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Fotografische Entschleunigung

30 Sekunden – Eine halbe Minute Ewigkeit

 von Dirk Jürgensen …

Das Thema »Zeit« geht uns nicht aus den Köpfen. Ob wir unser Privatleben planen, die Arbeit uns Zeit stiehlt, versaut oder Erfüllung bringt, ob wir die Wochen und Tage bis zum Urlaub zählen oder das, was uns vom Leben übrig bleibt, ob wir auf den Bus warten oder im Stau stehen, die Zeit beschäftigt uns immer – besonders wenn wir von der so notwendigen »Entschleunigung« reden.

30 Sekunden © Jürgensen - DüsseldorfSo lag es für mich nicht fern, der Zeit ein Fotoprojekt zu widmen, eine künstlerische Annäherung an das Thema zu suchen. Denn besonders in der Fotografie ist die Zeit ein außerordentlich einflussreicher Aspekt.

Normalerweise, wir erwarten als Ergebnis in der Regel ein scharfes, nicht verwackeltes Bild, konserviert ein Foto einen Zeitabschnitt, der nur hundertstel oder tausendstel Sekunden währte. Es täuscht uns das, was mit dem Klacken des Verschlusses schon längst Vergangenheit wurde, als ewige Gegenwart vor. Mit ihrem Einfrieren des Bruchteils einer Sekunde ist die Fotografie ein Hilfsmittel für unsere oft zu fahrige Wahrnehmung und gleichzeitig eines für unsere unpräzise Erinnerung. Wir wollen das so und akzeptieren damit die zeitlich winzige Wirklichkeit eines Fotos als Wirklichkeit des Lebens.

Versucht man in der Fotografie Zeit sichtbar zu machen, gibt es die Möglichkeit mit Serienaufnahmen Veränderungen, Bewegungen und Abläufe in Sequenzen einzuteilen. Jedes Bild für sich ist dann wieder ein kurzer und für sich abgeschlossener Ausschnitt aus der Zeit. Den zwischen den einzelnen Bildern entstandene Zwischenraum füllt unsere Phantasie, so, wie auch ein Film aus vielen Einzelaufnahmen besteht und die Geschwindigkeit des Bildwechsels uns den lückenlosen Fluss des Geschehens vorgaukelt.

Eine andere Möglichkeit ist die, die Belichtungszeit zu verlängern, sie in einen Bereich zu bringen, den wir glauben, mit unserer Wahrnehmung erfassen zu können. Sagen wir, eine halbe Minute. Müssen wir eine halbe Minute warten, kann das eine Ewigkeit bedeuten, doch erleben wir gerade einen großen Genuss, gehen 30 Sekunden viel zu schnell vorbei. Beim Fotografieren selbst bedeuten 30 Sekunden oft eine Ewigkeit, eine Zeit, in der man sich mit dem Drücken des Auslösers dem Zufall aussetzt. Stellt man sein Kamerastativ beispielsweise in einer Fußgängerzone auf, möchte die Bewegung eines Passanten verfolgen, dreht er sich unerwartet um, ein Kind läuft ihm in die Quere und die eben noch schlaff am Mast hängende Fahne im Hintergrund wird von einer Windböe erfasst. Wer mit einer Belichtungszeit von einer halben Minute fotografiert, erfährt die Ewigkeit solcher Momente.

Wie sehr sich dieser Zufall sich auch an der Bildkomposition beteiligen mag, immer ist das Ergebnis ein Dokument dessen, was innerhalb seines Erfassens geschah, eines, das aber auch zeigt, wie flüchtig die Ausdehnung der Zeit dieses Geschehen macht. Menschen, Tiere, Dinge in Bewegung verwandeln sich in ihre eigenen Spuren, sie werden durchsichtig, verschwinden bei schneller Bewegung ganz. Was bleibt, ist die Position der Ruhe, nicht die der Eile. Die Hektik der Innenstadt verwandelt sich in eine indifferente Wolke, wird letzthin aufgelöst.

So würde ich mich freuen, wenn der Bildband mit einer Auswahl meiner Fotografien, die konsequenterweise alle mit einer Belichtungszeit von 30 Sekunden entstanden, der Wahrnehmung der Zeit ein kleines Stück Geschwindigkeit nehmen könnten.

Wir reden so viel von Entschleunigung. Auch sie ist eng mit einer bewussten Wahrnehmung von Zeit verbunden. Vielleicht mögen Sie in diesem Zusammenhang mein künstlerisches Experiment sogar für sich selbst fortsetzen, indem Sie sich einfach(?) die Zeit nehmen, sich eine der im Buch versammelten Fotografien herausgreifen und sie eine halbe Minute lang anschauen, so lange, wie die Kamera benötigt hat, das Bild aufzuzeichnen. Ich würde mich freuen zu erfahren, was Sie sehen, was bleibt.


Das Bilderbuch »30 Sekunden – Eine halbe Minute Ewigkeit« (ISBN:978-3-744-85498-6) hat 52 Seiten im handlichen Format von 21x15cm mit zahlreichen Schwarzweiß- und Farbaufnahmen und kann in Deutschland für 8.50 € überall dort erworben werden, wo es Bücher gibt. Ihr lokaler Buchhändler wird es gerne für Sie bestellen.

Wenn Sie es partout nicht vermeiden können, dürfen Sie es natürlich auch bei Amazon oder über die folgende Box beim BoD-Bookshop ordern.

Weitere Informationen zu diesem Projekt finden Sie unter knipsenundtexten.de im Netz.

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Norderschauholm

Die Entstehung einer Chronik

 von Dirk Jürgensen ...

Norderschauholm ist ein kleines Dorf auf einer Halbinsel an der Ostseeküste Schleswig-Holsteins. Suchen Sie es nicht auf der Landkarte, bemühen Sie nicht Google-Earth. Sie verschwenden nur Ihre Zeit, denn dieses Dorf ist meine Erfindung.

Heutzutage gilt alles, was man sich vornimmt, als ein Projekt. Gut, dann ist Norderschauholm eben ein literarisches Projekt, bei dem Sie mich begleiten können. Es ist ein Projekt, das noch an seinem Anfang steht und hoffentlich in einigen Monaten, viel eher in einigen Jahren, zu einem guten Ende kommen wird.

So ist der Plan: Norderschauholm wird aus einer lockeren Reihe von Geschichten über seine Bewohner und Besucher – von denen übrigens der Verfasser selbst einer ist – entstehen, die in sich durchaus geschlossen sein können und dennoch immer miteinander verwoben sind.

Ich schreibe die Geschichten nicht chronologisch aufeinander folgend auf, vielmehr entwickeln sich Zeitläufte, Vorgänge und menschliche Typen intuitiv, ich habe Ideen, kenne bereits einige Hauptfiguren, finde autobiographische Einwürfe, Erfahrungen und möglichst meinen Kurs, doch bin ich gespannt, wie oft ich von diesem abweichen werde, welche neuen Ideen und neue Geschichten die Kursabweichungen hervorbringen werden.

An dieser Stelle werde ich immer wieder Episoden aus der so entstehenden Norderschauholm-Chronik vorstellen, Rohversionen dessen, was irgendwann einmal überarbeitet und in eine passende Reihenfolge gebracht als Buch erscheinen soll. Aus diesem Grund werden ich mir niemals die Mühe machen, die Texte dem Leseverhalten im Internet oder den Algorithmen der Suchmaschinen entsprechend zu optimieren. Ich bitte dafür um Ihr Verständnis und vermute, Sie werden es haben und sich wie ich auf ein Norderschauholm freuen, das sich das Ziel gesetzt hat, sich als winzige Utopie in unseren Köpfen festzusetzen. Denn Dystopien gibt es genug.

Los geht’s!




Menschenskind

Auswärtsspiel in Wuppertal

 von Dirk Jürgensen ...

Eine Lesung mit Musik mit Michael Schumacher, Maria Jürgensen und Dirk JürgensenDer Sommer hat noch nicht einmal begonnen, da laufen schon die Vorbereitungen für seine Hochphase. Am 16. Juli präsentieren wir, das sind Maria und Dirk Jürgensen gemeinsam mit unserem wunderbaren Freund Michael Schumacher in Wuppertal neue Geschichten und etwas Gesang unter dem Titel „Menschenskind“.

Menschenskind!

Ein Ausruf des Erstaunens, der Empörung und der Begeisterung – und irgendwie das, was wir alle sind.

Drei Autoren erzählen also etwas vom Leben.
Gewürzt werden Missgeschicke, Begegnungen, Skurrilitäten und Erinnerung
mit einer winzigen Prise Chanson und einer großen Portion Melancholie und Witz.

Michael Schumacher – Seit knapp drei Jahren treibt der gebürtige Wuppertaler sich nach einer mehrjährigen Pause wieder auf Bühnen herum, moderiert und organisiert in seinem Wohnort Xanten Poetry Slams und ist auch mit Prosa und Lyrik auf Lesebühnen zu hören.
Im Duo mit Ralph Beyer ist er mit dem Programm „Die tun euch nichts, die wollen nur lesen“ unterwegs. Morgens trinkt er Kaffee, danach Tee. Aufgewachsen im Bergischen Land, wohnt er jetzt grauhaarig und gerne am Niederrhein. Frei nach der rheinischen Lebensweisheit: Et is so, aber auch mal so. Was sagt das über seine Texte? Nichts. Oder alles. Je nachdem.

Maria Jürgensen schreibt, liest, singt, fotografiert und malt und macht ein bisschen davon auch vor Publikum. Sie schrieb für das Kulturmagazin „Einseitig.info“ und ist Autorin von Kurzprosa und Kolumnen. Als Mitglied des Netzwerks freier Kulturjournalisten war sie Mitorganisatorin und Jurorin des „Joseph-Heinrich-Colbin-Preises“. Wer mehr von ihr lesen will, findet sie genau hier.

Dirk Jürgensen wechselt gern vom Fotokünstler zum Autor und umgekehrt.
Als Mitbegründer und Schreiber des inzwischen legendären Online-Magazins „Einseitig.info“ war er Mitorganisator und Juror des „Joseph-Heinrich-Colbin-Preises“. Er ist Herausgeber einer deutschsprachigen Version des Finanzblasenklassikers „Das vergoldete Zeitalter“ von Mark Twain und Charles Dudley Warner. Gemeinsam mit seiner Frau versorgt er  dasvergoldetezeitalter.de mit Texten. Seine Fotografien sind im Netz unter knipsenundtexten.de und in einer Reihe handlicher Bildbände zu finden.

Die Veranstaltung findet im Wuppertaler Weltkulturladen statt, beginnt um 20 Uhr und der Eintritt ist frei, Spenden werden jedoch gerne entgegengenommen.

Weltkulturladen
Röttgen 102
42109 Wuppertal

Weitere Informationen gibt es bei Facebook.





2016 – Ein Jahr für Egomanen

Demokratie im Selbstzerstörungsprozess

 von Dirk Jürgensen ...

Der Autor dieser Zeilen hat sich entschieden, das Jahr 2016 nicht mit einem Rückblick zu versehen. Zu oft müsste er seinen recht deprimierten Rückblick auf das Jahr 2015 zitieren und noch ein paar weitere dunkle Töne beimischen. 2016 war ein Erfolgsjahr für Egomanen, der Nationalismus greift weiter und immer stärker um sich – sogar bei uns in Deutschland, wo wir es doch wirklich besser wissen müssten. Zuletzt hat dann auch die Präsidentschaftswahl in den USA bewiesen, dass es immer auch noch schlimmer kommen kann und der Begriff der Schwarmintelligenz zumindest im Politischen ein sehr fragwürdiger ist.

Der Schwarm ist es, der den weltweiten Selbstzerstörungsprozess der Demokratien beschleunigt. Zerstörung und Zurückentwicklung statt Verbesserung und Fortschritt heißt die Devise, die mit diffusen Ängsten legitimiert wird, die man uns viel zu lange hieß ernst zu nehmen. Dabei hat das Umtätscheln der höchst informationsresistenten besorgten Bürger sie zum Schwarm werden lassen. „Postfaktisch“ wurde auch in diesem Zusammenhang zum würdigen Wort des Jahres 2016. Es scheint so, dass die jahrelange Lektüre der Bildzeitung und das Zurückziehen in eine ganz eigene kleine Welt des ach so einflusslosen „kleinen Mannes“ zu einer Überforderung angesichts der heutigen Informationsvielfalt geführt hat. Erschwerend kommt hinzu, dass das die Presse längst ablösende Medium Facebook immer nur die eigene Meinung stärkt, anstatt das Weltbild zu entfalten. Sogar dumme und falsche „Fakten“ dienen dem Jeweiligen Status quo. Nebenbei sei die Frage erlaubt, ob die derzeit aufkeimenden Debatte um die Verhinderung von „Fake News“ auch in der Redaktion der Bildzeitung als Drohung empfunden wird?

Establishment? Welches Establishment?

Der Autor, der in den Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts politisch sozialisiert wurde, der dem Establishment als Klasse einer reichen Machtelite durchaus immer kritisch begegnete, fragt sich, was die heutigen Kritiker des Establishments überhaupt unter diesem recht englischen Wort verstehen. Was ist das für ein Establishment, das überall und jetzt bekämpft werden soll, wenn man einen Donald Trump zum Präsidenten wählt? Einen, der genau jener Clique angehört, die man zu bekämpfen vorgibt. Wählt man ihn nur, weil er sich einer Ausdrucksweise bedient, die außer Dummschwätzerei und gröbster Beleidigung kaum Alternativen kennt, weil er ein so herrlich unerzogener und gemeiner Egomane ist, wie man es nie sein durfte? Political correctness ist zum Schimpfwort mutiert und niemand stellt die Frage, ob diese neue incorrectness hilft, wenn sie größtenteils aus Lügen und Blendereien besteht?

Protestwahl dient keinem Selbstzweck

Immerhin zeigt Trump schon jetzt ganz deutlich, wozu es führt, wenn man politisch ahnungslos allein aus Protest irgendjemanden, den lautesten und frechsten Kandidaten wählt. Protestwahl dient niemals einem Selbstzweck, hinterher kommt es genau anders herum, als man es wollte. Trump holt einen Außenminister aus der Ölindustrie, der sich herrlich mit dem anderen Egomanen in Russland versteht. Trump holt einen Finanzminister aus dem Umfeld genau jener Bank, die eine der Hauptrollen in der Krisenauslösung gespielt hat, die so viele seiner Wähler in die Armut trieb. Ein Kabinett reinen Establishments. Noch jubeln seine Anhänger, er würde die Regierung endlich wie eine Firma führen wollen. Eine Firma, das wird nur zu gerne übersehen, die auch pleitegehen kann, wie es auch Trump mit einigen seiner Firmen erlebt erlebt und erfolgreich verdrängen konnte.

Trump ist das Sinnbild für den absoluten Sieg des Kapitalismus, wenn man will, auch des Ablegers mit dem Namen Neoliberalismus. Der sogenannte Amerikanische Traum, in dem unzählige Tellerwäscher zu Millionären wurden, soll wieder im ganzen Land geträumt werden. Wohlgemerkt, geträumt soll er werden. Gelebt wurde er noch nie, denn dass der Kapitalismus immer nur temporär zu einem breit angelegten Wohlstand führt, wenn man ihn nicht mit ganz engen Zügeln fasst, dass er immer ein Spiel von wenigen Gewinnern und vielen Verlierern ist, gelangt immer erst in das Bewusstsein seiner Jünger, wenn die nächste Krise auch sie erreicht. Ewiges Wachstum ist auch so ein Wunschtraum, der nicht Realität werden kann, der uns aber von jenen wenigen Gewinnern als Realität „verkauft“ wird, die in einer Krise nicht wieder bei Null beginnen müssen.

Kein Meister rettet den Zauberlehrling

Wir in Europa sollten uns einfach wieder an die paar Jahre Geschichtsunterricht in der Schule erinnern und daran denken, dass lauter Protest immer dann angemessen ist, wenn er der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Toleranz dient. Der Ruf nach einem starken Mann als Äußerung des Protests ist fatal. Die demokratisch gewählten Trump, Putin und Erdogan (es sind die markantesten Beispiele und die Liste könnte durchaus viel länger sein) sollten Mahnung genug sein.

Vielleicht ist der Wahlerfolg Trumps zumindest einigen Europäern eine Lehre, eine, die einen Wilders in den Niederlanden, eine Le Pen in Frankreich oder die unsäglichen Nein-ich-bin-kein-Nazi-aber-Verharmloser der AfD verhindern.

Political correctness heißt nicht, dass man sich in großen Koalitionen bis zum Tode kompromissbereit zeigt. Im Sinne der Grundrechte – der Menschenrechte – darf es keine Kompromisse geben. Das sollten auch jene Parteienvertreter und Kommentatoren wissen, die derzeit hoffen, dem Rechtsrutsch und den Rufen der „besorgten“ Bürger mit Thesen aus dem braunen Umfeld begegnen zu müssen. Mischt man einem Eimer mit roter oder schwarzer Farbe Braun hinzu, kann das Rot oder Schwarz hinterher nur schmutziger aussehen – eine nachträgliche Korrektur ist schwierig.

Ach, da kommt der Meister!
Herr, die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister
werd ich nun nicht los.

Das ist ein oft verwendetes und passendes Zitat, doch wir sollten nicht zu fest damit rechnen, dass den politischen Zauberlehrlingen im Parlament und auf der Straße mitten im größten Schlamassel Goethes Meister zu Hilfe kommt.

Populisten verbreiten keinen Spaß

Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass „Die Zeit“ kurz vor dem Jahresende in ihrer 52. Ausgabe an ein Jubiläum erinnert hat, das mir sehr am Herzen liegt. Zugegebenermaßen etwas uninspiriert – aber immerhin – erinnert die Wochenzeitung in ihrem Feuilleton an das vor 500 Jahren erschienene Werk „Utopia“ des Thomas Morus. Nun ist es sicher keine Binsenweisheit, dass „Die Zeit“ unter den „Lügenpresse“ skandierenden „besorgten“ Bürgern kaum Käufer findet, doch halte ich es für ein gutes Zeichen, dass überhaupt eine Zeitung an dieses Thema erinnert. Die Gegenwart verlangt angesichts der von den Populisten unterstützten und in ihrem Sinne verwendeten Schreckensbildern nach einer Wiederkehr der Utopie, der Vorstellung davon, wie Gesellschaft besser, gerechter und friedlicher funktionieren kann. Populisten nutzen die Ziel- und Bilderlosigkeit einer Gesellschaft rücksichtslos und leider sehr erfolgreich aus.

Wer meine hier zu findenden Beiträge zum Utopie-Thema kennt, der weiß, dass ich eine Utopie für ein Mittel halte, ein verständliches Bild von einer besseren Welt zu zeichnen, das sich anzustreben lohnt. Und um den üblichen Einwänden zu entgegnen: Niemals sollte davon ausgegangen werden, dass eine Utopie eins zu eins umgesetzt werden kann. Zu kompliziert ist diese Welt. Aber was nützt der Weg, wenn es kein Ziel gibt, das zu erreichen Spaß macht? Haben sie schon festgestellt, wie wenig Spaß die rechten Populisten verbreiten? Ihr Hass und der Wunsch nach Herrschaft und Abgrenzung ist kein wünschenswertes Bild einer friedlichen und freien Zukunft! Utopien können hingegen Optimismus und positives Handeln fördern. Sie erzählen nicht von einem religiös begründeten Totenreich, von keinem Paradies, für das man sterben muss, um hinein zu gelangen und für das bislang niemand eine wirklich nachweisbar gültige Eintrittkarte vorliegen konnte.

Der Geist der Utopie gehört in den Politik- und in den Wirschaftsteil der Zeitung

Wir müssen die Utopie nur wieder in unser Leben holen und darüber sprechen, ob die Menschen tatsächlich immer nur schlecht und korrupt sind, eine Idee von Gerechtigkeit zur Dystopie kippen. Dabei sieht man sich selbst doch immer auf der Seite der Guten. Was hindert uns „Gutmenschen“ also daran, die Utopien der historischen Autoren – nicht die Dystopien, mit denen sie oft verwechselt oder gleichgesetzt werden – zur Hand zu nehmen und selbst an einer neuen Utopie zu bauen? Mit etwas Engagement könnte der Geist der Utopien dann aus dem Feuilleton heraus sogar die Seiten der Politik und der Wirtschaft inspirieren, denn da gehört er hin.

Dieser Gedanke soll mein – wenn auch nur eine winzig kleiner – Hoffnungsschimmer auf ein besseres 2017 sein. Ein Schimmer, der auch auf dieser Internetpräsenz einst sichtbar werden soll. Spätestens dann wird die Facebook-Präsenz darunter leiden.

Hoffnung Utopie - Bild: ©Dirk Jürgensen - Düsseldorf

Bild: ©Dirk Jürgensen – Düsseldorf




Das Bilderbuch vom Rheinturm in Düsseldorf

Anregungen für einen Spaziergang

 von Dirk Jürgensen ...

Vor einigen Monaten habe ich einen kleinen Fotoband herausgebracht, in dem der Düsseldorfer Rheinturm zahlreiche Cameo-Auftritte hat. Cameo-Auftritte sind jene Überraschungsauftritte, die man meist vom großen Alfred Hitchcock in Erinnerung hat. Gut, man kann auch sagen, dass der Rheinturm auf den 64 Seiten des kleinenBandes die Hauptrolle spielt. Aber das wäre dem Ansatz meines Fotoprojekts nicht gerecht geworden, denn es geht darum, was dieses schlicht-schöne Bauwerk uns Düsseldorfern bedeutet und wie es uns täglich begegnet.

Rheinturm - Bild: ©Dirk Jürgensen - Düsseldorf

Rheinturm – Bild: ©Dirk Jürgensen – Düsseldorf

So ist diese Sammlung auf 64 Seiten eine Anregung für eigene Erkundungen geworden. Es lohnt sich, mit offenen Augen durch die Stadt zu gehen, ihre teils recht verborgenen schönen Seiten zu entdecken. Natürlich darf sie auch Besuchern der Stadt am Rhein einen Anlass zu Spaziergängen jenseits von Königsallee, Rheinpromenade und Altstadt liefern. Es ist schon spannend, wie viele Sichtachsen, Durchblicke und Einblicke immer wieder neu gefunden werden können. So kann auch ich nach Fertigstellung des Bandes immer wieder nur feststellen, dass ich noch ganz viele wichtige Ansichten übersehen habe.

Vermutlich könnte das Bilderbuch niemals komplett werden.

Das moderne Wahrzeichen einer modernen Stadt

Der Rheinturm ist innerhalb kürzester Zeit zu einem bedeutenden modernen Wahrzeichen der Landeshauptstadt Nordrhein-Westfalens geworden. Das liegt vermutlich an seiner Lage direkt am Rhein, vielleicht auch an seiner überaus schlichten Architektur und sein Korrespondieren mit der Düsseldorfer Brückenfamilie. Sicher lassen sich auch noch zahlreiche weitere Gründe finden, warum die Düsseldorfer ihn so mögen und Besuchern immer wieder die an ihm angebrachte Dezimaluhr erklären. Auf jeden Fall ist der Rheinturm ein Hinweis darauf, dass Düsseldorf eine sehr junge Großstadt ist und sich erst in Zeiten der Industrialisierung von einer beschaulichen preußischen Provinz-Verwaltung zu einer dynamischen Metropole verwandeln konnte.

Der kleine Band wird im Print-on-Demand-Verfahren hergestellt und ist über den stationären Buchhandel, wenn es nicht anders geht, auch über die Online-Händler wie Amazon zu beziehen.

Rheinturm – Cameoauftritte eines Düsseldorfer Wahrzeichens
ISBN: 978-3-741-28557-8
Format 21×21 cm
Preis (in Deutschland) 8,50€

Weitere Informationen zum Buch.




2015 – Ein Jahr, das keinen Rückblick verdient

Die Rückwärtsbewegung hat weiter Fahrt aufgenommen

 von Dirk Jürgensen ...

Das Jahr 2015 liegt in den letzten Zügen und es wäre wieder einmal Zeit für einen Rückblick. Doch noch nie war die Arbeit an einer solchen Rückschau trostloser als heute. Daher, die Leser meiner früheren Jahresrückblicke an dieser Stelle und im leider nicht mehr existenten Online-Magazin Einseitig.info mögen mir verzeihen, weigere mich angesichts dieser Trostlosigkeit der Recherche, der Überprüfung, was denn erwähnenswert sein könnte. Meine Motivation weiter belastend kommt hinzu, dass es kaum auffiele, wenn ich meinen „Rückblick auf ein rückwärtiges 2014“ einfach erneut verwendete. Diesen leitete ich damals so ein:

„Der Jahresrückblick auf das nun auslaufende Jahr 2014 fällt recht kurz aus: Demokratien wie Diktaturen haben sich weltweit darauf geeinigt, zwischen Nationalismus, religiösem Fanatismus und Marktradikalität angesiedelten Bekloppten alle Freiheiten zu gewähren. Kein Zeitgenosse wird sich an mehr Krisenherde oder gar Kriege erinnern können, was nicht allein an der größeren Durchdringung unseres Bewusstseins durch weltweite Nachrichten liegt. Vernunft ist nur noch das Leitbild einer schweigenden Mehrheit – oder gar Minderheit? Man weiß es nicht, denn schweigend degeneriert jede Mehrheit zu Minderheit. Auch in diesem Sinne war 2014 zu großen Teilen ein Jahr der Rückwärtsbewegung.“ Danach ließ ich „eine auszugsweise Auflistung der Beklopptheiten“ folgen, die meine These von der Rückentwicklung der menschlichen Gesellschaften mühelos belegten.

Bild: ©Dirk Jürgensen - Düsseldorf

Bild: ©Dirk Jürgensen – Düsseldorf

Nun muss konstatiert werden, dass die dramatische Rückwärtsbewegung 2015 noch weiter Fahrt aufgenommen hat, dass schlimmste Befürchtungen noch übertroffen wurden:

Bekloppte Fanatiker stürmten und mordeten in der Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo.

  • Ein bekloppter Pilot ließ eine vollbesetzte Passagiermaschine an einem Berg zerschellen.
  • In den Krisenherden dieser Welt werden täglich so viele Menschen Opfer von Fanatismus und Gewalt, dass der Massenmord vom November in Paris in globaler Sicht beinahe als nebensächlich empfunden werden könnte – und natürlich nicht darf.
  • In Deutschland – also in einem Land, dessen Bürger es wahrlich besser wissen müssten – brennen Flüchtlingsheime und es dürfte sogar sein, dass die Eltern oder Großeltern der aus unerfindlichen Gründen selten rechtsradikalen Brandstifter einst selbst Flüchtlinge waren. Pegida, AfD, Le Pen, Orban und wie all die Ableger der rückwärtsgerichteten Ideologien auch heißen, geben ihnen das moralische (sic!) Fundament für ihre Taten. Sicher, die bestreiten es und werden, sollte es noch schlimmer werden, die Folgen ihrer Reden weder erahnt noch gewollt haben. Wir kennen das.
  • International verkommen Demokratien mehr und mehr zu Castings und in der Folge zu Veranstaltungen zur Wiederwahl angehender und bereits fertig entwickelter Despoten.

Man kann so viel erahnen und muss dabei noch nicht einmal diversen Chemtrails am Himmel oder anderen Verschwörungstheorien folgen. Mit etwas Mühe schafft das jeder Mensch, der einen Rest von diesem – wie heißt dieses so oft und gern missbrauchte oder einfach nur falsch verstandene Ding noch? Ach ja – gesunden Menschenverstand besitzt und die Finger von der Bildzeitung lässt. Aber was macht dieser Mensch?

Er sieht zu, wie die europäische Idee der Solidarität, der Freiheit und der Gemeinsamkeiten zuerst zur bloßen Solidarität mit staatstragenden Banken verkam und nun vom längst für vermodert gehaltenen Nationalismus verdrängt wird. Er hört, dass die Verhandlungen über ein ihn in allen Lebensbereichen betreffendes Freihandelsabkommen (T-TIP) einer strengen Geheimhaltung unterliegen, eine öffentliche Diskussion von den demokratischen Institutionen ferngehalten wird. Er geht nicht auf die Straße, um gegen den Waffenexport, gegen den demokratiefeindlichen Lobbyismus, gegen die menschenverachtenden Auswirkungen der Globalisierung zu demonstrieren. Nein, er demonstriert gegen die Flüchtlinge, die er auch aufgrund seiner vorherigen Interesselosigkeit erst zu solche hat werden lassen. Seine Interesselosigkeit schreibt er dann auch noch der allgegenwärtigen Lügenpresse zu. Wählen geht er lieber gar nicht oder macht sein Kreuzchen ausgerechnet bei denen, die von Freiheit des anders Denkens gar nichts halten. Ignoranz, Abgrenzung und die ängstlichen Schritte zurück machen die Welt so wunderbar einfach und den Bekloppten dieser Welt die Bahn für ihr beklopptes Wirken frei. So bleibt Bertold Brechts Aussage aktuell:

„Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Schlächter selber.“

Wer mag, darf nun im Rückblick auf 2014 nachlesen, ob dieses Jahr 2015 an irgendeiner Stelle doch einen nennenserten Fortschritt verborgen hält. Der Autor ist für entsprechenden Hinweise dankbar.

Trinken wir auf ein hoffentlich besseres 2016! Was bleibt uns auch anderes übrig?




Düsseldorf, die reiche Stadt wird ärmer

Zum Ende einer Institution, dem Sternverlag

 von Dirk Jürgensen …

Noch nie hat mich die Nachricht über die bevorstehende Schließung eines Geschäfts so sehr wie diese geschockt. Das Ende des Sternverlags zum März 2016 bedeutet das Ende einer Düsseldorfer Institution, die das Leben vieler Menschen mitgeprägt und ein Leben lang begleitet hat. Brauchte man einst ein Buch, das der ebenfalls längst geschlossene kleine Buchhändler im Quartier nicht vorrätig hatte, lautete die unvermeidliche Frage: Warst du schon im Sternverlag?

Sternverlag - ©Foto: Jürgensen - Düsseldorf

Sternverlag – ©Foto: Jürgensen – Düsseldorf

Als die Schreibwarengeschäfte und Buchläden im Stadtteil schlossen, besorgte man die Schulbücher im Sternverlag. Jetzt, da ich längst keine Schulbücher mehr brauche, ist der Sternverlag immer die erste Anlaufstelle, wenn mir nicht einfällt, welches Buch ich denn verschenken oder selber lesen sollte. Eine ach so angesagte Mayersche, die nichts als ein großer Schnickschnackladen mit ein paar frontal präsentierten Bestsellern ist, kann all die Anregungen nicht bieten, die der Sternverlag bietet und leider bald bot. Und Amazon hat noch keine Möglichkeit gefunden, die Haptik eines Buches am Rechner zu simulieren.

Mit dem Sternverlag verliert Düsseldorf wieder einmal ein großes Stück seiner einst so markanten Einzelhandelsgeschichte. Ketten beherrschen auch in dieser Stadt den Markt und machen es völlig unerheblich, in welcher Stadt man sich gerade bewegt, um einzukaufen.

Der Sternverlag bedeutet die so notwendige Einzigartigkeit und ist hervorragend geeignet, Fremden und Neudüsseldorfern als Besonderheit präsentiert zu werden. Sucht man einen Laden, der Literatur nicht nur bestellt, weil er ein beschränktes Spezialsortiment oder nur die üblichen Vertreter verschiedener Bestsellerlisten vorrätig hat, sucht man einen Laden, weil man sein Buch eben nicht im Internet bestellen, es vor dem Kauf berühren und darin blättern möchte, hat man im Sternverlag eine große Chance fündig zu werden.

5000 Quadratmeter Verkaufsfläche sind für einen Buchhändler gigantisch, heutzutage kaum mit Gewinn zu bewirtschaften, dem Investorenwohl ein Graus. Die wirtschaftliche Vernunft schlägt auch hier einmal wieder zu. Die kulturelle Vernunft zählt nicht in der Gegenwart, sondern erst morgen – sie kommt in keinen Quartalszahlen vor. Vor Ablauf des nächsten Quartals ist der Laden zu.

Es geht nicht nur um den einen Buchhändler. Der Sternverlag ist für viele Düsseldorfer der einzige Grund, die Friedrichstraße aufzusuchen. Natürlich ist das ein Teil des Problems. Läge das Geschäft auf der viel stärker frequentierten Schadowstraße, sähe die Geschichte wahrscheinlich anders aus. Unweigerlich wird die Schließung des Sternverlags weitere Schließungen nach sich ziehen, weil der Straße der Leuchtturm verloren geht. Im kommenden Jahr wird diese Entwicklung dramatisch, da die Straßenbahn unter die Erde verlegt wird und somit kein Sichtkontakt nach draußen mehr besteht, der Spontanausstiege möglich macht.

Das ist der Lauf der Zeit. Das muss man hinnehmen. Die Stadt verändert sich, wie sich auch die Einzelhandelsstruktur verändert. So sprechen die „Vernünftigen“ unter uns. Doch ist es immer wieder eine Schande, wenn die Zukunft ärmer und langweiliger als die Gegenwart wird. Das sollte man dann doch nicht immer so einfach hinnehmen.

Im niederländischen Maastricht führen die Mitarbeiter einen der schönsten Buchläden Europas, der dennoch von der Schließung bedroht war, mit Erfolg weiter. Sie konnten ihn über eine Crowndfounding-Aktion retten. Schade, dass die Utopie bei uns einen so schlechten Ruf hat.

Würde sich in Düsseldorf eine ähnliche Initiative gründen, wäre ich sofort dabei!




Gotteskrieger? Nichts für mich.

Also, Gott, wie ist das jetzt mit Deiner Macht?

 von Dirk Jürgensen …

Wenn ein Gott von mir verlangte, seine Drecksarbeit zu übernehmen, indem ich Ungläubige töten oder versklaven sollte, um seine Herrschaft zu manifestieren oder sein beleidigtes Ego zu verteidigen, würde ich mich sofort vom Glauben an seine Göttlichkeit lossprechen.

Gott - © Foto: Jürgensen - Düsseldorf

… oder auch nicht. – ©Foto: Jürgensen – Düsseldorf

Wer ein Gott ist, der muss nichts delegieren, der kann mir und dem Rest der Menschheit seine göttliche Macht gefälligst persönlich glaubhaft demonstrieren. Er könnte zum Beispiel den, wie seine Jünger immer wieder vorgeben, von ihm geschaffenen Menschen in ein friedfertiges, in ein freies und tolerantes Wesen verwandeln. Er müsste ihm beibringen können, vernünftig und in Gerechtigkeit mit seinen Artgenossen zusammen zu leben und es wäre ihm aufgrund seiner Einzigartigkeit, seiner Güte und Souveränität gar nicht so wichtig, dass an ihn geglaubt wird. Was könnte ihn der menschliche Zweifel kratzen? Da stünde ein echter Gott drüber. Soviel Selbstbewusstsein müsste er doch besitzen; als Gott müsste er das wirklich hinbekommen. Er müsste es schaffen, aus Glauben Wissen zu machen, jene beiden Worte, deren Verwechslung die Religionen so gerne im Sinne ihrer gepachteten Wahrheit zelebrieren. Und wenn nicht, ja, was ist er dann anderes als ein Schaumschläger, an den zu glauben reine Verschwendung ist? Für ihn würde ich meine Hände nicht schmutzig machen und meine humanistischen Werte verraten.

Also, Gott, wie ist das jetzt mit Deiner Macht? Gehst Du jetzt endlich mal gegen die Mörder vor, die in Deinem Namen ihren Mist verzapfen und von Weltherrschaft träumen? Und vergiss dabei nicht all die Nazis und andere idiotischen Verbrecher und verbrecherische Idioten, die Deine ganze Schöpfung versauen.

Wie wäre es also jetzt endlich einmal mit einem Gottesbeweis, mit einem klaren Nachweis, dass Du gar keine Reservierungen für ein Paradies entgegen nimmst, dass die Sache mit den 40 Jungfrauen ein Einfall von Menschen ist?

Viel Zeit gebe ich Dir dazu nicht mehr, denn Du hast schonzu lange gewartet und ich fürchte, wir Menschen müssen den Mist ohne göttliche Hilfe wieder in die Reihe kriegen. Irgendwie.

Beten wird aufgrund der weiter zu erwartenden göttlichen Passivität wenig helfen. Gebete mögen dem Einzelnen vielleicht Trost schenken, ihn beruhigen. Der Nutzen ist allgemein allerdings gering, wenn man bedenkt, dass auch die religiös motivierten Terroristen vor ihrer Tat – wenn sie noch leben sollten, auch danach – beten. Lebensfreude hingegen, ist das, was den religiösen oder nationalistischen Fanatikern dieser Welt abgeht – und ihrer Ideologie schadet. So gehören Lebensfreude und Humor, jene wirklichen Beweise des Menschseins, unbedingt im Kampf gegen die Angst, die Dummheit, den Terror, den Faschismus, den Nationalismus und den religiösem Fundamentalismus jeder Couleur dazu. Aber das ist unser Problem.

Sicher wird es auch nach dem hoffentlich irgendwann gewonnenen Kampf immer wieder Menschen geben, die sich von einem Gott oder von ihren Überzeugungen verpflichtet fühlen, die Drecksarbeit zu erledigen. Ob es ein Anders Brevik oder die ISIS-Fanatiker in Paris sind, sie alle glauben und glauben zu wissen im Guten und im Dienste einer besseren Welt eine Drecksarbeit erledigt zu haben. Vermutlich helfen Medikamente in diesen Fällen mehr als jede Überzeugungsarbeit, aber für alle nicht so pathologischen Fälle hilft es, früh genug über die Frage nachzudenken, ob ein gerechter oder auch zorniger Gott, nicht auch ohne sie zurechtkommen kann und ein echter Gott keine Missionare braucht.




Wie Leder in der Kälte

Und dann hätte man der Pegida nicht einmal die Autobahnen zu verdanken

 von Dirk Jürgensen …

20.000 Menschen behaupten in Dresden einmal mehr das Volk zu sein. Damit meinen sie nicht das Volk der Pegida-Anhänger, sondern das Volk der Deutschen. Selbstverständlich bemerken sie nicht, dass sich 80 Millionen Deutsche nicht ohne weiteres von den kruden Ansichten dieser 20.000 vereinnahmen lassen wollen.
Das Volk? - © Jürgensen - DüsseldorfNun möchte ich die Menschen auf Dresdens Straßen nicht als Hochstapler oder gar Lügner titulieren. Wenn man sich inmitten einer größeren Menschenansammlung aufhält, kann sich schon mal eine gewisse Überheblichkeit einstellen, sich das Maß der Selbsteinschätzung verlogen gehen. Wer sich einmal im Fanblock eines Fußballstadions aufgehalten hat, wird verstehen, wie aus dem Erfolgswunsch für die eigene Mannschaft ein Wirgefühl entstehen und in der Masse explodieren kann. Anders wird es auf der Straße für einen durchschnittlich ungebildeten Mitbürger auch nicht sein, wenn, unterfüttert von der Hetze der Bildzeitung gegen die Griechen, vom Konkretisieren einst unterschwelliger Ängste gegen Europa und all die Ausländer dort, gegen Fremde allgemein, gegen unbekannte Religionen, die eigene Aussichtslosigkeit und überhaupt… durch Schuldzuweisungen nationalistischer Demagogen plötzlich alles Komplizierte dieser Welt so verständlich wird. Klar, dass die Begriffsverdrehungen, die brutalen Vereinfachungen, die alle Demagogen gerne verwenden, in der erlebten Masseneuphorie nicht bemerkt werden. So wird „Lügenpresse“ skandiert, oblgeich die Mehrzahl der Anwesenden ihren politischen Informationsstand ausgerechnet der Bildzeitung verdanken. Es werden Politiker beschimpft, die das Menschenrecht auf Asyl bewahren, nicht die, die Banken mit Milliardenbeträgen aus Steuergeldern retten und internationale Geldströme frei fließen lassen. Es wird die Angst vor Flüchtlingen geschürt, obwohl die Rüstungsindustrie ihr Geld auch damit verdient, dass in ihrer Heimat Krieg geführt werden kann. Menschen, die das Gute wollen – wähnen sich nicht alle Menschen auf der Seite der Guten? – und sich sogar dafür einsetzen, erhalten das zum Schimpfwort umgeformte Prädikat des Gutmenschen.

Ja, das Pegida-Volk auf Dresdens Straßen ist mit seinen 20.000 Volksgenossen ein sehr kleines Volk. Und so ein winziges Volk ist natürlich und immer vom Aussterben bedroht, es muss immer in der Angst leben, irgendwann inmitten einer Mehrheit als Volk nicht mehr wahrgenommen zu werden. Seine Sprache, seine Sitten und Gebräuche wären dann nur noch ein Thema für das Heimatmuseum, historische Schautafeln und folkloristische Tanzdarbietungen. Nun stellt sich die Frage: Ist das schlimm? Nein, ist es nicht! Auf die bislang bekannt gewordenen Sitten und Gebräuche kann man getrost verzichten. Und ja, das Pegida-Volk auf Dresdens Straßen ist mit seinen 20.000 Volksgenossen ein viel zu großes Volk, als das es jemals über einen Minderheitsstatus hinauskommen dürfte.

Rechte Schlägertrupps werden von diesem Volk geduldet, eine direkte Geistesverwandtschaft gerne bestritten – ein Vergleich mit der SA sei erlaubt, die einst die Schmutzarbeit für die NSDAP erledigte – und die Werfer von Brandsätzen, deren Motive den Parolen der Pegida-Anführer entsprechen, werden als Einzeltäter verharmlost, damit die Seele der „normalen“ Bürger rein bleiben kann. Dabei ist diese längst besudelt und kaum noch reinzuwaschen.

Vielmehr können und sollten wir uns bereits jetzt Gedanken darüber machen, was nach dem Hype um Pegida und die vorgebliche Angst vor einer Überfremdung geschehen muss.

Wie kriegen wir all die Menschen bloß wieder entnazifiziert?

Können und sollen wir sie überhaupt wieder in die Mitte der Gesellschaft integrieren, ohne ein zu großes Risiko eines Rückfalls einzugehen? Mir scheint das eine größere Herausforderung als die Integration einer Million Flüchtlinge zu sein.

Eine Investition in Bildung ist nie verkehrt. Sie können die jungen Pegidaer gut gebrauchen. Diese Bildung sollte immer auch eine im Sinne der Demokratie, des aufgeklärten Freiheitsgedankens politische sein. Den Älteren sei der Kontakt mit bislang fremden Kulturen empfohlen und natürlich die Lektüre anderer Veröffentlichungen als jene, die nur über die Faulheit der Griechen und anderer Nationalitäten berichten, um die Angst um unser Geld zu schüren. Doch leider, und daran wird es scheitern, ist das recht anstrengend.

So, genug der Ironie.

Naja, nicht ganz, denn da finde ich doch auf dem Online-Auftritt der Zeit – weit außerhalb des Surfverhaltens der besorgt-verängstigten Mittebürger – den Beitrag eines Toralf Stauds unter dem Titel „Björn Höcke ist kein Nazi“. Björn Höcke, das sei zur Erklärung eingeschoben, ist der Vorsitzende der AfD in Thüringen, der bundesweit aufgrund eines rhetorisch erfolgreichen, inhaltlich allerdings arg verschrobenen Fernsehauftritts bei Günther Jauch Aufsehen erregte.

Im streng wissenschaftlichen Sinn mag Staud richtig liegen, wenn er darauf hinweist, dass sich die Neue Rechte – damit eben auch Thüringens AfD-Vorsitzender Björn Höcke – auf die sogenannte Konservative Revolution bezieht, die anhand ihres ideologischen Vokabulars samt Drittem und Tausendjährigem Reich und ihrem auch sonst völkischen Weltbild „nur“ Vorlagen für die spätere NSDAP bot.

Leider bleibt die Belehrung, dass Höcke eben kein Nazi und auch kein Neonazi sei, eine historisch begründete Randnotiz, die in unseren Zeiten allgemeiner Vereinfachungen und Oberflächlichkeiten niemandem dient, in sich sogar die Gefahr der Verharmlosung birgt. Staud schreibt

„Vieles, was der Thüringer AfD-Fraktionschef Björn Höcke sagt, klingt absonderlich. Doch wer ihn in die Nazi-Ecke stellt, hat ihn nicht verstanden – sondern hilft ihm nur. (Toralf Staud – Zeit)“

Eine schlüssige Begründung, wie er darauf kommt, dass ihm das Abstellen in die Nazi-Ecke helfen könnte, bleibt er uns schuldig.

Es nützt nichts, ein Messerattentat, die Brandanschläge und gewalttätigen Übergriffe auf Flüchtlingsheime als Taten einiger Durchgeknallter zu reduzieren, wenn sich diese immer wieder auf die von Patriotismus durchsetzten Rhetorik der elitären Minderheit einer Neuen Rechten berufen können – und von dieser nicht zurückgewiesen werden. Wenn die Aufrufe zur Gewalt nur Missverständnisse sind, wenn die intellektuellen Vorbeter des Nationalismus eine andere Wirkung, eine friedfertige Diskussion erzielen wollen, sollten sie ihren Intellekt gefälligst derart einsetzen, dass ihre Gebete von den eher einfach gestrickten Gemütern nicht mehr ganz so leicht missverstanden werden.

Hier darf allerdings der Zweifel an den Motiven der Pegida-, AdD- und sonstwie neuen rechten Anführerinnen und Anführern überwiegen. Wer glaubt tatsächlich, dass Lutz Bachmann die Folgen nicht absehen konnte, als er Akif Pirinçci zum Hauptredner seiner Demonstration in Dresden machte? Niemand, der sich einigermaßen über die Aussagen Pirinçcis aus den letzten Jahren informierte, konnte damit rechnen, dass dieser inzwischen wirklich durchgeknallte Autor einen Auszug aus seinen Katzenkrimis vortragen würde. Vielmehr könnte man vermuten, der Auftritt sei ein Versuch Bachmanns gewesen, wie weit man von den 20.000 „besorgten Bürgern aus der Mitte unserer Bevölkerung“ gehen kann. Das Ergebnis lautet: 1. Die Polizei schritt nicht ein und der nächste Pegida-Aufmarsch dürfte nicht verboten werden. 2. Es gab einige „Aufhören!“-Rufe, aber 3. auch Beifall. Kleinvieh macht auch Mist und der düngt bekanntlich gut. Um das zu bewirken, kann man 4. einen Pirinçci gerne mal opfern.

Geistige Brandstifter legen nur die Lunte, angezündet wird diese von willfährigen Gehilfen, deren Namen niemand kennen muss. So agiert der moderne Faschismus wie ein Drogenkartell: Verhaftet werden höchstens die kleinen Dealer, die mit dem Handel nur ihr kleines Überleben sichern wollen. An die Mächtigen hinter ihnen kommt man nicht heran. Die verschanzen sich als Saubermänner hinter ihren Fassaden ehrbarer Geschäfte und tragen für die Gewalt keinerlei Verantwortung.

Wie also soll man die Vertreter der Neuen Rechten oder der Patrioten eines abendländischen Europas, das irgendwie doch nur Deutschland bedeutet, bezeichnen, damit auch der nur verhältnismäßig wenig politisch Aufgeklärte versteht, welche Gefahr von ihnen ausgeht, wenn nicht als Nazi? Ja, einer wie Höcke hat mit dem Sozialismusanteil nichts am Hut. Dazu ist er zu konservativ. Aber so weit war es mit dem Sozialismusgedanken bei den Nationalsozialisten auch nie. Begriffe und Inhalte driften oft auseinander, bekommen neue Bedeutungen. Soll man ihn bescheiden als Patrioten bezeichnen? Das hätte er sicher gern. Das klingt so umsorgend, so wehrhaft heimelig. Gut, seit den Zeiten des Fußball-Sommermärchens kommt uns bei der Verwendung dieses aus gutem Grund lange verpönten Ausdrucks schnell der offene, ach so gastfreundliche „Partyotismus“ in den Sinn. So erfolgreich gelang die Reinwaschung eines Begriffs, der weiterhin mehr Unheil als Frieden stiftet.

„Der Patriotismus der Deutschen […] besteht darin, dass sein Herz enger wird, dass es sich zusammenzieht wie Leder in der Kälte, dass er das Fremdländische hasst, dass er nicht mehr Weltbürger, nicht mehr Europäer, sonder nur ein enger Teutscher sein will.“

Dieser Satz stammt von Heinrich Heine. Bereits mit dem Wissen von vor 150 Jahren ist demnach zu erkennen, welche geistige Enge im Jahre 2015 20.000 Menschen in Dresden versammeln lässt. Das uralte Zitat entlarvt die Neue Rechte als ein nur äußerlich aufpoliertes Auslaufmodell, das schnellstens auf den Schrottplatz der Geschichte gehört, damit es nicht schon wieder Unheil anrichtet. Hinterher will es bekanntlich wieder niemand so gewollt haben, hinterher hat wieder niemand etwas davon mitbekommen. Und dann hätte man der Pegida nicht einmal die Autobahnen zu verdanken.




Der Berg liest

Ein Ausflug nach Wuppertal

Wenn Düsseldorfer einen Ausflug nach Wuppertal planen, haben sie zwei Dinge im Sinn. Erstens möchten sie mit der Schwebebahn fahren und zweitens den Zoo besuchen. Oder umgekehrt. Ein Wuppertaler wird ganz sicher noch zahlreiche andere Attraktionen seiner Heimatstadt aufzählen können, doch auch ohne Aufzählung kommt nun eine dritte Sache hinzu, die Düsseldorfer nicht verpassen möchten, an der sie sogar aktiv teilnehmen werden:

Der-Berg-liest-2015_Plakat_webAm 27. September 2015 findet in der Nordstadt Elberfeld die dritte Ausgabe des Lesefestivals „Der Berg liest“ statt und wenn der Erfolg nur annähernd so groß wie bei die zweite Ausgabe 2013 mit 211 Lesungen an über 80 verschiedenen Orten wird, wird sich die Reise ins Bergische auch in diesem Jahr lohnen.

Wir, Maria (alias Marie van Bilk) und Dirk Jürgensen sind diese Düsseldorfer, die den Leseberg mit einer ganzen Reihe eigener Texte besteigen möchten und haben sich dafür den Hinterhof der Marienstraße 89 ausgesucht. Bei schlechtem Wetter, so wird gemunkelt, kann in den Hausflur gewechselt werden. Von 16 bis 17 Uhr werden die grandiosen Ralph Beyer und Michael Schumacher diesen Ort bespielen, bis dann ab 17 Uhr die eben erwähnten Jürgensens eine Auswahl ihrer eigenen Texte den hoffentlich zahlreichen Ohrenpaaren präsentieren werden.

Zusammengefasst:

Der Berg liest, die Jürgensens auch.

Am 27. September 2015.

Von 16 bis 19 Uhr im Hinterhof der Marienstraße 89 in 42105 Wuppertal-Elberfeld.

Der Eintritt ist kostenlos und der Zugang frei, bis der Hof voll ist.

Weitere Informationen zum Lesefestival, das ganze Programm und Karte mit allen Schauplätzen gibt es hier.




Das Eiland als Anregungswert für neue Utopien

Wir brauchen Utopien – Teil 8

 von Dirk Jürgensen ...

Den Namen Aldous Huxley verbinden wir fast automatisch mit seiner 1932 erschienenen Dystopie „Schöne neue Welt“, die in Deutschland zuerst unter dem Titel „Welt – wohin?“ erschien, der in seiner Fragestellung die Gefahr des damals bereits existierenden Stalinismus und des immer stärker werdenden Faschismus kurzgefasst implizierte. Neben George Orwells Roman „1984“ aus dem Jahr 1949 mit einen vermeintlich sozialistischen Staat, der sich als diktatorischer, als totalitärer Eiland - Aldous Huxley - PiperPräventions- und Überwachungsstaat zeigt, ist Huxleys „Schöne neue Welt“ noch immer und besonders wieder in unseren Tagen die vermutlich maßgeblichste literarische Sicht auf eine leider gar nicht so unwahrscheinliche Zukunft.

Nahezu vergessen wurde, dass Huxley 1962 – kurz vor seinem Tod – mit der Utopie „Eiland“ ein positives Gegenstück, einen optimistisch stimmenden Gegenentwurf einer solidarischen, gewaltfreien und freiheitlichen Gesellschaft einer tropischen Insel namens Pala erfand.

Während er die „Schöne neue Welt“ in einer recht fernen Zukunft des Jahres 632

A.F. In Anspielung auf A.D. , Anno Domini = im Jahre des Herrn, also „nach Christus“ bedeutet A.F. „Anno Fordii“ bzw. „After Ford“ = nach (Henry) Ford. Als Bezugspunkt dient das Jahr 1908, als das erste T-Modell vom Band lief.
ansiedelte, ist Pala der in allen Belangen exotische Teil einer ansonsten unzulänglichen Gegenwart. In all seiner Bescheidenheit, seiner Friedfertigkeit und positiven Abgrenzung zu den ansonsten allmächtigen Marktmächten einer globalisierten Ökonomie, wird Pala – hier kann Huxley die gewissermaßen dystopische Realität nicht außen vor lassen – aufgrund der vorhandenen Ölvorkommen von der benachbarten Militärdiktatur und mit ihr von interessierten Konzernen bedroht und am Ende auch ohne Gegenwehr besiegt.

Günter Blöcker schrieb 1973 in seiner Rezension für die F.A.Z.:

Thematisch und erzähltechnisch ist damit ein konkreter Bezugspunkt geschaffen, der den Inseltraum davor bewahrt, allzu romantisch-irreale Züge anzunehmen. Diese Gefahr besteht. Die farbenprächtige exotische Kulisse trägt ebenso dazu bei wie die für abendländische Gemüter eher realitätsferne Heilsmixtur aus diversen fernöstlichen Lebenslehren. Pala ist die Summe all der Rezepte für ein sinnvolles, erfülltes Erdenwallen, die Huxley seinen Lesern seit der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre unermüdlich anbietet. Die Stichworte sind bekannt, Kontemplation, Selbsttranszendenz, Yoga des täglichen Lebens, das große Gewahrsein, das helle Licht der Leere,

die Loslösung vom kleinen, eigensüchtigen Ich. Dazu ein wenig Kibbuz-Ideologie und die den Himmel auf die Erde herabgaukelnde Droge, die hier Moksha-Medizin heißt, die „Pille der Wahrheit und Schönheit“, die „Wirklichkeits-Enthüllerin“. Alles dies wird in großer Ausführlichkeit vor den Augen eines zunächst skeptischen, dann mehr und mehr überzeugten Reporters aus dem Westen demonstriert und dargelegt – weder Essay noch Roman, sondern ein utopischer Bilderbogen, der Kolportage-Elemente sowenig verschmäht wie die Mittel der lehrhaften Gleichniserzählung oder den dialogisierten Leitartikel.

Weiter schreibt er:

Wenn Ernst Bloch im Hinblick auf „Brave new World“ meinte, der „Individual-Agitator“ Huxley sei „nur noch zu Hoffnungsmord und Anti-Utopie fähig“, so hat Huxley mit seinem letzten Buch den Gegenbeweis angetreten.

und an anderer Stelle:

Man tut gut daran, sich nicht durch seine offenkundigen Schwächen irritieren zu lassen, sondern sich an seinen Anregungswert zu halten, an den utopischen Geist mehr als an den Buchstaben der Utopie.

Gerade dieser „Anregungswert“ ist es, der in unseren Tagen Utopien wo wichtig und wünschenswert macht. Die Menschen spüren, dass die globalen kapitalistischen Mechanismen, die beinahe uneingeschränkte Herrschaft der Märkte, die einer Minderheit Reichtum und der globalen Mehrheit Armut bringt, nicht der Weisheit letzter Schluss sein kann. Wie beispielsweise die Griechen anlässlich ihres Referendums zur „alternativlosen“ Sparpolitik beispielsweise mit ihrem Oxi ihre Hoffnung auf die Utopie eines anderen Europas äußerten, sollten sich die Denker, die Literaten und Wissenschaftler aller Disziplinen aufgerufen fühlen, endlich wieder Bilder einer besseren Zukunft zu schaffen, die der globalen Gesellschaft mehr als eines neues und besseres(?) Smartphones bietet. Ohne den „Anregungswert“ einer Utopie wird die Zukunft zu sehr den Technokraten und ökonomischen Egoisten überlassen.

Einen besonders intensiven Einblick in Huxleys Utopie „Eiland“ bietet mit einigen Hörspieleinlagen ein dreißigminütiger Beitrag des ORF aus dem Jahr 1977, der in der österreichischen Mediathek abzurufen ist.

Eiland“ von Aldous Huxley ist derzeit als Taschenbuchausgabe aus dem Piper-Verlag bei jedem lokalen Buchhändler kurzfristig verfügbar.




Ein solcher Bau steht normalerweise 200 Jahre

Ein Rückblick auf den erfolglosen Kampf um den Düsseldorfer Tausendfüßler

 von Dirk Jürgensen ...

Die Debatte um den Abriss der von den Düsseldorfern liebevoll „Tausendfüßler“ genannten Hochstraße ist ein bedenkliches Kapitel der jüngeren Stadtgeschichte. Die Art und Weise, wie die Bürger vor vollendete Tatsachen gestellt und wie standhaft ihre Einwände und vielfach konstruktiven Gegenvorschläge ignoriert wurden, ist ein Musterbeispiel dafür, wie man die allgemein beklagte Politkverdrossenheit manifestiert. Parallelen zu „Stuttgart 21“ und Bilder von der Arroganz der Macht sind unverkennbar.

Der Düsseldorfer Tausendfüßler – Die Auseinandersetzung um den Erhalt der Hochstraße und um die Kö-Bogen-Planung

Der Düsseldorfer Tausendfüßler

Der Tausendfüßler war ein Baudenkmal, ein Teil eines Ensembles mit dem Dreischeibenhochhaus, dem Schauspielhaus und dem angrenzenden Hofgarten, das die an klassischen Altertümern arme Stadt in ihrem Kern als moderne und aufstrebende Stadt prägte und bekannt machte. Dieses Ensemble ist nicht mehr vollständig und aus den Wirren der noch auf Jahre dominierenden Großbaustelle treten nach und nach riesige Tunnelrampen ins Blickfeld, die stark daran zweifeln lassen, dass die Befürworter des Abrisses Recht behalten werden.

Est stimmt zeitweise traurig, mit seinem Protest und den anderen Vorstellungen von einer Aufwertung der Düsseldorfer Stadtmitte richtig gelegen zu haben. Ein Triumph sieht jedenfalls anders aus. Und um nicht all das selbst Erlebte aus der Amtszeit der Oberbürgermeister Joachim Erwin und Dirk Elbers (beide CDU) aufführen zu müssen, möchte ich all jenen Menschen ein Buch ans Herz legen, die wissen möchten, wie eine bürgerferne und bezüglich der Folgekosten unvernünftige städtische Baupolitik aussieht und wie sie leider von Erfolg [sic!] gekrönt sein kann.

Der Düsseldorfer Tausendfüßler – Die Auseinandersetzung um den Erhalt der Hochstraße und um die Kö-Bogen-Planung

Die Herausgeber Manfred Droste und Hagen Fischer haben in akribischer Kleinarbeit eine umfangreiche Dokumentation zusammengestellt, die all die Informationen von der Zeit der Planung und dem Bau des Tausendfüßlers, zu seiner Ästhetik, seiner bis in die letzten Tagen tadellosen Funktionalität über den fragwürdig abgelaufenen Verkauf des ihm anliegenden Jan-Wellem-Platzes und der sehr stückweisen Neuplanung seines innerstädtischen Umfelds bis zu seinem endgültigen Abriss aufführt.

Aus der Sitzung des Düsseldorfer Stadtrats am 5. Mai 1960, als der Bau der Hochstraße beschlossen wurde, eine kurze Passage zitieren, in der vom damaligen obersten Stadtplaner Friedrich Tamms die heute oft geäußerte Behauptung eindeutig widerlegt wird, der Tausendfüßler sei nur ein Provisorium gewesen:

Ratsherr Schulhoff (CDU): „Ich habe nur eine Frage, Herr Professor Tamms, die Sie nicht beantwortet haben. Sie wurden gefragt, wie lange die Hochstraße stehen wird. Darauf haben Sie gesagt: Die Hochstraße steht solange sie steht. Das ist nicht exakt. Sie müssen doch über die Lebensdauer etwas sagen können.“ (Starke Unruhe – Zwischengespräche)
Beigeordneter Professor Tamms: „Ein solcher Bau steht normalerweise 200 Jahre.“

Im Folgenden hält uns das Buch die ausführliche gutachterliche Stellungnahme zum Denkmalwert des Bauwerks von Axel Föhl (LVR-Amt für Denkmalpflege im Rheinland) aus dem Jahr 1991 bereit. Sie ist außerordentlich aufschlussreich und beinahe spannend zu lesen. Man möchte fast bedauern, dass sie in der Zeit der Abrissdiskussionen nicht als Mehrteiler in den Düsseldorfer Tageszeitungen erschien. Sie ist selbst für einen Laien beinahe spannend zu lesen und zeigt sehr detailliert, wie intensiv und ohne zu sparen an der grazilen Form des Tausendfüßlers geplant und wie sorgfältig die Bauausführung erfolgte. Nur ein Zitat daraus:

Für die Erhaltung der Hochstraße Jan-Wellem-Platz liegen künstlerische, wissenschaftliche und städtebauliche Gründe vor. Die Gestaltungsqualtät des Brückenbauwerks hebt sich mit der Leichtigkeit ihrer Formgebung (ihrer „Entmaterialisierung“, um den Begriff Tamms aufzugreifen) wie der Eleganz im Grundriss, Aufriss und Querschnitt, mit ihren „kontinuierlich geführten Kurven höherer Grade“, ihrer einfach und doppelt sinusförmig geschwungenen Untersicht und ihrer geringen Bauhöhe von dem Gros der gleichzeitig, aber auch später ausgeführten innerstädtischen Hochstraßen positiv ab.

Es ist wirklich eine Schande, dass man diese Sicht der Dinge niemandem mehr am Objekt vorführen kann.
Lore Lorentz sagte einmal:

Düsseldorf hat eine Stärke: Kein Dom überragt die Gegenwart.
Ihre Schwäche: Sie weiß nicht, daß es ihre Stärke ist.

Dieses schwierige und einen voreiligen Abriss fördernde Verhältnis Düsseldorfs zu seiner eben nur aus Bausünden bestehenden Moderne könnte man nicht besser beschreiben. Baudenkmäler benötigen Zeit, um allgemeine Wertschätzung erfahren zu können. Uns Düsseldorfern fehlt es wohl an der nötigen Geduld.
So wird die hier beschriebene Dokumentation die Fehler der Vergangenheit nicht mehr korrigieren können, aber vielleicht kann sie helfen, in Düsseldorf und anderswo demnächst weniger solcher Fehler zu begehen und vor einem Abriss zu überlegen, was eine attraktive, eine lebenswerte und individuelle Stadt zwischen den vielerorts zu beklagenden Normbauten ausmacht.


 

Der Düsseldorfer Tausendfüßler – Die Auseinandersetzung um den Erhalt der Hochstraße und um die Kö-Bogen-Planung
Manfred Droste und Hagen Fischer (Herausgeber)
erschienen beim Droste-Verlag in Düsseldorfer
ISBN 978-3-7700-6000-9
19,80 € (D)


Mehr zum Thema:

Der große Pan ist tot

Abschied vom Tausendfüßler

Zwei Netzfundstücke zum Thema:

Die Rettung des Tausendfüßlers ist noch möglich! – Scissorella

Tausendfüßler. 1962 – 2013. Düsseldorf verabschiedet sich von der Moderne. – Scissorella




Der Tourist bei den Kürzestfilmfestspielen

Magnus Jürgensen und Johannes Menzel erzählen in nur zwölf Sekunden eine ganze Geschichte

 | von Dirk Jürgensen ...

Aus dem Kurzfilm „Tourist aus der Zukunft“ wurde ein 12-Sekunden-Kürzestfilm für die vom österreichischen „Landjäger-Magazin“ veranstalteten Festspiele. Nicht nur aus familiären Gründen wünsche ich mir bis zum 3. Juni 2015 ein vielfaches Liken und Teilen des minimalen Spielfilms, der uns innerhalb von nur zwölf Sekunden eine ganze rätselhafte Geschichte erzählt:

Link zum Wettbewerbsbeitrag

Bildlink zum Wettbewerbsbeitrag

PS: Der Name des veranstaltenden Magazins täuscht. Ein Blick hinein widerlegt glücklicherweise die übliche Befürchtung.




Brian Fies und auch wir träumten von der Zukunft

Wir brauchen Utopien – Teil 7

 von Dirk Jürgensen ...

Und wir träumten von der Zukunft – Eine Geschichte von Hoffnung und Wandel von Brian Fies

„Und wir träumten von der Zukunft“ von Brian Fies

Kennen sie das? Man besucht einen antiquarischen

Hier handelte es sich um die mehrmals im Jahr stattfindende Büchermeile auf der Düsseldorfer Rheinpromenade.
, schaut in das Vorwort eines Buches – oder liest dessen erste paar Zeilen – und meint, mit dem Autor auf einer Wellenlänge zu sein, vielleicht den gleichen Geburtsjahrgang sein Eigen zu nennen? So ist es mir mit der bei Knesebeck erschienenen Graphic Novel „Und wir träumten von der Zukunft“ des amerikanischen Sachbuch- und Comic-Autors Brian Fies ergangen.

Nach nur wenigen Sätzen war mir klar, dass mein wiederholtes Klagen über das Fehlen neuer Utopien einen Unterstützer gefunden hat.

1970 war ich zwölf Jahre alt. Die technische Entwicklung zwischen Industrie, Privatleben und Raumfahrt machte riesige Schritte. Im Jahr 2000 würden saubere [sic!] Atom-Autos lautlos über die Straßen gleiten, der Mond wäre ein erschwingliches touristische Ziel geworden und aufgrund der technisch bedingten Rationalisierung in Industrie und Verwaltung nach der enorm gestiegenen Produktivität die wöchentliche Arbeitszeit für den Einzelnen rapide gesunken. Im Alter von vielleicht 45 Jahren würde ein spannendes Rentnerleben beginnen, das die Computer beziehungsweise Roboter mit ihrem Fleiß locker finanzierten. Wer hätte schon erwarten können, dass die technische Entwicklung nur wenige Gewinner hervor brächte und gesellschaftlich eher kontraproduktiv verliefe? Ich bin mir sicher, dass 1970 die Prophezeiung, man würde im Jahr 2015 im Schnitt noch immer acht Stunden am Tag arbeiten und das Renteneintrittsalter auf 67 verschieben, mit verständnislosem Kopfschütteln oder einem lauten Lacher kommentiert worden.

Brian Fies schreibt in seinem eben erwähnten Vorwort:

Als die Zeitschrift Popular Science zur Jahrtausendwende nach den versprochenen Flugautos fragte, war das ein Witz, aber einer, der den Finger in die Wunde eines nicht gehaltenen Versprechens legte. Irgendwo war und unterwegs etwas verloren gegangen. Als die düsteren, unbeabsichtigten Folgen der Welt von morgen sichtbar wurden, erschien die Grundidee der hoffnungsfrohen Zukunft, auf die hinzuarbeiten sich lohnte, plötzlich altmodisch und naiv. Einstige Helden wurden zu Bösewichtern, Optimismus war etwas für Trottel; die cleveren, coolen, zynischen Zeitgenossen setzten ihre Karten nun auf das dystopische Schicksal. Ich bin anderer Meinung.

Nach dieser eindeutigen Standortbestimmung im Sinne seines optimistisch-utopischen Denkens beginnt die Geschichte von Buddy und seinem Vater mit einem Besuch der Weltausstellung 1939 in New York, findet Zwischenstationen 1945 mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, den Facetten des Atomzeitalters 1955, der bemannten Raumfahrt um 1965 und wird mit dem Apollo-Sojus-Projekt 1975 enden.

Fies lässt seine Protagonisten in all den Dekaden nicht realzeitkonform, sondern stark verlangsamt altern. Der 1939 von der Präsentation der endlosen technischen Möglichkeiten beeindruckte Junge, wird erst zum Ende der Geschichte erwachsen sein. Er wird bis dahin von einem Comic-Helden namens Cap Crater und dessen Gehilfen Cosmic Kid – Buddys Alter Ego – im Kampf gegen den immer wieder zeitgemäßen Bösewicht Xandra begleitet. Fies gestaltet dies bezüglich des jeweiligen Zeitgeistes stilistisch – in der vorliegenden gebundenen Ausgabe sogar haptisch – authentisch wirkenden Comic-Einschüben.

Mit dem Erwachsenwerden Buddys, seiner Entfremdung vom Glauben seines Vaters an den American Way of Life und der Ernüchterung bezüglich der nicht eingetroffenen Utopien, endet auch die Comic-Serie um Cap Crater, der seinen Ruhestand auf dem stillen Mond verbringen will. Am Ende sieht man Buddy mit seiner kleinen Tochter, die die alten Geschichten mit einem kleinen 3D-Beamer zu neuem Leben erweckt und die Resignation mit einem etwas zu amerikanisch-pathetischen Blick in eine wunderbare interstellare Zukunft des Menschen fortgewischt wird. Dies ist in kleiner Schwachpunkt dieser ansonsten hochinteressanten Graphic Novel, denn Fies bleibt uns die Erklärung schuldig, woher er seinen Optimismus nimmt. Allein das Lesen und Erzählen utopischer Geschichten kann ihn nicht begründen. Oder doch?


Und wir träumten von der Zukunft – Eine Geschichte von Hoffnung und Wandel

ISBN: 978-3-868-73150-7

von Brian Fies – erschienen im Knesebeck-Verlag, bei dem das Buch inzwischen vergriffen ist.

Fragen Sie Ihren örtlichen Antiquar!


Der in Kalifornien lebende Brian Fies wurde durch sein zunächst als Web-Comic erschienenes Buch „Mutter hat Krebs“ weltbekannt. Er beschäftigte sich in dieser Graphic Novel mit der Geschichte der Krebserkrankung seiner Mutter. Fies hat dafür 2005 den Eisner Award for Best Digital Comic, 2007 den Harvey Award und 2008 den Deutschen Jugendliteraturpreis erhalten.




Geschichten zwischen Schwarz und Weiß

Ein Bilderbuch

 von Dirk Jürgensen ...

Geschichten zwischen Schwarz und Weiß von Dirk Jürgensen – Foto: ©Dirk Jürgensen, Düsseldorf - Link zu knipsenundtexten.de

Geschichten zwischen Schwarz und Weiß von Dirk Jürgensen – Foto: ©Dirk Jürgensen, Düsseldorf

Mit „Geschichten zwischen Schwarz und Weiß“ habe ich nun einen künstlerischen Bildband mit Ein-, Aus- und Durchblicken, mit Spiegelbildern und rätselhaften fotografischen Fundstücken herausgebracht.
Bewusst wurde im Untertitel der Begriff des Bilderbuchs gewählt, denn das Bilderbuch ist das Medium, mit dem wir schon als Kind Geschichten entdeckten, als uns die Dechiffrierung der Schriftsprache noch längst nicht möglich war. Die Bilder, wenn auch an vollkommen anderen Orten aufgenommen und mit ganz unterschiedlichen Inhalten, dürften banale, erwartete oder überraschende Beziehungen zueinander aufbauen. Jedes Foto erzählt für sich genommen eine eigene Geschichte, kann der Endpunkt, der Zwischenstand oder der Beginn einer noch nie erzählten Geschichte darstellen.
Die verwendete Schwarzweißfotografie ist durchaus kein Anachronismus, sie ist und bleibt gerade in unserer bunten Reklamewelt ein wichtiges künstlerisches Stilmittel. Das Wettrennen um die Darstellung möglichst vieler Farben und Pixel ist ein Wettbewerb, an dem sich die menschliche Phantasie selten beteiligen mag. Am Ziel fände es irgendwie endgültige, scheinbare oder tatsächliche Realitätsvorgaben, wo es sich doch lieber durch Abstraktion oder eben Reduktion herausfordern ließe.
So möchte dieses in Graustufen verfasste Bilderbuch der Phantasie reichlich Spielraum zur Interpretation, zur Schaffung unendlich vieler Farben und Worte für noch geheime Geschichten bieten.

Geschichten zwischen Schwarz und Weiß von Dirk Jürgensen, Düsseldorf (ISBN: 978-3-734-76433-2) hat 48 Seiten im Format 21×21 cm und kann in Deutschland für 7,90 € überall dort erworben werden, wo es Bücher gibt. Der hier verwendete Link auf das Versandhaus Amazon ist nur eine Möglichkeit zur Bestellung. Vorzuziehen ist natürlich die Unterstützung des lokalen Buchhandels.

Weitere Informationen zu den Büchern dieser in loser Folge erscheinenen Reihe gibt es bei knipsenundtexten.de.




Libertalia – Von Piraten lernen

Wir brauchen Utopien – Teil 6

von Dirk Jürgensen ...

Vermischen wir das Bild gesetzloser Halunken mit etwas Seefahrerromantik und wildem Abenteuer, stellen wir der brutalen Truppe einen herzlosen, von Grund auf bösen oder einen unfreiwillig in Ungnade des Königs geratenen Kapitän voran, ist unsere tradierte Vorstellung von Piraten zwischen Captain Blood, Captain Flint, dem Roten Korsar und Jack Sparrow vollständig. Wir übersehen dabei, dass das Piratentum durchaus auch eine bis in die heutige Zeit wirkende politisch-philosophische Komponente besitzt, die in der sich entwickelnden Globalisierung des 17. und 18. Jahrhunderts zu begründen ist und uns heute alternative Ideen zum aktuellen Demokratieverständnis im so dominanten Kapitalismus aufzeigen kann. Ein im Januar 2015 erschienenes Buch bietet uns eine wichtige Ergänzung zu unserem bisherigen Piratenbild:

Libertalia - Die utopische Piratenrepublik - bei Matthes & Seitz

Libertalia – Die utopische Piratenrepublik – Link zu Amazon

Es handelt von der Geschichte des auf Madagaskar gegründeten Seeräuberstaates „Libertalia“, es beschreibt die Legende von einer wohl tatsächlich gelebten Utopie, die früh Vorbild für Basisdemokratie, einen freiheitlichen – also libertären – Kommunismus werden sollte und einige Parallelen mit den spanischen Anarchisten der Dreißigerjahre des letzten Jahrhunderts aufweist. Sie dürfte lange vor der französischen Revolution und der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung eine enorme Brisanz besessen haben, da in einem Gemisch aus Tatsachenberichten, journalistischem Material, Fiktion und politischer Idee sogar Vorgriffe auf die Aufklärung gewagt wurden und der Text die Bewunderung der vorgetragenen Ideen mit einigen eher alibihaft  daherkommenden Bemerkungen zu überspielen versucht.

1728 erschien unter dem Namen Charles Johnson der bis heute meist Daniel Defoe zugeschriebene zweite Band der „Allgemeinen Geschichte der Piraten“, der ein Bericht über die Piratenrepublik und ihre Gründer enthalten ist. Dass die Urheberschaft weiterhin umstritten ist, dazu ein niederländischer Buchdrucker und eine anonyme Autorschaft ins Spiel gekommen ist, soll hier nur am Rande erwähnt werden. Viel interessanter ist, dass der Text fast dreihundert Jahre warten musste, um endlich unter der Herausgabe von Helge Meves von David Meienreis erstmalig in die deutsche Sprache übersetzt zu erscheinen. Dass man sich beim Berliner Verlag Matthes & Seitz für Daniel Defoe als auf dem Cover zu vermerkenden Verfasser entschieden hat, sei der Einfachheit oder auch der besseren Vermarktung geschuldet. Dass man den schmucken Band um eine von Arne Braun übersetzte „Beschreibung der Regierung, Gewohnheiten und Lebensart der Seeräuber auf Madagaskar“ von Jacob de Bucqouy und um eine Vielzahl ergänzender Beiträge vervollständigte, macht ihn umso wertvoller.

„Libertalia“ erzählt vom aus wohlhabenen Hause stammenden Misson, der eher zufällig an die Führung eines Schiffs gerät und seinem Freund, dem von der geld- und karrieresüchtigen Kirche enttäuschten ehemaligen Priester Caraccioli, der ihm die theoretischen Grundlagen für seinen revolutionären Führungsstil schafft und die Mannschaft in aufklärerischem Geist religionskritisch und antimonarchistisch belehrt.

Caracciolis Rat folgend lässt sich Misson von der Mannschaft zum Kapitän wählen und ebenso demokratisch über den weiteren Kurs abstimmen. Bei der Diskussion um die zu hissende Flagge schlägt der Bootsmann eine schwarze vor, doch Caraccioli entgegnet:

Sie seien keine Piraten, sondern Männer, entschlossen, die Freiheit zu behaupten, die Gott und die Natur ihnen geschenkt hätten; sie würden sich keinen anderen Regeln unterwerfen als denen, die für das Wohlergehen aller nötig seien.

Weiterhin führt er aus, dass Gehorsam gegenüber Vorgesetzten notwendig sei,

wenn diese die Pflichten ihres Amtes kennten und danach handelten; wenn diese beflissene Wächter der Rechte und Freiheiten der Menschen seien; wenn sie dafür sorgten, dass Gerechtigkeit walte; wenn sie sich gegen die Reichen und Mächtigen stemmten, sobald diese versuchten, die Schwächeren zu unterdrücken.

Nach weiteren Ausführungen kommt er zum Schluss, dass ihre Sache

mutig, gerecht, unschuldig und ehrenhaft und die Sache der Freiheit sei und plädiert für eine weiße Flagge mit der Göttin der Freiheit, Libertas, darauf […]

Das auf dem Schiff vorhandene Geld wird in einer Schatztruhe verwahrt und von Misson zum Gemeineigentum erklärt. Er mahnt, dass

wenn die Gleichheit untergehe, folgten Elend, Verwirrung und gegenseitiges Misstrauen wie die Ebbe der Flut.

Auch ruft er auf,

Gefangenen eine humane zu großzügige Behandlung zuteilwerden zu lassen,

obwohl ihnen selbst vermutlich nicht so ergehen würde.

Auf nun folgenden Kreuzfahrten wird reichlich Beute gemacht und zahlreiche Sklaven können befreit werden, die sich in einem recht modernen Sinne meist in die eigene Schiffsbesatzung integrieren lassen, denn sie werden eingekleidet und auf die Messen der Mannschaft aufgeteilt, um unter anderem schneller die Sprache zu erlernen und sie zu überzeugten Verteidigern der Freiheit zu machen. Hier zeigt sich der wirklich zeitgemäße humanistischer Aspekt der Geschichte, der uns in Zeiten einer bis zum Hass zunehmenden Angst vor einer gesellschaftlichen Überfremdung zu denken geben müsste, schließlich ist die lebensnotwendige Interaktion auf einem Schiff der damaligen Zeit ein gutes Laborumfeld zur Erprobung des Funktionierens einer Gesellschaft.

Nach einigen weiteren Abenteuern wird irgendwo auf Madagaskar die freie Kolonie Libertalia – die Bewohner bezeichnen sich als Liberti – gegründet und der recht bekannte Piratenkapitän Thomas Tew schließt sich an. Tew erhält den Auftrag zur Eroberung von Sklavenschiffen, um durch deren Befreiung die Kolonie auszubauen, was überaus erfolgreich gelingt. Erbeutetes Geld wird

dem kollektiven Schatz zugeführt,

da in einer Gesellschaft ohne Eigentumsschranken

Geld keinen Nutzen

hat.

Nachdem es in der Kolonie zu Streitigkeiten zwischen Missons und Tews Mannschaften gekommen ist, fordert Caraccioli die friedliche Beilegung und regt für zukünftige Fälle der Allgemeinheit dienende Gesetze und eine Regierung an. So wird eine demokratische Staatsform beschlossen, in der ein für drei Jahre gewählter Conservator als höchste Gewalt eingesetzt wird. Danach wird innerhalb von zehn Tagen die Verteilung eines gerechten Anteils von Privateigentum, wie auch ein allgemeines Gesetzbuch beschlossen, gedruckt und verteilt.

Leider endet kurz nach der Konstitution Libertalias aufgrund einiger dramatischer Schicksalsschläge und eines Angriffs auf die Kolonie – keinesfalls aufgrund interner gesellschaftlicher Probleme – die Utopie der ersten libertären Republik. Doch hält uns das hier besprochene Buch noch einige sehr aufschlussreiche Piratensatzungen bereit, die durchaus nachweisen können, dass die auf Gerechtigkeit basierenden Ideen der Liberti höchstwahrscheinlich unbewusst in ähnlicher Form auch von ganz anderen Piraten geteilt wurden. Neben allgemeinen Verhaltensregeln werden in diesen Satzungen die Verteilungsschlüssel für den Umgang mit erbeuteten Gütern und sogar die soziale Absicherung bei Verwundung festgelegt.

Nicht nur einmal erwähnt darf die „nähere Beschreibung der Regierung, Gewohnheiten und Lebensart der Seeräuberdes Niederländers Jacob de Bucquoy bleiben, der aufgrund seiner Gefangenschaft in der Hand von Piraten interessante Hinweise auf die erstaunlich unabhängige und vernunftorientierte piratische Gerichtsbarkeit und eine Art Muster-Piratensatzung vorlegt. Danach – vermutlich angesichts der multikulturellen Zusammensetzung der Mannschaften – ist es unter Androhung von Strafe beispielsweise untersagt, über die Religion zu streiten. Ein Ansatz, der uns heute sehr gut gefallen sollte.

„Libertalia – Die utopische Piratenrepublik“ ist ein überraschend aktuelles Werk, das zwar sehr spät, aber irgendwie genau zur richtigen Zeit in deutscher Sprache erschienen ist. An Tagen, an denen Pegida und deren Derivate jenseits von Dresden einen bedenklichen Konservativismus mit dem Vehikel einer hervorgelockten latenten Fremdenangst propagieren und wirkliche Ideen eines gesellschaftlichen Fortschritts in Form von größerer Gerechtigkeit als „Gutmenschentum“ abtun. Wer hätte je gedacht, dass man Piraten in dieser seltsamen Wortverdrehung als „Gutmenschen“ bezeichnen könnte?

Die Idee eines libertären Kommunismus, der nichts mit dem bekannten totalitären Kommunismus gemein hat, die Hinweise darauf, dass multikulturelle Gesellschaften doch funktionieren, sogar von ihrer Vielfalt profitieren, das Integration auch bedeutet, den zu Integrierenden an den eigenen Tisch einzuladen, dass unsere auf Zins aufgebaute Geldwirtschaft und die ungerechte Verteilung von Reichtum auf Kosten einer armen Mehrheit mehr als einer Reform bedürfen, findet in dieser früh gelebten Utopie von Libertalia Unterstützung und ist ein wichtiger Kontrapunkt in einer aktuell so abgelenkten Diskussion. Ja, wir können von 300 Jahre alten Piraten lernen, wie wichtig Utopien sind.

Ganz nebenbei, dieser wichtige recht unpolitische Punkt sei nicht vergessen, sollte der mit schöner Goldprägung ausgestatte „Libertalia“-Band samt seines reichen Schatzes an ergänzender Information in keinem Bücherregal mit einer abenteuerlich ausgerichteten Sammlung von Piratengeschichten fehlen.


Daniel Defoe: Libertalia – Die utopische Piratenrepublik

Im Verlag Matthes & Seitz, Berlin

Herausgegeben von Helge Meves, übersetzt von David Meienreis und Arne Braun

ISBN 978-3957570000 – 22,90 € (D) – Fragen Sie Ihren lokalen Buchhändler!


Surfziele zum Thema:

Ein Interview von Tobias Lehmkuhl mit Helge Meves beim SWR2 am 5.1.2015

Wikipedia zum „Goldenen Zeitalter der Piraterie“

Informationen zu Thomas Tew