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Sie möchten also Deutscher werden – Anlässlich der Wahl Volker Bouffiers zum Ministerpräsidenten Hessens

von Dirk Jürgensen ...

Nicht Max Mustermann, sondern Volker Bouffier wurde heute zum Ministerpräsidenten Hessens gewählt. Das ist für Letzteren also nochmal gut gegangen. Manche außerhalb Hessens mögen sich noch an ihn erinnern, denn er war einst Innenminister dieses Landes und machte mit der Einführung eines Einbürgerungstests Schlagzeilen, der mich 2006 zu einer kleinen Satire verleitete, an die ich mich und Sie anlässlich der heutigen Wahl gerne erinnere:

Sie möchten also Deutscher werden

So als Staatsbürger, da wär‘ die Rente gesichert.

Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich

Artikel 3 des Grundgesetzes: Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich

Ort der Handlung ist ein Bürgerbüro in Bottrop im Jahre 2007.

Volker Bouffier, Hessischer Minister des Inneren und für Sport, freut sich, dass sich das Bundesland Nordrhein-Westfalen endlich zur Übernahme des von ihm initiierten Wissens- und Wertetests für Einbürgerungswillige entschlossen hat. Er möchte den Bürgern des Landes und seinen Beamten die Durchführbarkeit des Verfahrens nahebringen und hat sich dazu bereiterklärt, für einen Tag die Befragung der Neubürger in spe zu übernehmen. Aus Zeitgründen wird er sich auf eine Auswahl der einhundert Fragen beschränken. Er wird einige Passagen aus dem offiziellen 100 Fragen zitieren.

Die Tür der Amtsstube öffnet sich und ein älterer Herr, offensichtlich Rentner, tritt ein.

Bouffier: (schaut auf seinen Zettel mit den Namen der Angemeldeten) Guten Tag, Herr Koslowski. Nehmen Sie doch bitte Platz.

Koslowski: Tach auch, Herr Boffler.

Bouffier: Buh-fjeeh

Kowalski: Sach ich doch.
Bouffier: So, Sie möchten also Deutscher werden. (räuspert sich) Ausdrücklich versichere ich Ihnen, dass ich mich über Ihre Entscheidung freue. (B. nimmt eine förmliche Haltung an und streckt Koslowski kurz die Hand entgegen.)

Koslowski: Nee, ich wollt aigentlich …

Bouffier: Ehm, wie auch immer. (Zieht die Hand wieder zurück.) Die Bundesrepublik Deutschland und das Land Hessen – ääh Nordrhein-Westfalen – heißen jeden herzlich willkommen, der sich zu ihren Prinzipien und Werten bekennt. Um das sicherzustellen machen wir ihnen den Leitfaden …

Koslowski: Meinen Perso …

Bouffier: Später, Herr Koslowski. Sie haben sicher den vorliegenden „Leitfaden Wissen und Werte in Deutschland und Europa“ gelesen. Als Bewerber für die deutsche Staatsbürgerschaft leben Sie …

Koslowski: Ich leb schon immer in Bottrop. Main Oppa, der is sainerzait aus Kattowitz …

Bouffier: … ääh, bereits in Deutschland, und Sie …

Koslowski: … mit nix als sein Mottek. Konnte nichma Deutsch. Nur sein Mottek – un ab innen Pütt.

Bouffier: Ja, sicher eine schwere Zeit. Ääh, wo war ich? Ach so. Sie leben schon im schönen Bottrop und stellen sich vielleicht die Frage: Warum jetzt ein Test?

Koslowski: Ich denk da raicht son Aufkleber und dann isser wieder …

Bouffier: Fassen wir uns kurz. Wir wollen kein Nebeneinander, sondern ein Miteinander; dies soll geprägt sein von Staatsbürgern, die zwar unterschiedlicher Herkunft sein mögen, aber gemeinsam für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einstehen und sie notfalls auch verteidigen. Wir erwarten deshalb, dass Sie sich mit den politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Grundlagen und Überzeugungen unseres Staates intensiv auseinandersetzen, sie erlernen, und sie eindeutig bejahen. Ich stelle Ihnen einige Fragen …

Koslowski: Wenn´ze mainz. Nur, mach hinne, ker. Ich muss noch nach Aldi.

Bouffier: Gut, fangen wir an. Nennen Sie drei deutsche Mittelgebirge!

Koslowski: Jau! Watt nehm wa da? Datt Sauerland, datt Siebengebirge und die Halde Haniel hier in Bottrop, 126 Meta hoch.

Bouffier: Naja, aller Anfang ist schwer. Die nächste Frage: Nennen Sie drei Gründe, warum Sie deutscher Staatsbürger werden wollen!

Koslowski: Also Staatsbürger. So richtig mit allet?

Bouffier: Ähm, ja natürlich. Sowieso.

Koslowski: So als Staatsbürger, da wär` die Rente gesichert. Nix mehr mit Maloche. Eintrach ins Goldene Buch un so. Alles vom Staat gestellt und keine Steuern abdrücken. Datt wärs.

Bouffier: Eigenartige Sichtweise. Ich schreibe es mal auf. Kommen wir zum historischen Wissen. Welche Versammlung tagte im Jahr 1848 in der Frankfurter Paulskirche?

Koslowski: War datt die Gründung vom DFB? Die tagen doch immer in Frankfurt.

Bouffier: Schon, aber nein. Eher weniger. Gehen wir weiter weiter. Erläutern Sie den Begriff „Holocaust“!

Koslowski: Näh. Mit so modernes Zeugs kenn ich mich nich aus. Mit Computer un so müssen Se mein Sohn fragen.

Bouffier: (vollkommen entsetzt) Es geht um die Vernichtungsmaschinerie der Nazis!

Koslowski: Warum sagen Se datt denn nich? Ne, da will ich nix mit zu tun haben. Die Koslowskis waren immer sauber. Die Omma hat sogar nen Juden in ihr Kohlenkeller versteckt. Die Nazis, das wa’n Verbrecher. Aber (zögert ganz kurz) für Arbeit haben die gesorcht. Für Autobahnen. Da musste keiner auffer Straße rumlungern.

Bouffier: Genug! Genug davon. Können Sie mir denn sagen, was am 8. Mai 1945 geschah?

Koslowski: Da kam mein Vatta auße Gefangenschaft nach Hause. So ungefähr jedenfalls. Kann auch zwei/drei Jahre später gewesen sein. Ich war ja ers vier.

Bouffier: Gut, das ist ja auch schon lange her. (lächelt unsicher) Kommen wir zu den Grundrechten, denn die Bürgerinnen und Bürger sollen diese Verfassung, die sie tragenden Grundsätze und damit auch diesen Staat innerlich bejahen und sich ihnen verpflichtet fühlen. Also, von wem geht in der Bundesrepublik Deutschland alle Staatsgewalt aus? Welche Vorteile ergeben sich daraus für die Bürgerinnen und Bürger?

Koslowski: Vonner Polizei. Vorteile? Hörn se mal. Die sind doch nie da, wenn man se braucht. Neulich, da …

Bouffier: Ich glaube, die Frage war etwas anders gemeint. Versuchen wir es einmal mit dem Thema der Gleichheit: Einer Frau soll es nicht erlaubt sein, sich ohne Begleitung eines nahen männlichen Verwandten allein in der Öffentlichkeit aufzuhalten oder auf Reisen gehen zu dürfen: Wie ist Ihre Meinung dazu?

Koslowski: Sehnse? Das wollt ich Ihnen doch eben verklickern. Sonne Frau kann sich doch gar nich mehr allein auffe Straße wagen. Bei die ganzen Paselacken überall. Nix zu sehn vonne Polizei. Die Frau Dombrowski von nebenan, die ruft immer einen Ziwi wennse mal abends vor die Tür will. Un wenn der nich kann, fracht se mich. Nen männlichen Verwandten hat die ja nie gehabt. Nen Vatter vielleicht. Aber der is im Kriech gebliem …

Bouffier: (wird ungehalten) Halt, halt! Sie scheinen gar nicht zu reflektieren, um was es hier geht. Sie gefährden Ihre Einbürgerung. (versucht die Fassung zurück zu gewinnen) Wenigstens mit der Religions- und Meinungsfreiheit werden Sie mir doch etwas sagen können. – In Filmen, Theaterstücken und Büchern werden manchmal die religiösen Gefühle von Menschen der unterschiedlichen Glaubensrichtungen verletzt. Welche Mittel darf der Einzelne Ihrer Meinung nach anwenden, um sich gegen so etwas zu wehren, und welche nicht?

Koslowski: Dat is sonne Sache mitte Rellijon. Da hab ich mit den Ewald mal richtig Zores gekricht. Der is ja für Dortmund un ich für Schalke. Schon immer. Der Ewald is ja der Kassenwart von mein Taubenzüchterverein. Richtigen Erbsenzähler. Alles klärchen bis dahin. Muss man trennen. Aber wennz um Fußball geht, geht die Freundschaft koppheister. Da is Halligalli. Ers wenna eine auf die Zwölf kricht is Ruhe im Stall.

Bouffier: (will eigentlich aufgeben, hat aber noch ein paar Wissensgebiete abzufragen) Für die Abgeordneten in den Parlamenten gilt der „Grundsatz des freien Mandats“. Was heißt das?

Koslowski: Da muss ich ma raten. Hm. Die könn über ihre Penunsen frei bestimmen?

Bouffier: (versucht es mit Humor zu nehmen) Fast. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Rechtsstaat. Was bedeutet Rechtsstaat?

Koslowski: Datt die Regierung meistens vonner CDU is. Woll?

Bouffier: (erhöht die Schlagzahl) Wie heißt die politische Vereinigung der europäischen Staaten?

Koslowski: EWG, datt kenn ich. Hat den Kulenkampff immer Reklame für jemacht.

Bouffier: Nennen Sie drei deutsche Philosophen!

Koslowski: Kann ich mal telefoniern? Ich ruf den Ewald mal an. Der is nämlich nich nur im Taubenzüchterverein, er kennt sich auch damit aus. Der hat sammelt die Dinger schon seit er so´n Stöppken is. (zeigt einen ungefähr drei Zentimeter messenden Abstand zwischen Daumen und Zeigefinger)

Bouffier: Sammelt? Philosopische Literatur?

Koslowski: Ja, Bücher hatter auch. So Kataloge, wo drinsteht watt die wert sind, wenner se mal verticken sollte. Und Albümer.

Bouffier: Alben?

Koslowski: Sach ich doch. Sonst fliegen die Maaken doch nur inne Laube rum.

Bouffier: Briefmarken. Ach so. (hat die Frage vergessen und sucht mit dem Finger auf dem Papier krampfhaft die nächste – ein Lächeln streift sein Gesicht) Jetzt habe ich aber eine Frage, die sie bestimmt beantworten können.

Koslowski: Wieso, stimmt was nich?

Bouffier: Schon gut. Hier ist sie. In den deutschen Kinos startete 2004 der Film „Das Wunder von Bern“. Auf welches sportliche Ereignis nimmt der Film Bezug?

Koslowski: Jau, der Boss. Helmut Rahn. Der hat ja nich auf Schalke gespielt. Bei Rot-Weiß-Essen. Meister 1955. Aber datt Wunder von Bern war 1954 … Jau, da warn wir wieder wer. Also Deutschland. Als Macht. Hat ja auch lange gefehlt, so was … Gilt ja heute wieder, obwohl se ´58 direkt wieder abgekackt haben. Will sich aber keiner dran erinnern.

Bouffier: Das war ja wenigstens mal ein Treffer. (atmet durch) Dann möchte ich mit der folgenden Frage abschließen: Wie heißt die deutsche Nationalhymne und mit welchen Worten beginnt sie?

Koslowski: Äh, das Deutschlandlied?

Bouffier: Das Lied der Deutschen – aber gut … und mit welchen Worten beginnt sie?

Koslowski: (beginnt zu singen) Deutschland, Deutschland üüüüüber ahaless …

Bouffier: Nein, nein, nein – doch nicht die erste Strophe!

Koslowski: (überlegt kurz und beginnt mit kräftiger Stimme erneut zu singen) Deutsche Frauen, deutsche Treuheue, deuheutscher Wein …

Bouffier: Schluss! Ende! Nein! So werden Sie nie eingebürgert. Das ist ja unerträglich. Gerade mal die Frage nach der Fußball-Weltmeisterschaft von 1954 konnten Sie einigermaßen beantworten. (Will sich beruhigen.) Zur Einbürgerung sollten eigentlich mindestens 50 Prozent richtig sein. Wie kommen Sie nur dazu, Deutscher werden zu wollen?

Koslowski: Aber ich bin doch schon lange … und wollte doch nur meinen Perso verlängern. Ker, watt is datt bloß frickelich geworden. Mannomann. Schaiß Bürrokratie!

Bouffier: (lässt Koslowski einfach sitzen und verlässt angesichts dieser für ihn unerträglichen Parallelgesellschaft fluchtartig das ihm fremde Bundesland Nordrhein Westfalen)

Koslowski: (schüttelt auf dem Nachhauseweg ständig den Kopf und denkt) Buff-jeh – watt fürn komischen Namen. Aus welche Wallachei is der bloß wech?

Noch im Laufe des gleichen Jahres 2007 sollen die einhundert Fragen des Hessischen Kataloges um fünf weitere Fragen erweitert werden, die speziell an Übersiedlungswillige aus Nordrhein Westfalen gerichtet werden sollen.

© Dirk Jürgensen – Veröffentlichungen des Textes und der Bilder, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.




Stiefmütterchen mag kein Abfall sein

 von Dirk Jürgensen ...

Stiefmütterchen will kein Abfall sein

Im Herbst warf wohl ein Blumenbauer in Düsseldorf-Volmerswerth die nicht mehr zu verkaufenden Stiefmütterchen auf einen Haufen ans Rheinufer. Der Winter würde ihnen wohl den Rest geben, sie zu Kompost werden, mit dem Hochwasser gen Holland treiben lassen. Denkste. Es kämpft gegen die Regeln des Marktes an und blüht! Auf dass der nächste Spaziergänger eine Plastiktüte dabei hat! Ich hatt nur eine Kamera.




Boomtown Düsseldorf

von Dirk Jürgensen ...

Boomtown Düsseldorf

Boomtown Düsseldorf – © Dirk Jürgensen

Als ich dieses Ensemble heute in Düsseldorf-Unterbilk fotografierte, erinnerte ich mich an den großartigen Film „Mon Oncle“ von Jaques Tati. In einer Boomtown wie Düsseldorf wird es immer Opfer aufgrund von Verdrängung geben. Ob Identität verloren geht und dabei neue geschaffen wird, kann erst in der Zukunft bewertet werden.




Schleimünde im Winter

von Dirk Jürgensen ...

Schleimünde

Schleimünde im Winter – © Dirk Jürgensen




Pofalla beendet seine Moralinerzeugung

von Dirk Jürgensen ...

Gelebter Lobbyismus in einem nur beispielhaften Skandal

Bahn-AG

Wenn Pofalla dafür sorgt, dass die Zugausfälle und Verspätungen bei der Bahn beendet werden, wenn er dann auch noch die regelmäßigen Preiserhöhungen und das Streichen von Verbindungen als beendet erklärt, könnte ihm sogar der Dank seiner ehemaligen Wähler winken.

Für das Geld, das die Bahn AG ihrem neuen Chef-Lobbyisten zahlen will, könnte sie einen ganzen Haufen von Lokführern und Schaffnern einstellen, um einen großen Teil der Verspätungen und Zugausfälle zu verhindern. Diese verärgern immer mehr die notgedrungen treuen Bahnkunden und bieten neben den zu hohen Preisen anderen Reisenden und Berufspendlern stets ein Argument, weiterhin das Auto zu nutzen. Aber wer denkt denn, dass ein solcher Dienst an den Kunden zum Unternehmensziel der Bahn gehört? Viel wichtiger ist es diesem Unternehmen hingegen, irgendwelche von der Politik gewährten Vergünstigungen zu erhalten, die letzthin doch wieder nur der Gewinnsteigerung, der Fahrplanausdünnung und Einsparung von Arbeitskräften dienen.

Ich bin zwar der Meinung und somit zwangsläufig auch dafür, dass ein Unternehmen, das der Versorgung der Bevölkerung mit günstigen und umweltfreundlichen Verbindungen in einem dichten Netz, immer ein Zuschussgeschäft bleiben wird, aber diese im wahrsten Sinne der Worte öffentliche Dienstleistung darf man nicht über Gefälligkeitsposten teurer als nötig gestalten.

Wir – und da kann ich wohl für die Mehrheit der Leserschaft schreiben – haben über Ronald Pofalla, vielmehr über seine seltsame Artikulationsweise und sein Auftreten allerspätestens seit seiner Beendigung der NSA-Abhöraffäre eher gelächelt oder sogar lauthals gelacht, als dass wir ihn für einen fähigen Manager gehalten hätten. Auch sein emotionaler Verbal-Ausfall gegen den Kollegen Bosbach wirkte überraschend und irgendwie nicht typgerecht. Man kennt die Leute eben nur aus dem Fernsehen und seine Wähler im niederrheinischen Kleve, wie wohl auch die Kanzlerin hatten da ein anderes Bild von ihm. So kann über seine Fähigkeiten, die er als Leiter des Bundeskanzleramts beweisen durfte, ohne Befragung seiner Mitarbeiter nur spekuliert werden. Auch wird immer offen bleiben, wie Herr Pofalla aus einem Bewerbungsgespräch heraus ginge, wenn er denn aufgrund von Arbeitslosigkeit nach einer engagierten Politikerkarriere überhaupt zu einem solchen eingeladen würde. Denn Politiker würden sich, wenn sie denn nur ihrem Gewissen folgten und stets ihren kritischen Geist bewiesen, nicht immer und überall – und schon gar nicht in den Spitzen der Wirtschaft – Freunde machen. Eine Absicherung nach Ende ihres Mandats also wichtig und eine Stütze der Demokratie und ist somit grundsätzlich nicht fragwürdig. Diese Absicherung verliert jedoch ihren Sinn und Zweck, wenn nach dem Ende eines Mandats – noch besser nach einer ausreichenden Karenzzeit – ein ein lukrativer Job den Lebensunterhalt sichert.

Der „Fall Pofalla“ ist nach zahlreichen vorangegangenen Fällen, von denen sich weder die CDU, noch SPD, Grüne und schon gar nicht die FDP freisprechen kann, ein erneuter Beweis, dass unsere Demokratie weitaus fragiler oder gar beschädigter als angenommen ist. Wie weit wir schon in einer eigentlichen Lobbykratie angekommen sind, sollte schnell, intensiv und rücksichtslos erforscht werden. Fälle von Gesetzesvorlagen und Gesetzen, die von Lobbyverbänden abgesegnet oder gar verfasst wurden, Vergünstigungen für viel zu viele Unternehmen im Zuge der notwendigen Energiewende, kommen immer wieder vor und es scheint nur wenig Motivation vorhanden zu sein, diese in Zukunft wirklich zu verhindern. Solche fliegenden Wechsel von politischen Insidern und Entscheidungsträgern in die Wirtschaft oder Verbände, wie sie auf Zeit-Online beschrieben bezeichnet werden, entwickeln sich mehr und mehr zu einem echten Problem. Da davon auszugehen ist, dass es nicht immer um die fachliche Kompetenz der wechselnden Politikerinnen und Politiker geht, ist das Prinzip der Volkssouveränität im Sinne des Art. 20 Abs. 2 Grundgesetz (GG) bedroht, was etwas banaler ausgedrückt heißt:

Als Wähler will ich mich von „meinem“ Abgeordneten vertreten wissen, weil ich ihn aufgrund seiner Überzeugung, zumindest aufgrund seiner Äußerungen in der Öffentlichkeit für einen entsprechend würdigen Vertreter halte. Und wenn sein Abstimmungsverhalten einmal nicht meiner Überzeugung entspricht, sollte er dieses wenigstens mit seinem Gewissen begründen können. Wenn ich es für erforderlich halte und er mich nicht zu einer anderen Einsicht bringt, kann ihn bei der nächsten Wahl für sein Handeln bestrafen. Juristische Personen, das sind nun einmal Lobbyverbände und Kapitalgesellschaften, haben in einer parlamentarischen Demokratie kein Stimmrecht. Sie können und dürfen über ihre Öffentlichkeitsarbeit Einfluss auf die allgemeine Meinungsbildung ausüben, wie es Parteien, die Presse, Kirchen und andere Institutionen auch tun. Mehr nicht! Die Wähler können dann entscheiden, ob sie diesen Einfluss beim Malen ihres Kreuzchens wirken lassen.

Ronald Pofalla wollte, nachdem er kein dem Kanzleramtschef im Status überragendes Ministeramt erhalten hatte, mehr Freizeit. Offenbar nur kurz und es musste schnell gehen. Denn hielt er es noch nicht einmal für nötig, seinen CDU-Kreisverband zu unterrichten, dass er dieser Freizeit nach wenigen Wochen schon überdrüssig geworden war und die Bahn-AG ihm ein Angebot unterbreitet hatte, dass er nicht ausschlagen konnte. Dort in Kleve muss man nun das Gefühl haben, vom eigenen Spitzenkandidaten hintergangen worden zu sein, wenngleich Pofalla den derzeitigen Informationen folgend sein Parlamentsmandat trotz des sicher ungemein anstrengenden Postens bei der Bahn behalten möchte. Der Job eines Bundestagsabgeordneten ist einer, der, wenn er denn ernst genommen wird, in täglichen acht Stunden nicht zu erledigen. Der eines Bahnmanagers bei einem Gehalt von mindestens 100.000 Euro sollte es auch nicht sein, sonst würde sich die Ausgabe für das Unternehmen nicht lohnen. Die einfache Frage lautet: Welche Aufgabe wird Pofalla demnächst vernachlässigen? Für weitere Mutmaßungen sind die handelnden Personen selbst verantwortlich. Eine davon könnte sein, dass die Leistungen im Sinne der Bahn-AG schon längst erbracht wurden. Die andere könnte sein, dass die Einträge in Pofallas persönlichem Telefonbuch allein schon die ganze Kohle wert sind.

Ob eine der Mutmaßungen der Realität entsprechen oder wenigstens nahe kommen, kann ich nicht einschätzen, das einst selbst produzierte Moralin wird Pofalla auf jeden Fall nicht gebremst haben.

In der Hamburger Morgenpost war am 12.12.2005 noch die folgende Aussage zu lesen: „Gerhard Schröder richtet mit seinem Einstieg in das Unternehmen erheblichen Schaden an. Noch vor Monaten hat er sich als Kanzler für das Pipeline-Projekt stark gemacht – jetzt kassiert er von denen, die von seinem Einsatz profitiert haben. Es ist ein erstaunlicher Vorgang, dass ein deutscher Bundeskanzler schon Wochen nach seinem Ausscheiden die Reputation seines früheren Amtes für eine kommerzielle Tätigkeit nutzt. Das Vertrauen darauf, dass ein früherer Kanzler weiß, was sich gehört und er auch im Nachhinein seinem Amt schuldet, hat Gerhard Schröder gründlich zerstört. Schröder geht es nicht um Gas – es geht ihm um Kohle!“ […] Bislang ist nach den Worten Pofallas die Politik davon ausgegangen, dass «wir keine Regeln für solche Fälle brauchen – einfach weil ein solches Vorgehen jenseits aller Vorstellungskraft lag. Im Fall Schröder haben wir uns offensichtlich getäuscht. Jetzt kommen wir an einer rechtlichen Regelung wohl nicht vorbei: Es ist offensichtlich eine Illusion zu glauben, dass der Appell an politischen Anstand alleine ausreicht, um solche Fälle zu verhindern», sagte Pofalla weiter. «Ich könnte mir eine Art Selbstverpflichtung von Regierungsmitgliedern vorstellen, für die Zeit nach Ausscheiden aus dem Amt sich geschäftliche Rücksicht aufzuerlegen. Auch Karenzzeiten halte ich für vorstellbar.“

Fazit: Wenn der Profit lockt, ist die eigene Nase unerreichbar weit entfernt und die Moralinerzeugung gestoppt.

Dabei hatte Pofalla schon lange vorher eigene Erfahrungen im persönlich gelebten Lobbyismus gemacht. Das ist auf Wikipedia zu finden:

Schon während seiner Studienzeit wurde Pofalla vom Unternehmer Bernhard Josef Schönmackers gefördert, der im Kreis Kleve Entsorgungs- und Umweltfirmen betrieb. Schönmackers wurde – nach eigenen Angaben – vom damaligen Gemeindedirektor Wienen „um eine Förderung bzw. Unterstützung des Studiums des Herrn Pofalla gebeten“. Pofalla wurde danach über mehrere Jahre mit 1200 bis 1300 DM monatlich unterstützt. „Sinn und Zweck unserer Zusammenarbeit war es grundsätzlich, Herrn Pofalla für sein Jurastudium eine gewisse finanzielle Basis zu geben“, allerdings auch „politische Kontakte“ zu knüpfen, sowie die Bearbeitung von Fragen des Miet- und Arbeitsrechts. Die weitere Zusammenarbeit mit Ronald Pofalla hat nach Angaben Schönmackers dann aber auch in „der politischen Unterstützung des Aufbaus und der Erweiterung unseres Betriebes“ bestanden.

Spätestens dieser Wikipedia-Eintrag dürfte Ronald Pofalla für Bahnchef Grube gezeigt haben, dass da im Kanzleramt ein Talent schlummert, das der Wirtschaft nicht vorenthalten werden darf. Grube wird schnell eingesehen haben, dass das zu bietende Monatsgehalt – nennen wir es Schmerzensgeld – etwas höher als die damalige sein muss. Schließlich sollte das Geld die temporäre Häme der sozialen Netze abfedern, die damals zur Zeit des von Pofallas Studium noch nicht existierten.

Da Ronald Pofalla mit seinem jenseits der Welt eingefleischten Lobbyismus‘ als anrüchig angesehener Wechsel gegen kein Gesetz verstößt, das er im Fall Schröder einst forderte, wird er auch diese Affäre bald für beendet erklären. Wenn er zudem wider Erwarten dafür sorgt, dass die Zugausfälle und Verspätungen bei der Bahn beendet werden, wenn er dann auch noch die regelmäßigen Preiserhöhungen und das Streichen von Verbindungen als beendet erklärt, könnte ihm sogar der Dank seiner ehemaligen Wähler winken. Aber passt ein solch romantischer Gedanke heutzutage in die in die reale Welt eines ehemaligen Kanzleramtschefs? Wohl kaum. Lieber wird er das Thema der Politikverdrossenheit ganz einfach unbeendet lassen.




Spendenaufruf – Jetzt nur noch 1 Million Euro!

von Dirk Jürgensen ...

Reichtum

Nein, einem Auto mit diesem Wesen auf der Motorhaube gilt mein Streben und auch mein Spendenaufruf nicht.

Vorab sei gesagt, dass der gleich folgende Text nunmehr fast genau zehn Jahre alt ist. Inzwischen bin ich um genau dieses Stück älter, aber leider keinen Deut wohlhabender geworden, denn auf meinen damals veröffentlichten Aufruf hat sich aus mir unerfindlichen Gründen kein Spender gemeldet. Somit würde ich, sollte ich den Text anlässlich der zum Jahreswechsel üblichen Aufrufe neu verfassen und mit aktellen Beispielen würzen, die Zielsumme um ein sattes Drittel auf 1 Million Euro reduzieren und könnte die angesprochene Entlastung des Arbeitsmarktes meinerseits dennoch realisieren. Tja, wenn das kein Angebot ist, …

Von der Verhältnismäßigkeit der Geldmittel

Mit etwas Glück befinde ich mich als Nichtraucher ungefähr in meiner Lebensmitte. Ein Abschnitt hat begonnen, in dem der Gedanke an das Später und den Ruhestand mehr Gewicht als früher erhält. Dieser Gedanke, der Blick in die Geldbörse und die anschließenden Berechnungen lehrten mich: mir fehlen 1,5 Millionen Euro, um endlich einem Jüngeren Platz zu machen und die Beschäftigung meiner letzten Jahre nach dem Lustfaktor auszurichten. Weiterlesen




Wieder ein Rückblick auf das Jahr 2013

von Dirk Jürgensen ...

Wir hatten die Wahl und wählten nicht

Wann war diese Bundestagswahl nochmal? Ist jedenfalls schon etwas länger her. Egal.

Aufruf zur persönlichen Revolte

So mache ich es mir im Neuen Jahr 2014 zur Aufgabe, etwas subversiver, einen Deut anarchistischer zu sein.

Das mit der neuen Regierung dauerte dann auch noch etwas. Und da sie nun dank des erwarteten Votums der SPD-Mitglieder endlich im Amt ist, wird sich im Land ohnehin nicht viel ändern. Mit einer Großen Koalition ändert sich nie viel. Weil ihr Hauptanliegen der Kompromiss ist. Eindeutige Richtungen jenseits des Mittelmaßes, gar grundlegende Überzeugungen oder Idealismus sind dem abträglich. Da hilft es auch nicht, dass Ursula von der Leyen jetzt von der Familie zur Verteidigung Deutschlands an den Hindukusch wechselte. Übrig bleibt hinterher eh die ewige Kanzlerschaft Angela Merkels und die Tatsache, dass die Wähler dem im TV-Duell der Kandidaten geäußerten Wunschbild ihres Vordenkers Stefan Raab entsprachen, und in ihrer entschiedenen Unentschiedenheit eine Große Koalition erzwangen. Nur der vermeintliche „King of Kotelett“ Peer Steinbrück mochte dem Entertainer nicht folgen und zeigte eine für einen Politiker seltene Konsequenz. Weiterlesen




Jetzt endlich einmal ausruhen

von Dirk Jürgensen ...

Weihnachten - Foto: © Dirk Jürgensen

Irgendwo stand zu lesen, dass der Einzelhandel mit dem diesjährigen Weihnachtsgeschäft nur mäßig zufrieden sei. Liegt das vielleicht nur daran, dass die Eingänge der Geschäfte zu eng waren? – Foto: © Dirk Jürgensen




Fußballstadien ohne Identität

von Dirk Jürgensen ...

Namen sind mehr als Schall, Rauch und Marketing

Heimspiel

Ein Heimspiel im Rheinstadion – oder doch in der XYZ-Arena?

Deutschlands Fußballfans sind verunsichert. Auswärtsfahrten werden zu abenteuerlichen Orientierungsspielen. War es einst allein die Ähnlichkeit von Städtenamen, die Busfahrer eine ganze Ladung singender Anhänger im westfälischen Ahlen aussteigen ließ, obgleich das Spiel im baden-württembergischen Aalen stattfand, so kann sich heute niemand mehr die Namen der Stadien merken. Muss er auch nicht, denn bis dahin hat sich der Name schon wieder geändert. Weiterlesen




Fortunas Legenden müssen erzählt werden

von Dirk Jürgensen ...

Der Tag, an dem ich Teil einer vergessenen Fortuna-Legende werden durfte

Werner Biskup

Der ohnmächtige Werner Biskup kurz vor der Legende. – Foto: Mittag vom 19.12.1966

Es war ein kalter, ein nasskalter Tag. Nicht ungewöhnlich für einen 17. Dezember. Meine Mutter stattete mich mit Schal und Mütze aus. Rot und Weiß waren nicht die Farben, obwohl es doch zum ersten Mal in meinem Leben zur Fortuna ging. Endlich hatte ich meinen Vater soweit. Endlich, denn Fußball spielte in unserem Haushalt eigentlich keine große Rolle, aber nachdem die deutsche Nationalmannschaft im Sommer dieses Jahres 1966 gerade die Weltmeisterschaft aufgrund des berühmten Wembley-Tores knapp verpasst hatte, konnte ich „eigentlich“ mit einem für mich positiven „aber“ versehen. Ein Argument war dabei sicherlich, dass es heute gegen den HSV ging, gegen den HSV der Brüder Bernd und Charly Dörfel, des Hans Schulz und natürlich des Uwe Seelers. Denn mein Migrationshintergrund ist nördlich eingefärbt. Meine Eltern kamen einst auf der Suche nach Arbeit aus der Gegend um Flensburg ins Rheinland. Somit hatten es die Vereine des Nordens bei uns immer leichter als die des Südens. Das hat sich bei mir bis heute gehalten, wenngleich meine erste Liebe dem Verein meiner Geburtsstadt Düsseldorf gilt. Somit war mein Auftrag des 17.12.1966 gewissermaßen ein pädagogischer. Weiterlesen




Die Ehrbarkeit des Verrats

von Dirk Jürgensen ...

Gedanken zur Überwachung der Überwachenden

Es ist ein altes Spiel. Soldaten müssen damit rechnen, in Gefangenschaft zu geraten oder gar getötet zu werden. Spione riskieren ihre Enttarnung, wechseln ab und zu die Seiten oder treiben Doppelspionage. Geheimnisse werden nur von ihren Trägern gehegt, sind ungern welche und warten auf ihren Verrat.

Jeder SoldatÜberwachung und jeder Spion hat immer im Guten zu handeln. Das Gute ist seine wie auch immer erlangte individuelle Überzeugung oder schlicht sein Auftrag, womöglich die Freiheit, die Demokratie oder auch eine autoritäre Gesellschaftsform, der freie Handelsverkehr, die Souveränität eines Landes oder einer Volksgruppe, eine – seine! – Religion und der pauschal-indifferente Kampf gegen das Böse. Im Zweifelsfall hat das Gute immer das zu sein, was als Befehl beim Soldaten oder Agenten ankommt.

Das staatlich angeordnete Ausspionieren, der Mord oder gar Massenmord, der Verrat oder einfach das vorschriftsmäßige Handeln und viel zu selten der passive Widerstand sind Mittel, die einem Zweck dienen sollen – der Schaffung, Wahrung oder Wiederherstellung des Guten. Dabei braucht dieses verdammt relative Gute das Böse, sonst wären seine Hüter arbeitslos.

Ein Geheimdienst ist eine Institution, die dem Bösen auf der Spur und bemüht ist, diesem immer einen Schritt voraus zu sein. Ein Schritt vor dem Bösen? Das Gute im Komparativ oder gar Superlativ des Bösen? Was der Schritt auch immer bedeutet, bedingt er das Ausspähen des Gegners, das Sammeln von Informationen, auch jenen, deren Wert vielleicht heute noch gar nicht eingeschätzt werden kann. Die Aufmunterung zum Verrat gehört ebenfalls dazu, denn ehrbar ist der Verrat auf der Seite des Gegners, wie auch das taktische Schließen eines Paktes mit im Grunde widerwärtigen Parteien als legitim bewertet wird. Misstrauen heißt die Maxime, Abschottung ist dabei lebenswichtig. Ein Geheimdienst ist per definitionem einsam und gesellschaftlich losgelöst, tendiert zum Geheimbund. Er führt anfangs notgedrungen, im Zuge der Gewohnheit irgendwann mit Genuss, sogar ein Eigenleben, weil er nicht einmal seinen Auftraggebern trauen kann. Denn nicht einmal der ist vor Verrat gefeit.

Setzen wir voraus, dass auch eine Demokratie nicht ohne einen oder mehrere Geheimdienste auskommt. Setzen wir voraus, dass es die immer wieder herbeizitierte Sicherheitsbedrohung in der jeweils vorgetragenen Form wirklich gibt. Dann muss die Kontrolle der Arbeit dieser Dienste immer in der Hand der demokratisch legitimierten Regierung und gleichzeitig dem ins Parlament gewählten Teil der Opposition liegen. Auswüchse bis hin zu einer geheimen Parallelgesellschaft sind zu unterbinden, was, wie eben bedacht, dem Misstrauischen in seiner Einsamkeit nicht gefallen kann.

Funktionierende Kontrollinstanzen – welch idealistischer Traum – weisen neben der Überwachung der Überwachenden immer auf ein Verwischen oder gar Umkehren dessen hin, was der gesellschaftliche Konsens von Gut und Böse ist, was die eigentliche Bedrohung für diese Gesellschaft darstellt. Die unkontrollierte Eigenständigkeit einer Sicherheitsbehörde ist eine Gefahr für jedes demokratische System und die Partnerschaft demokratischer Systeme miteinander. Vertrauen ist ihr Fundament. Misstrauen ist ein Indiz für eine schwindende oder eine bloß opportunistisch motivierte Freundschaft, wenn es denn Freundschaft unter staatlichen Gebilden überhaupt geben sollte. Misstrauen mit Misstrauen bekämpfen? Seltsam, aber so muss es wohl sein. Wie auch die Kontrollinstanzen auf internen Verrat, auf Whistlebower in eignen Reihen bauen müssen, wenn etwas nicht rechtens läuft. Sonst macht der esprit de corps die Kontrolle unmöglich.

Nur kurz sei zu erwähnen, dass eine politisch wie ökonomisch freie Presse, das wohl wichtigste Kontrollorgan eines Staates und der Staaten untereinander ist. Eingriffe in die Pressefreiheit, wie jüngst in Großbritannien ohne viel Aufschreien der Bürger geschehen und in Russland Normalität, stellen eine schlimme Bedrohung demokratischer oder sich als demokratisch bezeichnenden Gesellschaften dar. Auf Dauer ist diese Bedrohung gefährlicher als die des Terrors einzuschätzen, dessen Bekämpfung der Eingriff in das Grundrecht der Pressefreiheit eigentlich dienen soll.

Ja, dieser elende Zwang des Faktischen. Diese zutiefst menschliche Eigenschaft, immer wieder eine Begründung dafür zu finden, warum wir in diesem einen Fall das Falsche tun mussten, obgleich wir doch eigentlich das Richtige erreichen wollten – das dann leider nicht eingetroffen ist. Im Streben nach Sicherheit haben zahlreiche Regierungen genau diese Eigenschaft verinnerlicht, sind in der Suche nach alternativem Handeln erstarrt. Wenn dem Einzelnen noch so etwas wie ein Gewissen zwickt, so findet es innerhalb eines Apparats schnell Ablenkung. Fraktionsdisziplin heißt das. Sie beginnt mit dem demokratischen Solidaritätsprinzip eine Mehrheitsentscheidung trotz anderer Ansichten mitzutragen und endet mit der Diskriminierung von Abweichlern. Abweichler? Verräter? Feinde des Korpsgeistes. Wir sollten uns freuen, wenn es solche Abgeordnete noch gibt, die den Mut besitzen, Artikel 38 (1) des Grundgesetzes zu entsprechen. Dort heißt es eindeutig, sie seien „Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“

Also ist Verrat aus idealistischen Gründen – nicht aus finanziellen Gründen – durchaus der Beweis für das Vorhandensein eines Gewissens. Solche Verräter an die Öffentlichkeit werden als Regulativ werden immer wichtiger.

All das, was hier geschrieben steht, kann übrigens ohne Einschränkung auf ökonomisch ausgerichtete Nichtregierungsorganisationen übertragen werden. Facebook und Google sind zwei gewohnt gewordene Bespiele. Viele weitere weltweit tätige Datenkraken spähen aus, halten sich dabei stets für die Guten und die Mitbewerber für unfair bis böse. Sie bauen religions- oder staatsähnliche Gebilde auf und übertreffen politische Organisationen längst an Macht.

Auch Ihnen – und noch mehr uns – wünsche ich mir für die Zukunft immer wieder ein paar neue Snowdens.

Wer bis hierhin gelesen hat, dürfte sich auch dafür interessieren: Die BigBrotherAwards 2014 warten auf Ihre Nominierungen




Der Mensch im Advent

von Dirk Jürgensen ...

Es ist Advent.

Der Geist sehnt sich nach der Ruhe des nahenden Winters und der Körper stürzt sich mit Wonne ins Gewühle.

Oder ist es umgekehrt?

Advent

Eine Düsseldorfer Fußgängerzone vor Weihnachten. Humor gehört sicherlich dazu. – Foto: © Dirk Jürgensen

Wenigstens ein Teil des menschlichen Individuums scheint nach der Hektik, nach der körperlichen Nähe zu all den anderen hektischen bis aggressiven Artgenossen in den Fußgängerzonen und Weihnachtsmärkten zu verlangen, sie zu brauchen und den Rest seines biologischen und psychischen Haufens Mensch ins Gedränge zu locken.

Wer, setzten wir das Vorhandensein einer totalen menschlichen Selbstbestimmung voraus, würde sich das freiwillig antun?

Vielleicht handelt es sich auch nur um eine noch nicht ganz verstandene Ausprägung dessen, was uns Menschen von der restlichen Tierwelt abhebt. Ich meine den Humor. Ameisen und Lemminge erlangten schließlich nicht aufgrund ihrer guten Laune Berühmtheit.




Fußball, ein feuchter Sport

von Dirk Jürgensen ...

Fußballer spucken nicht nur auf den Rasen

Eine berühmte Spuckszene aus der Fußballhistorie in künstlerischer Bearbeitung.

Die Zahl der im heimischen Fernseher zu betrachtenden Fußballspiele reicht ins Unermessliche. Die WM naht mit eiligen Schritten und eines ist ganz sicher: Wir werden Aufnahmen von Spielern aller Länder und Mannschaften bewundern, die dem Platzwart beim Befeuchten des Rasens gehörig Konkurrenz machen. Rotzbengel betitelte ich 2004 einen Text, mit dem ich mich an der Annäherung einen besonderen Saft versuchte. Jede Fußballübertragung konserviert seine Aktualität. Weiterlesen




Ist der Braunkohletagebau nun doch verzichtbar?

von Dirk Jürgensen ...

Otzenrath ist nicht mehr

Wie die Süddeutsche Zeitung berichtet, wird beim Stromerzeuger RWE geprüft, ob der Braunkohletagebau in Nordrhein-Westfalen aus Kostengründen stillgelegt werden soll. Eine von KritikerOtzenrathn immer wieder als vollkommen veraltet gescholtene Technik, auf die man angesichts der notwendigen Versorgungssicherheit bislang keinesfalls verzichten konnte? Derzeit dementiert die RWE die Meldung, doch könnte der wachsende Marktanteil umweltfreundlicher Stromerzeugung tatsächlich ein Grund für das Einlenken des Konzerns sein.

Was geht nun in den Menschen vor, die noch vor gar nicht langer Zeit ihre Dörfer verlassen mussten und was in denen, deren Dorf noch auf der Abrissliste steht?

Marie van Bilk hatte sich im inzwischen nicht mehr existierenden Dorf Otzenrath umgeschaut und eine bis zum Schluss standhafte Bewohnerin gesprochen: Wenn der Bagger kommt




Sehrsehr geschicktes Abwehrverhalten 2.0

von Dirk Jürgensen ...

Sprache und Fußball

Die älteren Sportinteressierten werden mit dem ursprünglichen Text aus dem Jahre 2004 noch etwas anfangen können. Nicht zuletzt für die jüngeren Beobachter der TV-Übertragungszene möchte ich einige aktuelle Anmerkungen folgen lassen. Insgesamt erfüllt mich der alte Text übrigens mit Stolz. Ich glaube damals einer Entwicklung auf die Spur gekommen zu sein, die inzwischen alle, wirklich alle Lebensbereiche erreicht hat. Zwischen Politik, Kultur und Privatem ist nichts verschont geblieben. – Was macht Berti Vogts eigentlich heute? 2004 war er jedenfalls noch nicht Trainer der Nationalmannschaft Aserbaidschans und Rudi Völler … Weiterlesen




Zum 100. Todestag des Hermann Harry Schmitz

 von Dirk Jürgensen ...

Klischee, nichts als Klischee vom Humorkongress bis zur Lungenliga.

Hermann Harry Schmitz - Das Buch der Katastrophen

Ich habe keine Lunge mehr. Ich bin eigentlich tot oder aber ein anatomisches Phänomen. Ich muß schon letzteres sein, da mir das Totsein niemand so recht glauben will. (Hermann Harry Schmitz – Der Beginn der Geschichte „Von meiner Lunge“)

Der Deut­sche, die Deutsche selbstver­ständlich auch, hat es schwer mit sich, seinem und ihrem Humor. Das ist schon lange so und hat etwas mit dem Gemüt, der Mentalität zu tun. Wir Deutschen handeln, wenn man uns aktiv oder passiv in nüch­ternem Zustand betrachtet, meist vernünftig und wir fordern ebendieses Ver­halten gern durch lautes Appellieren ein. Humor, aber auch Wut und Schreie verzweifelter Ungerechtigkeit müssen hingegen um Erlaubnis fragen, ob gerade Platz für sie vorhanden sei. Meist ist dies nicht der Fall. Meist werden sie als ungerecht und hart empfunden, selbst wenn sie nur eine ver­ständliche Reaktion sind.

Gottlob – auch dieser Begriff ist höchst diskutabel – ist Vernunft, wie uns die Vernünftigen unter den Philosophen bislang erfolglos erklärten, höchst und zutiefst relativ. Erfahrungen hat da jeder. Denken wir an die Ermahnungen unserer Mütter zurück, doch endlich Vernunft anzunehmen – die einzig gültige, die der Mutter natürlich – und wenigstens sonntags eine vernünftige Hose anzuziehen. Jetzt, endlich jenseits der Pubertät und dem damit verbundenen Ärger, zeigt sich in diesem Konstrukt blanker Humor:

Vernunft, dieses oft als das höchste menschliche Gut bezeichnete Ding, verborgen im Gespinst einer Hose? Selbst der dröge Kant hätte hemmungslos gejauchzt. Vernunft ist nicht erst seit Aristoteles von variablen Prämissen abhängig – von den Prämissen der Herrschenden und deren Meinung. Damals, als wir noch pickelgesichtig um Selbst­bestimmung rangen, war es die Mutter und manchmal der Freund der so viel mehr konnte und durfte als wir selbst.

Manchmal, meist später, wenn einem das Pech der Siedlungsbauweise widerfuhr, waren es die Nachbarn, das Dorf, die gerade gegründete Familie, oft auch die Ökonomie in Form von potentiellen, aktuellen, dann bald doch ihren Laden schließenden Arbeitgebern. Oder es war dieses schlüpfrige Ding Zeitgeist, das uns Rückschritte als „Reform“, Spießertum als „modern“ und bloßen technischen Fortschritt als „Gewinn von Lebens­qualität“ vorgaukelte. Viel Raum zwischen Revolte und Resignation bieten alle Lebenslagen. Viel Raum für Witz, Ironie und Sarkasmus auch.

Oft entstehen Wut und Depression, wenn in allen oder auch nur in Teilen des eigenen Lebens Selbstbestimmung nie wirklich durch­gesetzt, nie zur Selbstverwirklichung reift, die Selbst­ver­wirk­lichung gar nur als Begriff, als Placebo einer Sinnbildung existiert. Ungeschick in der Le­bens­führung, das leider ohne Slapstick daherkommt. Oder doch? Hoffen wir´s? Schließlich macht Slapstick Schadenfreude.

Aber wie verhält es sich mit dieser Schadenfreude?

Haben sie sich dabei auch schon erwischt? Edel ist sie, die Fehlleistungen, Gebrechen oder das Aussehen ins krumme Visier nimmt, ganz bestimmt nicht – aber menschlich. Anders wird es je­doch, wenn wir es schaffen, unser eigenes Scheitern in Humor zu betten. Schadenfreude am eigenen Leben. Vielleicht ist es das, was uns Deutschen so schwer fällt und vielleicht ist es auch der Grund für den Mangel an klugen, lustigen Vorbildern. An Künstlern der Zunft des Komischen. An Köpfen, die es wagen, sich aus engen Vernunftsbandagen herauszuschälen, die sich selbst zu unserem Gespött ma­chen, uns gleichzeitig Entzerrungsspiegel vorhalten, die uns so lächerlich darstellen, wie wir wirklich sind.

Vielleicht ist der Mangel – wie auch dieses elende Jammern über einen doch nur vermeintlichen Mangel –schon wieder ein typisch deutsches Selbstbedienungsklischee. Sehr wahrscheinlich ist es so, denn es gibt keinerlei, geschweige denn repräsentative Statistiken mit humorbeweisenden Pegelwerten unterschiedlicher Nationen. Nicht einmal bundesdeutschlandsweit kann – dem stets schunkelbereiten Rheinländer bereitet dies durchaus Magengrimm – objektiv-quantitativ mehr oder weniger Humor nachgewiesen werden. Weder der seltsame Vorwurf, in einer Spaßgesellschaft zu leben, noch die nervtötende Dauerberieselung mit unlustig hohlen Comedyformaten ist für den Versuch eines Urteils eher kontraproduktiv. Und die Qualität verhält sich ohnehin ähnlich der Vernunft prämissenabhängig und ist in ihrer Ausprägung stets strittig. Doch eines ist hier zur Rettung des Klischees festzuhalten:

In Essen, also Deutschland, fand 2004 ein internationaler Kongress der Humorforscher statt. Wie die dazugehörige Internet-Seite damals verriet, hatte sich kein Werbesponsor für dieses Thema finden lassen.

Viel erfolgreicher in finanziellen Dingen und mit weitaus mehr Witz ausgestattet, war dagegen sicher das Treffen der Lungenliga im natürlich schweizerischen Davos, bei dem sich zahlreiche lustige Ärztevertreter aus aller Welt über die pulmonale Hypertonie auslachten. Gut, Letzteres ist Vermutung, doch ist nicht allein der Vereinsname der „Lungen­liga“ preisverdächtig?

Wo wir gerade bei der Lunge sind, und wo wir gerade beim Humor sind und bei der griesgrämigen Suche nach Vertretern deutscher humoristischer Unvernunft, findet sich hier, für manchen unvermittelt, doch für die meisten nach zu langer Wartezeit, derjenige, um den es hier geht. Um Hermann Harry Schmitz.

Hermann Harry Schmitz (* 12. Juli 1880 in Düsseldorf, † 8.August 1913 in Bad Münster am Stein)

Diesen wahren Sonderling der deutschen Literatur- und Humorgeschichte ist eine vernünftige Würdigung zu gönnen. Dieses als „Dandy vom Rhein“ bezeichnete Gesamtkunstwerk, das anno 2013 ganz bestimmt 133 Jahre alt geworden wäre, wenn es sich nicht schon mit 33 Lenzen sein fragiles Leben genommen hätte, lohnt der Ausgrabung. Warum sollen nur die, die Hermann Harry Schmitz damals kannten, lächelnd, aber entlarvt ins Grab gegangen sein?
 
Ein Interview mit Dr. Michael Matzigkeit kann einige Aspek­te des komischen, ironischen und außerordentlich skurrilen Werkes aufhellen. Immerhin ein Werk und ein Leben, dessen Grotesken, wie dessen Ende stets dem totalen Chaos zuliefen. Ein komi­scher Widersacher des deutschen Klischees war dieser HHS, der nicht nur an ihr, doch vornehmlich an seiner Lunge scheiterte.

„… Ich glaubte eine Form gefunden zu haben, habe mich aber getäuscht“, waren Schmitzens letzte Worte in einem Brief, in dem er Abschied von seinem kurz zuvor telegraphisch genommenen Abschied nahm und sein Leben dann doch der Browning übergab. Er hätte auch die beiden bereits ein Jahr zuvor verfassten letzten Sätze seines Textes „Warum mein Beitrag ungeschrieben bleib“ aus der Düsseldorfer Theaterwoche nehmen können: „Hinderlich wie überall, ist der eigene Todesfall. So blieb mein Beitrag ungeschrieben.

Viele mögen nun fragen, warum hingegen ausgerechnet dieser hier zu lesende Beitrag geschrieben werden musste. Doch Neugierige, die auch damals schon immer im elterlichen Kleiderschrank nach den Weih­nachtsgeschenken stöberten und manchmal auch fündig wurden, Menschen, die sich schon jetzt ver­gnügt vorarbeiten möchten, können sich im Internet unter http://gutenberg.spiegel.de/autoren/schmitz.htm bei Verwendung des eigenen Druckers das Ge­samt­werk zusammenzustellen.

Dem weniger Geizigen bieten die Buchhändler aktuell zwei Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme mit Hermann Harry Schmitz.

Eine einbändige, recht umfassende Sammlung, die aufgrund des Titels „Das Buch der Katastrophen“ nicht mit den namensähnlichen Ausgaben ab 1916 zu verwechseln ist, er­schien 1996 im L+L Verlag Düsseldorf.

Beim Grupello-Verlag Düsseldorf erschien 2000 unter dem Titel „Hermann Harry Schmitz – Ich bin der drittgrößte Mann des Jahrhunderts“ eine von Bernd Kortländer herausgegebene und kommentierte Fragmentensammlung, die dem interessierten Leser, dem eine Reihe von Geschichten bereits bekannt sein sollten, wertvolle Hinweise auf den Menschen Schmitz geben kann. Allein der Kladdentext ist purer göttlicher Kaufanreiz: „Der größte Mann des Jahrhunderts ist Zeppelin und ich bin der drittgrößte. Ich habe das mündlich.“

Zu empfehlen, doch leider nur noch in Antiquariaten zu erhalten, sind folgende Ausgaben:

1988 erschien eine erste Werkausgabe von HHS im Haffmanns Verlag, Zürich, herausgegeben von Bruno Kehrein und Michael Matzigkeit. Eine durchgesehene Neuauflage derselben Herausgeber ver­öffentlichte 1996 der Econ-Verlag, München.

„Wie ich mich entschloß, auf Händen zu gehen“ heißt eine Sammlung von „30 Katastrophengeschich­ten“ die 1989 im Eulenspiegelverlag (Ost-)Berlin erschien.

Sollten Sie gar eine Ausgabe, die zu Lebzeiten von Hermann Harry Schmitz, oder kurz nach seinem Tode erschien, in Händen halten, lassen Sie diese bitte nicht wieder los. Dies sind:

„Der Säugling und andere Tragikomödien“, Ernst Rowohlt Verlag, Leipzig 1911-12, Kurt Wolff Verlag, Leipzig 1913-18 und München 1921-28.

„Buch der Katastrophen“, Kurt Wolff Verlag, Leipzig 1916-18 und München 1922-29.

Abzuraten ist von den titelgleichen Ausgaben dieser Werke aus den Jahren 1940-43, da sie im Geiste dieser zutiefst unwürdigen Zeit zensiert wurden.

Wer nicht lesen möchte, sich einen fernsehlosen Abend oder eine langweilige Autofahrt durch etwas Chaos versüßen möchte, sollte sich das Doppel-CD-„Hörbuch der Katastrophen“ der Hörbuchedition A. Netschajew aus dem pro art tonlabor zulegen.

Genug Gründe gibt uns dieser Hermann Harry Schmitz, auch noch lange nach seinem Tod gesundheitsfördernd zu lachen. Gewissermaßen also eine laute, postmortale Hypertonie.