gereinigt wurden. Sie sah auf das Ufer an der gegenüberliegenden Straßenseite, das zum Fluss hinunterführte. Maria blickte in die Wipfel der Akazien, die nach dem letzten Sturm stark ausgedünnt worden waren. Sie sah die Spitze einer Rose aus dem nie gemähten, hoch gewachsenen Rasen herauslugen. Die Blume wäre auf ihrem Balkon beinahe eingegangen. Maria hatte sie ausgesetzt. Sie gedieh. Ein Pärchen rannte, sich an den Händen haltend, einen Schirm schützend über sich aufgespannt, am Fluss entlang und lächelte ihr zu. Sie lächelte zurück.

Ihre Rede für das Jubiläum, die auf ihrem Computer hätte Gestalt annehmen müssen, tat das nicht. “Intelligenz, Energie und Tragfähigkeit…“, schrieb sie auf einen Notizblock. Maria strich das Wort „Tragfähigkeit“ und ersetzte es durch „Trägheit“. Die Vokabel „Energie“ wich und wurde gegen „Empathie“ ausgetauscht. Dann beschloss sie zu schlafen und bei der Rede auf ihre Spontaneität zu setzen. Sie verlor sich in einem herrlich skurrilen Nachtmahr, das ihr keine Sekunde Kopfzerbrechen bereitete. Jemand strich ihr im Traum über die Wange, setzte sich an ihr Bett und hielt eine ihrer beiden Hände in der seinen. Während sie schlief, sah sie ihren Vater mit seinem Boot in einen Sturm geraten und mit blutigen Händen einen Fisch umklammern. Ein Ausweg schien nicht möglich. Er rang mit dem Tod. Ein Fischer, der aussah wie Jemand und den sie plötzlich gut und lange kannte, half ihm auf seinen Kutter und vertäute seine Nussschale bei peitschender See am Heck.

Jemand kam endlich durch die Tür und betrat das Parkett. Bei seinem Eintreten bildete sich ein Defilee von gut gekleideten Herren, die ihm die Hand schüttelten. Niemand reichte ihm ein Glas Champagner. Er bevorzugte Tee, der ihm eilig gebracht wurde. Sogleich erkundigte man sich nach seinem Befinden. Es müsse doch einen Grund haben, warum er sich für solch ein Getränk entschied. Er antwortete, er habe justament ein Bedürfnis nach Tee verspürt. „Abwarten, was der Abend noch bringt und Tee trinken“, rief einer von vielen, lachte, errötete und tauchte wieder in der Menge unter.

Maria verzog die Lippen zu einem angedeuteten Lächeln und führte gelassen ihre Tasse zum Mund. Ihre Blicke trafen sich. Er nickte ihr zu und verweilte für einen Moment der Ablenkung bei einem kleinen Herrn, der mit den Armen rudernd das Festprogramm erläuterte. Man habe einen straffen Zeitplan. Er tue ferner gut daran, die Chance zum Austausch wahrzunehmen. Jemand zog die Augenbrauen hoch, bohrte verstohlen in seinem rechten Ohr, als sei Wasser hineingelaufen und sah sie erneut an. Sie trank und schwieg. Er ging auf sie zu und blickte auf ihre Schuhe, die achtlos neben ihr auf dem Boden lagen. Sie trug nicht einmal Strümpfe. „Stehen ist harte Arbeit“, sagte er und schien nicht im Mindesten überrascht. „Und Stehenbleiben erst“, antwortete sie. „Ich habe oft darüber nachgedacht in letzter Zeit“, sagte er. Sie schwieg. Er antwortete mit Schweigen. Später fuhr er fort: „Ich musste stehen bleiben, um zu begreifen.“ „Eben“, antwortete sie. „Sagen Sie das mal unseren Fortschrittskindern und Marathonläufern hier“, fuhr er fort. „Manchmal brauchen Dinge Zeit und Geduld, Muße und Liebe…Mut.“ Und wie zu sich selbst ergänzte er „Um das zu bekommen, wonach man sich am meisten sehnt, meine ich, muss man beharrlich sein, genau hinschauen und warten können. Zur Liebe passt die Eile nicht.“

Ihr stieg ein großes Sehnen bis hinein in die Schultern, das sich nicht auflösen wollte. Mühlenkamp applaudierte und kündigte sie an. Maria dachte an ihren Traum und schritt entschlossen zum Podium. „Wollen Sie nicht… ihre Schuhe!“, rief der kleine Herr. Sie beachtete ihn nicht.

Als sie am Pult stand, tippte sie auf das Mikrofon, räusperte sich, trank einen Schluck Wasser und sagte laut: „Meine sehr verehrten Herren.“ Maria unterbrach sich und blickte auf die Männer hinunter, die zärtlich zögernd und verstohlen ihre Anzüge aneinander rieben und beim Gläserklirren wieder auseinander stoben.

„Es geht immer um die Fähigkeit, aufeinander zuzugehen, einander aufmerksam zuzuhören und genau hinzuschauen. Selbst wenn wir nicht mehr zu retten sind, so bleibt uns am Schluss die Erkenntnis, das Wissen um das Wesentliche.“ Maria wartete.

Einige wandten sich gleich wieder von ihr ab und nahmen ihre Gespräche wieder auf. „Haben Sie die noch? HABEN Sie die Fähigkeit, das wirklich Wesentliche zu sehen?“ Das Mikrofon fiepte. Die Schar warf Blicke auf sie wie Steine auf die Ehebrecherin. „Was ist denn in die gefahren?“, murmelte es. „Hübsches Gesicht, die würde ich ja gern mal…“, sagte ein dicker Mann. „Komm, lass die doch mal“, sagte ein Schlaks, „das wird amüsant, da haben wir hinterher was zu lachen und zu erzählen!“. Er warf einen Blick auf sein Handy und schaltete die Kamerafunktion ein.

„Mein Vater starb glücklich an einem See“, begann sie in ruhigerem Ton „Aller Schmerz der Welt könne überwunden werden, wenn ich die Geduld aufbrächte, zuzuhören. Im Klang einer Stimme könne sich alle Melancholie der Erde sammeln, sagte er. In der Traurigkeit und Abkehr verberge sich der Kern des Glücks. Seine Traurigkeit und sein Glück sind in mir so präsent wie nie. Mein Vater ist mein Herz.“ Maria machte wieder eine Pause und fasste sich mit Mühe. Die Masse lauschte und ergötzte sich gaffend an ihrem Gefühl. Gläser klirrten wieder, ein Sektkorken knallte. Das Kamerasymbol im Handy des Langen blinkte.

„Das Warten auf den Moment, die eine Chance. Mein Vater hatte viele. Mit erst vierundzwanzig Jahren gab er seine Beschäftigung in diesem Unternehmen auf und wurde Fotograf.“ Applaus brandete auf. „Ich glaube, dass die Fähigkeit, genau hinzuschauen, zuzuhören…“, Maria senkte den Blick. Es war ruhiger geworden im Saal. Peinliche Stille machte sich bis zu ihr aufs Podium breit. Maria hob mutig die Augen:„Als Fotograf müssen Sie langmütig sein, den richtigen Augenblick abpassen, damit aus einem Foto ein großartiges wird. Mein Vater fing mit der Kamera ein, was einen Menschen ausmacht. Er hat ihn gesehen, er hat ihnen gelauscht. Er liebte es, Menschen anzuschauen. Wissen Sie, wir reden immer davon, handeln zu müssen, aktiv zu sein, voranzugehen, Ziele zu erreichen… ja, vom Chancen wahrnehmen. Vor lauter Rennen laufen wir am Ziel vorbei, verpassen unser Leben. Wir bewerten den Zieleinlauf nach der Geschwindigkeit. Wir sehen…das Ergebnis. Hauptsache rasch am Ziel.“ Jemand entnahm einem Kübel Eis und füllte sein Glas. Ein anderer hustete.

„Viele von Ihnen dürften meinen Vater kennen. Er hat berühmte Männer festgehalten und in bekannten Magazinen veröffentlicht. Sie kennen alle seine Ausstellungen. Nach Ihren Maßgaben war er erfolgreich. Er hat sein Ziel erreicht. Manchmal aber….“, Maria unterbrach sich. Sie beobachtete die unruhiger werdende Menge. Sie biss sich auf die Lippen. Im Publikum rumorte es, vereinzelt entstanden wohlwollend geäußerte Reminiszenzen, um sich des Gefühls der Scham zu entledigen und unschlüssig zollte man, lieber dem Protokoll folgend, ihrer seltsam stockenden Rede Beifall.

„An einigen seiner Bilder ist mein Vater fast zerbrochen, an jenen vom Krieg. Jenen, in denen er Männern beim Sterben zusah… in denen er einem Mann beim Sterben zusah“, korrigierte sie. Wieder machte sie eine Pause und richtete ihren Blick auf Jemand. „Mein Vater war passionierter Angler. Er fuhr zum See, stieg in ein Boot, angelte und genoss es, schweigen zu dürfen. Er kam fast immer ohne Fisch nach Hause. Mein Vater nickte zu den Vorwürfen meiner Mutter, gab nicht auf und wartete weiter. Sie hat nicht hingeschaut, nicht zugehört und auf ihrem Sterbebett zutiefst bedauert, beides nie getan zu haben. Meine Mutter, Luise Damme, hat meinen Vater nie verstanden. Am Ende war sie allein. Er hat gewartet. Ihr fehlte die Geduld. Es geht immer noch um Chancen, meine Herren.“ „Manager-Seminar, Familienaufstellung oder was?“, flüsterte der kleine Mann. Der Lange lachte nicht, kräuselte die Stirn und sah angestrengt zu Jemand hinüber, der Maria unübersehbar seine volle, ungeteilte und angespannte Aufmerksamkeit schenkte.

„An einem Frühlingstag war sein Moment gekommen. Man fand ihn wie schlafend am Ufer. Sein Boot war am Steg festgebunden. Seine Hände waren arg zerschlissen und gefurcht, als habe er mit aller Gewalt und erschöpft an seiner Angel gezogen. Vieles rund um seinen Tod blieb mysteriös. So viel kann man sagen: Er ist zweifellos ruhig, zufrieden, ja sogar glücklich eingeschlafen. Er war am Ende nicht allein. Sein Warten galt diesem letzten friedlichen… Augenblick.“ Maria rang mit sich. Jemand suchte ihren Blick. „Es geht um die Fähigkeit, genau hinzuschauen, zuzuhören…“, wiederholte Maria und fand ihn. „Ich übe mich darin“, erklärte sie. Jemand wischte mit einem Taschentuch über seine faltige Stirn. Er wirkte überrascht, blass und sehr wach, beinahe fiebrig, als er näher an das Podium herantrat und kurz aber heftig zu applaudieren begann. Das Publikum im Saal tat es ihm gleich, klatschte in die Hände und hatte mit Auftreten Herrn Dr. Mühlenkamps, der lächelnd, bemüht, die obskure Situation noch zu retten, die Bühne betrat, ihren Auftritt auch schon fast wieder vergessen. „Chancen ergreifen…“, begann ihr Chef. Maria verließ das Podium und schnellen Schrittes den Saal. Jemand hob ihre Schuhe auf und folgte ihr.

Sie trafen sich in der Eingangshalle. „Er hat es bis zum Schluss bedauert“, sagte er. „Seine letzte Chance, die gab es dann doch noch.“ Maria sah ihn fragend an. „Kommen Sie, trinken wir was“, sagte er. Sie verließen gemeinsam das Hotel und warteten, eng nebeneinander sitzend, im Café gegenüber auf ihren Tee.

Jemand legte beide Hände auf seine Knie und begann: „Von allen Frauen an der Uni war sie die einzige, der ich mein Geheimnis anvertrauen konnte.“ Maria ergriff seine Hand. „Luise war der einzige Mensch auf der Welt, der wusste, dass ich Männer liebte. Sie hat es gehasst. Luise und ich sind uns nie wieder begegnet. Ich weiß nicht, ob er es ihr erzählt hat. Ich bezweifle, dass sie ihn verstanden hätte.“ Jemand wartete, bis der Kellner den Tee abgesetzt hatte.

„Als ich Deinen Vater das erste Mal traf, war ich längst keine Jungfrau mehr. Wenn Du es noch nicht weißt, meine sexuelle Neigung ist so ziemlich überall Thema und wird bedenkenlos mal als moralisch verwerflich, dann wieder als potentiell progressiv eingestuft. Sei froh, dass man über Dein Schlafzimmer keine Stories schreibt und Dein Gehirn nicht auf erogene Zonen reduziert.“

Maria zog seine Hand an sich heran und verschränkte ihre Finger mit den seinen. „Ach weißt Du…“, kommentierte sie, zuckte mit den Schultern „Du hast sie doch gerade erst erlebt. Ihre sogenannten Chancen werden in Dollar, Werbezeit und Sensationen gemessen.“ „Stimmt“, bestätigte er ernst.

„Dein Vater fotografierte mich bei einer Gala. Er drängte sich in die erste Reihe, rief meinen Namen und bat mich, in die Kamera zu blicken, ihn anzusehen. Wir erkannten uns sofort.“ „Mein Vater“, antwortete sie, “ist mein Herz.“ „Ich weiß“, sagte Jemand “Ich habe ihn nicht lange, aber gut gekannt“. „Ich weiß“, antwortete Maria. Sie hielten sich aneinander fest.

„Ich glaube, es war sein Hals, der mich in Versuchung führte. Die Vorstellung, ihn mit meiner Zunge zu liebkosen, machte mich mutig. Ich habe ihn geküsst. Er hat meinen Kuss erwidert. Hungrig. Vor allen Leuten während eines Fototermins. In der Bar des Hotels gegenüber. Dann hat er mich geohrfeigt. Sie haben sich die Mäuler zerrissen.“ Er hatte alle Mühe, seine Emotionen zu verbergen. „Dein Vater floh. Mal wieder. Wir sahen uns erst an jenem Tag am See wieder. Es war ein Zufall. Seine Hände bluteten. Sein Fang sei beachtlich, ein riesiger Fisch, der ihm dann doch von der Angel schoss, erzählte er mir. Ich verband seine Wunden. Wir saßen dort und er erzählte mir vom Fisch und von dem Soldaten, den er in den neunziger Jahren in Ruanda kennenlernte. Er war der schönste Mensch, den er je sah. Die letzten Minuten dieses Lebens verbrachten sie flüchtend am Rande der Straße. Tausende von Menschen bewegten sich um sie herum, die keine Hilfe, keinen Schutz boten, die nicht mehr hinschauen konnten. Sie waren allein und waren es auch nicht. Manchmal stapelten sich Berge von Leichen an den Rändern der Straße, so nah am Tod, so nah am Ende. Und inmitten dieser Gewalt erhob sich ihre Insel. Dein Vater und er liebten einander. Sie bekannten sich nicht. Sie hatten keinen Mut. Sie nahmen ihre einzige Chance nicht wahr. Es schmerzte ihn bis zum Tag unserer Begegnung, ihn zum Abschied nicht geküsst zu haben. Der Krieg tobte weiter. Auch in ihm. Dein Vater hat mit Luise gerungen und sie mit ihm. Er hat Dich geschaffen und geliebt. Er hat gewartet, dass sich alles noch einmal ändert. Vielleicht galt das Warten am Schluss mir. Denn an diesem Tag am See wurden wir ein Paar. Ich habe ihn nicht nur geküsst. Als ich ging, waren wir glücklich und hoffnungsvoll.“ Jemand schwieg.

Maria atmete tief ein und wieder aus. Der Tee war kalt. Sie hatten ihn nicht angerührt. Jemand reichte ihr ihre Schuhe. „Nein“, antwortete Maria, hielt noch immer seine Hand und küsste ihn lachend auf die Stirn.

Die Kamera lief.

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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