1

Scham in Zeiten von Corona

Kein Klopapierwitz

von Dirk Jürgensen …

Die Flugscham für mich kein Thema
mehr. Weil es kaum noch Flüge gibt. Was mich neuerdings persönlich
emotional sehr berührt, ist meine Klopapierscham.

Papierfabrik - Foto: © Dirk Jürgensen - Düsseldorf

Nicht nur vor, sondern auch während
dieser Seuchenzeit habe ich Toilettenpapier immer erst gekauft, wenn
ein gewisser Meldebestand von drei oder vier Rollen erreicht war.
Früher war das kein Problem. Ich bin einfach in den Discounter
meiner Wahl gegangen, habe ein Paket des übrigens heutzutage gar
nicht mehr kratzigen Papiers mit dem Blauen Umweltengel gegriffen und
bin damit völlig ohne einen Hintergedanken nach Hause spaziert.
Heute ist es so, dass mir, wenn ich meine täglich erforderliche
Fitnessrunde drehe, Leute mit Klopapierpaketen unter dem Arm
auffallen. Gut möglich, dass all die Berichte über Plünderungen
und die hinterher unvermeidlichen Klopapierwitze meine optische
Sensibilität gesteigert haben. Aber die tatsächlich meist leeren
Regale für Hygienezellstoffe können meine Wahrnehmung nur
bestätigen.

Letztens, die Neugier trieb mich dort hin, denn ich war eigentlich auf der Suche nach einem Paket günstiger und dennoch leckerer Vollkornnudeln, wartete nur noch ein einsamer Zweierpack mit dieser ganz teuren, zwischen den 15 Lagen wahrscheinlich mit Watte gepolsterten, edlen Parfümen aufgewertete Ware auf eine am Popo empfindsamen Käuferin oder einen entsprechenden Käufer. Ich wagte zu widerstehen, schließlich war mein Meldebestand noch nicht erreicht. Eine Panik wollte partout nicht aufkommen.

Das ist heute beim Anbrechen der
fünftletzten Rolle anders geworden. Als ehemaliger Handelsschüler
weiß ich, dass der Meldebestand aufgrund längerer Lieferzeiten
durchaus früher als gewohnt eintreffen kann. Was tun? Würde ich
jetzt gegen jede umweltpolitische und preisliche Überzeugung
zugreifen und dieses umweltschädliche, zuerst die Wälder
vernichtende und hinterher den Abfluss verstopfende Zeug nehmen? Oder
werde ich Glück haben und mein Recyclingpapier ergattern können,
weil die Klopapierwitze inzwischen bei jeder Prepperin oder jedem
Prepper angekommen sind oder das Kinderzimmer aufgrund der
Rollenstapell keines mehr ist? Doch gehe ich einmal von diesem
Glücksfall aus, was werden die Leute denken, wenn ich mit meinem
Paket unter dem Arm den Laden verlasse?

»Ach guck mal, Alfred. Da ist wieder
so ein Hamsterer. Der hat sein Lager wohl noch immer nicht voll.«

Ja, die Klopapierscham hat mich
ergriffen. Ich werde wohl jedem Passanten aus sicherer Entfernung
erklären, dass ich die eine gekaufte Packung wirklich für den
sofortigen Anbruch vorgesehen habe. So oder so bleibt die Situation
peinlich. Ich sehne mich nach der Zeit vor Corona zurück. Eine Zeit,
in der mir egal war, was die Leute über mich sagten.

PS: Übrigens erwarte ich nach der Corona-Krise eine neue. Eine ökonomische Schieflage, in die die Papierindustrie geraten wird. Die Hamster haben dafür gesorgt, dass der deutsche Klopapierumsatz in kurzer Zeit um 700% gestiegen ist. Da die aktuelle Seuche keinen signifikanten Einfluss auf den Stoffwechsel hat, wird nicht mehr als vor ihrem Ausbruch geschissen, wird es nach Beendigung der viralen Krise also sehr lange dauern, bis die riesigen Vorräte verbraucht sind. Das bedeutet, wenn es mit der Wirtschaft postcoronal wieder aufwärts geht, werden die Aktien der Toilettenpapierbranche ins Bodenlose fallen.

Ich allein werde diesen Industriezweig mit meiner weiterhin auf den Meldebestand beruhenden Nachfrage kaum retten können und höre schon jetzt den Ruf nach Staatshilfen, schließlich ist die Produktion von Klopapier systemrelevant!

Egal, ob wir uns nach Corona den
dringend notwendigen radikalen Umbau des Kapitalismus vornehmen, oder
nicht. Wir sollten gewarnt sein, denn geschissen wird immer!




Jürgensen x 3 im Müllerhuus

Die 23. Kunsttage in Ditzum

 von Dirk Jürgensen …

Am letzten Oktoberwochenende ist es wieder soweit. Das kleine Fischerdorf Ditzum am Dollart in Ostfriesland verwandelt sich zum inzwischen 23. Mal ein Kunstdorf. In entspannter Atmosphäre schlendern zahlreiche Kunstinteressierte von Haus zu Haus, denn Privathäuser, Geschäfte, Lokale und sogar die Kirche des Ortes verwandeln sich für zwei Tage in Galerien.

Magnus Jürgensen vor einem seiner Bilder - Foto: © Dirk Jürgensen - Düsseldorf
Magnus Jürgensen vor einem seiner Bilder – Foto: © Dirk Jürgensen – Düsseldorf

Die offizielle Eröffnung der Kunsttage findet am Samstag (26.10.2019) um 12.00 Uhr in der ev.-ref. Kirche in Ditzum statt. Dort wird die Düsseldorfer Kunsthistorikerin Melanie Florin die Besucherinnen und Besucher, die ausstellenden Künstlerinnen und Künstler mit ihrem Vortrag auf ein spannendes Wochenende einstimmen. Um 13 Uhr werden dann, verteilt über das ganze Dorf, 31 ganz unterschiedliche künstlerische Positionen zwischen Malerei, Fotografie skulpturalem Schaffen zu besichtigen – und natürlich auch zu erwerben – sein. Aus den nahen Niederlanden werden in diesem Jahr 19 Kunstschaffende erwartet, die meisten davon sind Mitglieder der »Stichting Beeldend Kunstenaars Aa en Hunze«.

An dieser Stelle sei nicht ganz
uneigennützig auf das hingewiesen, was im Ditzumer »Müllerhuus«
passieren wird:

Nach einem fotografischen Alleingang
Dirk Jürgensens im vergangenen Jahr heißt das Motto 2019 »Jürgensen
x 3«: Maria Jürgensen wird Beispiele ihrer Gemälde, Zeichnungen
und Textgestaltungen, Magnus Jürgensen wird teilweise großformatige
Gemälde und Beispiele seiner Druckgrafik, Dirk Jürgensen
Fotografien aus seiner Serie »30 Sekunden« präsentieren.

Zahlreiche Kontraste, wie auch
überraschende Verbindungen zwischen den Werken sind garantiert.
Ebenso könnte es noch mehr oder weniger spontane Programmpunkte
geben, die das »Müllerhuus« zu einem Fixpunkt auf der Kunstroute
durch Ditzum machen dürften.

Die Türen der Ausstellungen der Ditzumer Kunsttage werden am Samstag (26.10.2019) von 13.00 Uhr bis 18.00 Uhr und am Sonntag (27.10.2019) von 11.00 bis 17.00 Uhr geöffnet sein.

Weitere Informationen finden Sie auf der Hompage der Gemeinde Jemgum, zu der Ditzum gehört.

Wir – Jürgensen x 3 – können
sicher auch im Namen aller anderen Ausstellenden sagen, dass wir uns
schon jetzt sehr über die zahlreichen Gespräche mit
Kunstinteressierten freuen.




Besser leben mit dem Rücken zur Wand

Gedanken über den Rücktritt und
andere Schritte

 von Dirk Jürgensen …

Wer mit dem Rücken zur Wand steht,
kann nicht zurücktreten. Diesen Satz sollten nicht nur
Politikerinnen und Politiker einen Moment wirken lassen.

Denn er ist in seiner bildhaften Bedeutung überraschend richtig, nur verstehen wir ihn in seiner alltäglichen Verwendung anders.

Wer mit dem Rücken zur Wand steht, hat
die wohl sicherste Position inne, muss nicht allein auf sein
Vertrauen bauen.

Wand © Dirk Jürgensen

Wie bitte?

Ich stehe immer hinter dir, kann eine
Drohung sein.

Nur wer mit dem Rücken zur Wand steht,
hat einen Dolch im Rücken nicht zu fürchten. Gefahr kann allein von
vorne kommen. Nicht einmal ein Absturz in hinter uns lauernde
gefährliche Tiefen – nicht Untiefen, schließlich wären diese gar
nicht tief – ist möglich.

Gut, wer mit dem Rücken zur Wand
steht, kann nur die Flucht nach vorne oder zur Seite antreten. Das
mag zunächst ein Nachteil im Sinnes eines gerne im Mittelpunkt
Stehenden sein, der die jederzeit mögliche ausweichende Bewegung in
alle Richtungen als Sinnbild der Freiheit versteht und für den die
Sicht auf die Dinge eine notgedrungen kurzfristige ist. Eine Freiheit
bis zur Beliebigkeit. Das Fähnchen im Wind. Liberal im liberalen
Sinne, ist, in Erinnerung an den großen Loriot, eben nicht nur
liberal. Der Standpunkt in der Mitte ist recht instabil und erfordert
eine immer schneller werdende Rotation. Aus allen Richtungen droht
ein Hinterhalt, und die aus Überforderung wachsende Sehnsucht nach
einer sicheren Wand im Rücken, einem Rückhalt, wird verständlich.

Früher wurden Kinder zur strafenden
Demütigung in die Ecke gestellt. Eine Ecke besteht sogar aus zwei
Wänden. Dabei hat man schon mit dem Gesicht zu nur einer Wand
stehend Freund wie Feind unsichtbar in seinem Rücken – sieht nur
die Wand, die selten transparent oder ein Spiegel ist, spürt
Unsicherheit. Außer ihr hat dieser bedauernswerte Mensch nichts und
niemanden, der sich schützen vor ihm aufstellt. Jeder Schritt zurück
führt tiefer ins Ungewisse, was im vorangestellten Beispiel der
Rohrstock des Lehrers die Häme der ganzen Klasse war.

Ein Zurücktreten wäre mit dem Gesicht
zur Wand zwar möglich, doch an einen Gewinn an Gewissheit, an
Sicherheit und das Verhindern eines für beide Seiten schmerzhaften
Anrempels ist nur nach einer Drehung zu denken. Hoffnung böte
höchstens ein offenes Hintertürchen. Das fehlt meistens. Der
Fortschritt bei einem zur Wand gerichteten Blick bedeutet ohne
vorherige Drehung kostet bestenfalls eine platte Nase. Da ist sie
wieder, die beruhigende Wirkung eines Rückens zur Wand. Wer wünscht
sich schon am Ende seines Lebens, dass die einzige hinterlassene Spur
ein blutiger Abdruck der Nase an einer Wand ist?

Wer mit dem Rücken zur Wand steht,
kann nicht zurücktreten. Und, das möchte ich den letzten
Zweiflerinnen und Zweiflern ans Herz legen, ist wirklich für alle
Seiten von Vorteil. Unsere anonyme Musterperson kann beim Versuch
seines physikalisch eigentlich unmöglichen Rücktritts – also
nicht einmal aus Versehen – niemandem auf die Füße treten.

Wer mit dem Rücken zur Wand steht, hat
die ganz große Zukunft vor sich.

Wer zurücktritt, wer nach hinten
ausweicht, hofft möglichst bald die Wand im Rücken zu spüren, sein
Gesicht weiterhin in Würde zeigen zu können, sein Gesicht nicht zu
verlieren. Wer zurücktritt, hofft damit bestenfalls dem Doch
entgangen zu sein. Julius Cäsar hätte einst wohl besser mit dem
Rücken zur Wand gestanden.




Der Markt ist definierter als der Verstand

Vom Komparativ der Gangstas

 von Dirk Jürgensen …

Es kann gut sein, dass ich aufgrund altersbedingter Schwerhörigkeit den Bang nicht gehört habe und mich auf diesem Wege im erweiterten Kollegahskreis erkundigen muss. Aber wozu soll das Internet denn sonst gut sein?

Sprache verändert sich. Auch und gerade auf der Straße, in der Hood eben. Wo eine Frau heute als Bitch bezeichnet wird, wurde sie einst nur leicht abgeschwächt sexistisch Keule oder Alte genannt. Bemerkte man in ihrem Umfeld einen neuen Freund, handelte es sich um ihren aktuellen Stecher, obwohl man gar nicht einschätzen konnte, ob dieser zu seinen vermuteten koitalen Fähigkeiten keine weitere aufweisen konnte. Ja, Sprache verändert sich, wird verändert und das Verständnis hinkt hinterher. Nicht nur im Milieu der Karussellbremser.

So spüre ich nicht erst seit dem großen Presseecho auf die bekannte Preisverleihung bei einem bestimmten Wort Unverständnis. Sprache verändert sich und Worte erhalten neue Bedeutungen. Normal. Das ist so, seit – so lautet meine aus wissenschaftlicher Luft gegriffene Vermutung – seit die erste aufrecht gehende Frau das Bedürfnis äußerte, mit ihrem männlichen Mitbewohner des Baumes oder der Höhle sprechen zu müssen. Heute arbeiten die Medien, die Politik, die Werbung, die Kunst gemeinsam mit der Jugend an der Veränderung unserer internationalen Sprachen und an der Neudefinition von Begriffen.

Neudefinition, Definition, definieren. Da haben wir ihn, den Begriff, den ich bis in der jüngeren Vergangenheit stets mit recht großer Sicherheit begreifen, definieren konnte. Das ist nun nicht mehr so.

Bislang war ich mit diesen erfolgreichen Erklärungen sehr zufrieden, die so ähnlich bei Wikipedia nachzulesen sind:

Eine Definition (lateinisch definitio »Abgrenzung«, aus de »(von etw.) herab / weg« und finis »Grenze«) ist je nach der Lehre, der hierbei gefolgt wird, entweder

  1. die Bestimmung des Wesens einer zu erklärenden Sache,
  2. die Bestimmung eines Begriffs,
  3. die Feststellung eines tatsächlich geübten Sprachgebrauchs, also wie ein Wort oder Begriff zu verstehen ist oder
  4. die Festsetzung oder Vereinbarung eines solchen in der Sprachwissenschaft,
  5. als Legaldefinition die Bestimmung eines Rechtsbegriffs in der Rechtswissenschaft.

Die in dieser Erklärung fehlende Neudefinition der »Definition« ist mir vor einiger Zeit in einem Werbespot aufgefallen, als es um eine vermutlich einzigartige Wimperntusche ging, von der behauptet wurde, dass sie die Wimpern der Zielgruppe definieren könne. Nicht betonen, besonders hervorheben, schöner machen, nein »definieren« soll das Zeug. Der Wimperntusche wurde von den Werbetätigen also eine linguistische oder juristische Unterscheidungsfähigkeit zugesprochen.

Ich denke, die kosmetische Farbe mag noch so hochwertige Inhaltsstoffe aufweisen und Schönheitswunder vollbringen, aber an dieser Stelle geht es wohl doch zu weit. Denn weder erklärt mir dieses Produkt das Wesen der Wimpern als solche oder was Wimpern im allgemeinen Sprachgebrauch beschreiben, noch hilft sie dem um Gerechtigkeit ringenden Richter bei einer sachgerechten Entscheidung.

So habe ich mich anlässlich dieses Textes zu einer weiteren Recherche verführen lassen. Wie ich dabei erfahren konnte, ist besonders in den einschlägigen Muckibuden der Republik davon die Rede, man müsse seinen Körper oder zumindest spezielle Muskeln und Muskelpartien »definieren«. Unbedarft, wie ich nun einmal bin, wollte ich total vergreister Gestriger schon den sich an den dortigen Folterinstrumenten Gefesselten gerne empfehlen, sich nicht dieser körperlichen Quälerei auszusetzen, sondern einen kleinen Ausflug in die Stadtbücherei zu wagen. Dort könne man sich ein einigermaßen populärwissenschaftliches Werk ausleihen, das die Leserin und den Leser in die Welt der Anatomie geleitet. Und das zu einem Preis, bei dem kein Fitnessabo standhalten könnte. In derartigen Büchern würde der Bizeps als Skelettmuskel des Oberarms und der Schließmuskel des Popos als Ringmuskel defininiert. Ganz ohne Schweiß. Vermutlich könnte beim Überfliegen der Einleitung bereits der ganze menschliche Körper definiert werden. Vielleicht in dieser Art:

Der (menschliche oder auch tierische) Körper ist die materielle Einheit, die Masse eines Lebewesens, in dem sich alle Knochen, Organe usw. befinden.

Definitionen bedürfen also eher geistigen als körperlichen Trainings und ein somit definierter Körper benötigt zur Untermauerung ihrer Abgrenzung von anderen Dingen keine Eiweißzufuhr. Man kann die Quantität und Qualität des Trainings definieren. Man kann den Körper als muskulös oder schwammig definieren, doch allein die Aussage, ein Körper, ein Muskel oder ein Wimpernhaar sei definiert, sagt überhaupt nichts aus. Ihr sollte bei Interesse immer die Frage folgen, als was dieses Objekt der Definition definiert ist. Auch kann man das Wort „Definition“ niemals im Komparativ gebrauchen. Etwas kann definiert werden, jedoch niemals definierter sein als. Oder neuerdings doch?

Sicher haben Sie längst bemerkt, worauf mein Beitrag hinaus möchte und Sie werden sagen, dass ich anhand meiner Rechercheergebnisse durchaus selber feststellen könnte, was ein selbsterkorenener Gangstarapper in seinem gelebten Traum, als echter Gangster im Knast zu sitzen oder bei einer Schießerein unter Gleichgesinnten ums Leben zu kommen, damit ausdrücken möchte, wenn er seinen Körper für definierter als den eines Opfers des Naziterrors (seines Opfers?) hält. Er hält ihn in erschreckender Banalität für durchtrainierter. Das ist ebenso doof wie respektlos. Und hätte es in meiner Jugend bereits die Variante dieser eher bildungsfernen Kunstrichtung des Sprechgesangs gegeben, wäre der Sixpack unter der Goldkette des Rappers wohl mit dem aufgedunsenen Bauch eines in Biafra verhungernden Kindes in Konkurrenz getreten. Beide Vergleiche sind gleichermaßen geschmacklos, menschenverachtend, frei von jeder Empathie, auf den bloßen Skandal aus und vor lauter Dummheit strotzend hemmungslos.

Die Frage ist natürlich, ob die auch noch mit einem Musikpreis ausgezeichneten Gangstas tatsächlich so bildungsfern sind, wie sie sich geben, oder ob sie in Wirklichkeit mit Intelligenz und Absicht ihre Botschaften in die Hirne ihrer kritiklosen Jünger setzen, die der Einfachheit halber Provokation für Revolte halten und faschistoide bis faschistische Parolen als vollkommen normal empfinden / begreifen / definieren.

Bei genauerer Überlegung ist es übrigens nichts Besonderes und der vor Kraft fast platzenden Ausdrucksweise der Rapper nicht gerecht werdend, seinen vom Wohlstand geprägten Körper für schöner oder irgendwie besser als den eines Verhungernden zu halten. Eine besondere Leistung, auf die man stolz sein kann, steckt ganz sicher nicht dahinter. Ganz im Gegenteil, sie ist lächerlich.

Es ist jedoch verharmlosend, die verwendeten Rhymes als bloße Hülsen, als sinnentleerte Sprüche anzusehen, die erst dann beängstigend wirken, wenn man sie zu definieren versucht. Sie sind allein schon daher beängstigend, weil sie nicht einmal Ironie beinhalten, ihre Autoren und Interpreten an keiner Stelle zur Selbstironie fähig sind, sie leichtfertig oder absichtlich Abgrenzung legitimieren. Zudem in einem Kontext, der vor antisemitischen Plattitüden und Parolen, Sexismus, Schwulenhetze, Gewaltphantasien und Entmenschlichung nicht zurückschreckt.

Der schlimmste Horror ist, dass all das auch noch marktkonform ist. Es findet Kunden, generiert Millionenumsätze und sichert damit den monetären Erfolg. Das suggeriert Qualität, wo keine ist. Kein anderes Ziel als die Unterstützung des jeweiligen Marktwertes und ökonomischen Erfolgs hat der Echo. Um diese Form der kapitalistisch orientierten Schwarmdummheit also im Komperativ der prämierten Gangstas auszudrücken:

Der Markt ist definierter als der Verstand.




Zurück zum Eisbein?

Wieviel Deutschland gehört zu Deutschland?

 von Dirk Jürgensen …

Angst vor dem Minarett?

»Alle Religionen seindt gleich und guht, wan nuhr die Leute, so sie profesieren, erliche Leute seindt, und wen Türken und Heiden kähmen und wolten das Land pöbplieren, so wollen wier sie Mosqueen und Kirchen bauen.«

Der Fußball gehört nicht zu Deutschland, der ist in England zuhaus.

Die Gotik gehört nicht zu Deutschland, sie ist in Frankreich entstanden.

Die Nudel gehört nicht zu Deutschland, vielleicht noch nicht einmal zu Italien, denn sie wurde in China erfunden.

Die Kartoffel, das weiß jeder, gehört keinesfalls zu Deutschland, denn die kommt aus Südamerika.

Der Wein gehört auch nicht zu Deutschland, der stammt aus dem Kaukasus.

Das Christentum gehört nicht zu Deutschland, das entwickelte sich aus dem Judentum im römisch beherrschten Israel.

Der Mensch gehört nicht zu Deutschland, der kommt aus Afrika. Es könnte sogar sein, dass nicht einmal die Bayern nicht zu Bayern gehören, denn die stammen vermutlich von den Elbgermanen ab. Die lebten vorher entlang der Elbe bis hinunter nach Böhmen und Mähren. Da wird also ein gehöriger Anteil auch nicht zu Deutschland gehören.

Ja, wieviel Deutschland gehört eigentlich zu Deutschland? Wollen wir angesichts dieser »Problematik« in letzter Konsequenz wirklich auf Sushi, Döner und Pizza verzichten und wieder regelmäßig zum Eisbein greifen – ohne zu wissen, ob das Spenderschwein überhaupt aus Deutschland stammt?

Immer, wenn wir etwas genauer hinschauen, gehört kaum etwas zu Deutschland, das sich heute in innerhalb der Landesgrenzen befindet. Aber trotz dieser Zugehörigkeitsverwirrung gibt es dieses Land noch und es leben Menschen darin. Manche sogar einigermaßen gerne und ohne ständing danach gefragt zu werden, ob sie dazugehören, dazugehören wollen oder nicht. Dabei ist es ganz einfach:

Wenn auch nur einer der hier Lebenden an die Wiederauferstehung des Großen Kürbisses glaubt, dann gehört auch sein Glaube zu Deutschland, wie auch der Spott der Übrigen dazugehört.

Große Geister der Geschichte, Kunst und Technik gehören zu Deutschland, wie ein schreckliches historisches Erbe mit seinem vegetarischen Despoten, eine Reihe kaum verständlicher Dialekte und Sprachen, eine Zeit des Friedens und der Aussöhnung mit den ehemaligen Feinden zu Deutschland gehört. German Angst, german Zuverlässigkeit, made in germany und leider – ich sage das nur schweren Herzens – gehört sogar Pegida zu Deutschland.

Sicher würden wir uns freuen, wenn nur positive, jedem Einzelnen genehme Dinge zu Deutschland gehörten, aber das kriegen wir doch nicht einmal mit unseren ganz eigenen, persönlichen Eigenschaften zwischen Fett- und Magersucht hin. Wie soll das denn mit Deutschland klappen?

Im Geiste der Aufklärung und Toleranz waren wir schon einmal viel weiter, als es unser aus seiner eigenen Heimat Bayern vertriebene Heimatminister Seehofer vermuten lässt.So wurde in Preußen einst die Frage aufgeworfen, ob römisch-katholische Schulen aufgrund ihrer Unverträglichkeit abgeschafft werden sollten. Die dazugehörige Eingabe kommentierte Friedrich der Große:

»Die Religionen Müsen alle Tolleriret werden und Mus der Fiscal nuhr das Auge darauf haben, das keine der andern abrug Tuhe, den hier mus ein jeder nach seiner Fasson Selich werden.«

Ob es nun richtig war und ist, als Staat überhaupt religiös ausgerichtete Schulen und eine derart seltsame Orthographie zu dulden, sei dahingestellt, aber dieser Grundsatz der Toleranz, nach dem »jeder nach seiner Fasson glücklich« werden soll, bietet uns eine angenehm allgemeinverständliche Kurzfassung des kathegorischen Imperativ Kants, dessen Ethik ganz sicher zu Deutschland gehört. Und als im Jahr 1740 auch noch Vertreter der Stadt Frankfurt am Main in Potsdam anfragten, ob denn gar ein Katholik in einer evangelischen Stadt Bürgerrechte erhalten dürfe, erhielten sie vom Alten Fritz die passende und von großer Entspanntheit geprägte Antwort:

»Alle Religionen seindt gleich und guht, wan nuhr die Leute, so sie profesieren (= ausüben), erliche Leute seindt, und wen Türken und Heiden kähmen und wolten das Land pöbplieren (= bevölkern), so wollen wier sie Mosqueen und Kirchen bauen.«

Bekanntlich war Friedrich der Große Preuße. Ist es damit logisch, dass eine derart fortschrittliche Einstellung auch heute noch nicht zu Bayern gehört? Zu Deutschland – zum von den Deutschen bei jeder Gelegenheit so gern herbeizitierten »gesunden Menschenverstand« – sollte sie jedoch unbedingt gehören. Aber gehört Bayern – siehe oben – zu Deutschland? Es kommt immer drauf an.

Ich habe übrigens in meiner Heimatstadt Düsseldorf noch niemanden fragen hören, ob denn der Buddhismus und der in Japan hauptsächlich ausgeübte Shintoismus zu Düsseldorf gehören. Hoffentlich liegt es nicht allein daran, dass die hier lebenden Japaner – die sogar immer wieder mit Stolz als Bereicherung der Landeshauptstadt erwähnt werden – einfach nur viel wohlhabender sind, als die meisten zugereisten Moslems. An der engen Verbindung des Shintoismus zum ultrarechten Nationalismus Japans, der viele seiner Anhänger noch immer die »Heldentaten« aus dem Zweiten Weltkrieg verherrlichen lässt, liegt es wohl nicht. Geld, ja diese Religion gehört zu Deutschland.

Eine Placebodiskussion

Doch genug davon. Ich tappe selber immer wieder in diese Falle, obwohl ich mir darin sicher bin: Wir sollten uns besser darüber klar werden, dass dieses ständige Fragen danach, ob irgendwelche Dinge, Glaubensrichtungen, Ideen oder sexuelle Praktiken zu Deutschland gehören, nur dazu da ist, Placeboprobleme zu schaffen, die von der Behebung tatsächlicher Missstände ablenken. Wer sich mit der Diskussion darüber, ob der Islam zu Deutschland gehört, die Zeit vertreibt, wird in all der Ausgrenzung von Realität kaum noch in der Lage sein, unsere sterbenden Sozialsysteme zu reformieren, sie zu neuem Leben zu erwecken.
Erst wenn alle etwas von ihnen haben und nicht nur Versicherungen und deren Anteilseigner, wenn beispielsweise ein Gesundheitsminister Spahn seine Politik nicht nach seinen gewinnorientierten Freunden in der Lobby ausrichtet, wenn Konzerne sich über Steuerzahlungen am Gemeinwohl beteiligen, haben wir in Deutschland endlich mehr Kraft und Muße, unsere Toleranz und die Integration von Minderheiten und schweigenden oder schimpfenden gefühlen wie tatsächlichen Mehrheiten in ein solidarisches Leben etwas intensiver zu pflegen. Denn sie gehört zu Deutschland, weil ich es so will, weil ich zu Deutschland gehöre, obwohl es mir manchmal verdammt schwerfällt.




Termine

Aktivieren Sie JavaScript um das Video zu sehen.
https://www.youtube.com/watch?v=HAoGGIbBcSY

Video/Motion Design: Magnus Jürgensen


Programm der Alten Backfabrik01.10.2017

Der Berg liest

–> Maria Jürgensen, Dirk Jürgensen und Michael Schumacher sind drei von 24 Autoren, die im Rahmen von“Der Berg liest – Das Lesefestival“ in der alten Backfabrik aus ihren Werken lesen. Gesungen wird auch.

Michael Schumacher – liest ab 12 :30 Uhr aus „Zeitlinien“

Maria Jürgensen – liest ab 13 Uhr aus ihrem Menschenskind-Programm und singt

Dirk Jürgenesen – liest um 13 Uhr 30 und 21 Uhr aus „Norderschauholm“.

Eintritt frei

Beginn: 10 Uhr

Ort: Alte Backfabrik, Marienstraße 52a, 42105 Wuppertal

Dieser Termin ist leider Geschichte. Hier gibt Eindrücke von diesem herrlichen Fest der Worte.


Menschenskinder - © Entwurf: www.wittinghofer.de31.10.2017

Menschenskind

–> Drei Autoren und ein Pianist erzählen uns etwas vom Leben. Gewürzt werden Missgeschicke, Begegnungen, Skurrilitäten und Erinnerung mit einer Prise Chanson und einer großen Portion Melancholie und Witz.

Mit von der Partie sind Detlef Burket (Pianist und Sänger), Dirk Jürgensen (Autor), Maria Jürgensen (Autorin und Sängerin), Michael Schumacher (Autor).

Eintritt frei

Beginn: 19 Uhr 30

Ort: Sebastianushaus, Sebastianusplatz 9, 41516 Grevenbroich-Hülchrath


05.11.2017

Lesesession Borken

–> Gewandte Vorleser und Autoren tragen ihre Lieblingstexte vor, die entweder aus eigener Feder oder dem Bücherschrank stammen. Das Ganze wird begleitet von Musik. Maria Jürgensen und Michael Schumacher sind diesmal ebenfalls bei Claudia Wiemer in Borken zu Gast.

Eintritt frei

Beginn: 17 Uhr

Ort: FARB Forum Altes Rathaus Borken, Wilbecke 12, 46325 Borken


 




Fotografische Entschleunigung

30 Sekunden – Eine halbe Minute Ewigkeit

 von Dirk Jürgensen …

Das Thema »Zeit« geht uns nicht aus den Köpfen. Ob wir unser Privatleben planen, die Arbeit uns Zeit stiehlt, versaut oder Erfüllung bringt, ob wir die Wochen und Tage bis zum Urlaub zählen oder das, was uns vom Leben übrig bleibt, ob wir auf den Bus warten oder im Stau stehen, die Zeit beschäftigt uns immer – besonders wenn wir von der so notwendigen »Entschleunigung« reden.

30 Sekunden © Jürgensen - DüsseldorfSo lag es für mich nicht fern, der Zeit ein Fotoprojekt zu widmen, eine künstlerische Annäherung an das Thema zu suchen. Denn besonders in der Fotografie ist die Zeit ein außerordentlich einflussreicher Aspekt.

Normalerweise, wir erwarten als Ergebnis in der Regel ein scharfes, nicht verwackeltes Bild, konserviert ein Foto einen Zeitabschnitt, der nur hundertstel oder tausendstel Sekunden währte. Es täuscht uns das, was mit dem Klacken des Verschlusses schon längst Vergangenheit wurde, als ewige Gegenwart vor. Mit ihrem Einfrieren des Bruchteils einer Sekunde ist die Fotografie ein Hilfsmittel für unsere oft zu fahrige Wahrnehmung und gleichzeitig eines für unsere unpräzise Erinnerung. Wir wollen das so und akzeptieren damit die zeitlich winzige Wirklichkeit eines Fotos als Wirklichkeit des Lebens.

Versucht man in der Fotografie Zeit sichtbar zu machen, gibt es die Möglichkeit mit Serienaufnahmen Veränderungen, Bewegungen und Abläufe in Sequenzen einzuteilen. Jedes Bild für sich ist dann wieder ein kurzer und für sich abgeschlossener Ausschnitt aus der Zeit. Den zwischen den einzelnen Bildern entstandene Zwischenraum füllt unsere Phantasie, so, wie auch ein Film aus vielen Einzelaufnahmen besteht und die Geschwindigkeit des Bildwechsels uns den lückenlosen Fluss des Geschehens vorgaukelt.

Eine andere Möglichkeit ist die, die Belichtungszeit zu verlängern, sie in einen Bereich zu bringen, den wir glauben, mit unserer Wahrnehmung erfassen zu können. Sagen wir, eine halbe Minute. Müssen wir eine halbe Minute warten, kann das eine Ewigkeit bedeuten, doch erleben wir gerade einen großen Genuss, gehen 30 Sekunden viel zu schnell vorbei. Beim Fotografieren selbst bedeuten 30 Sekunden oft eine Ewigkeit, eine Zeit, in der man sich mit dem Drücken des Auslösers dem Zufall aussetzt. Stellt man sein Kamerastativ beispielsweise in einer Fußgängerzone auf, möchte die Bewegung eines Passanten verfolgen, dreht er sich unerwartet um, ein Kind läuft ihm in die Quere und die eben noch schlaff am Mast hängende Fahne im Hintergrund wird von einer Windböe erfasst. Wer mit einer Belichtungszeit von einer halben Minute fotografiert, erfährt die Ewigkeit solcher Momente.

Wie sehr sich dieser Zufall sich auch an der Bildkomposition beteiligen mag, immer ist das Ergebnis ein Dokument dessen, was innerhalb seines Erfassens geschah, eines, das aber auch zeigt, wie flüchtig die Ausdehnung der Zeit dieses Geschehen macht. Menschen, Tiere, Dinge in Bewegung verwandeln sich in ihre eigenen Spuren, sie werden durchsichtig, verschwinden bei schneller Bewegung ganz. Was bleibt, ist die Position der Ruhe, nicht die der Eile. Die Hektik der Innenstadt verwandelt sich in eine indifferente Wolke, wird letzthin aufgelöst.

So würde ich mich freuen, wenn der Bildband mit einer Auswahl meiner Fotografien, die konsequenterweise alle mit einer Belichtungszeit von 30 Sekunden entstanden, der Wahrnehmung der Zeit ein kleines Stück Geschwindigkeit nehmen könnten.

Wir reden so viel von Entschleunigung. Auch sie ist eng mit einer bewussten Wahrnehmung von Zeit verbunden. Vielleicht mögen Sie in diesem Zusammenhang mein künstlerisches Experiment sogar für sich selbst fortsetzen, indem Sie sich einfach(?) die Zeit nehmen, sich eine der im Buch versammelten Fotografien herausgreifen und sie eine halbe Minute lang anschauen, so lange, wie die Kamera benötigt hat, das Bild aufzuzeichnen. Ich würde mich freuen zu erfahren, was Sie sehen, was bleibt.


Das Bilderbuch »30 Sekunden – Eine halbe Minute Ewigkeit« (ISBN:978-3-744-85498-6) hat 52 Seiten im handlichen Format von 21x15cm mit zahlreichen Schwarzweiß- und Farbaufnahmen und kann in Deutschland für 8.50 € überall dort erworben werden, wo es Bücher gibt. Ihr lokaler Buchhändler wird es gerne für Sie bestellen.

Wenn Sie es partout nicht vermeiden können, dürfen Sie es natürlich auch bei Amazon oder über die folgende Box beim BoD-Bookshop ordern.

Weitere Informationen zu diesem Projekt finden Sie unter knipsenundtexten.de im Netz.

Dieses Buch könnte Sie auch interessieren: Rheinturm – Cameoauftritte eines Düsseldorfer Wahrzeichens




Menschenskind

Auswärtsspiel in Wuppertal

 von Dirk Jürgensen ...

Eine Lesung mit Musik mit Michael Schumacher, Maria Jürgensen und Dirk JürgensenDer Sommer hat noch nicht einmal begonnen, da laufen schon die Vorbereitungen für seine Hochphase. Am 16. Juli präsentieren wir, das sind Maria und Dirk Jürgensen gemeinsam mit unserem wunderbaren Freund Michael Schumacher in Wuppertal neue Geschichten und etwas Gesang unter dem Titel „Menschenskind“.

Menschenskind!

Ein Ausruf des Erstaunens, der Empörung und der Begeisterung – und irgendwie das, was wir alle sind.

Drei Autoren erzählen also etwas vom Leben.
Gewürzt werden Missgeschicke, Begegnungen, Skurrilitäten und Erinnerung
mit einer winzigen Prise Chanson und einer großen Portion Melancholie und Witz.

Michael Schumacher – Seit knapp drei Jahren treibt der gebürtige Wuppertaler sich nach einer mehrjährigen Pause wieder auf Bühnen herum, moderiert und organisiert in seinem Wohnort Xanten Poetry Slams und ist auch mit Prosa und Lyrik auf Lesebühnen zu hören.
Im Duo mit Ralph Beyer ist er mit dem Programm „Die tun euch nichts, die wollen nur lesen“ unterwegs. Morgens trinkt er Kaffee, danach Tee. Aufgewachsen im Bergischen Land, wohnt er jetzt grauhaarig und gerne am Niederrhein. Frei nach der rheinischen Lebensweisheit: Et is so, aber auch mal so. Was sagt das über seine Texte? Nichts. Oder alles. Je nachdem.

Maria Jürgensen schreibt, liest, singt, fotografiert und malt und macht ein bisschen davon auch vor Publikum. Sie schrieb für das Kulturmagazin „Einseitig.info“ und ist Autorin von Kurzprosa und Kolumnen. Als Mitglied des Netzwerks freier Kulturjournalisten war sie Mitorganisatorin und Jurorin des „Joseph-Heinrich-Colbin-Preises“. Wer mehr von ihr lesen will, findet sie genau hier.

Dirk Jürgensen wechselt gern vom Fotokünstler zum Autor und umgekehrt.
Als Mitbegründer und Schreiber des inzwischen legendären Online-Magazins „Einseitig.info“ war er Mitorganisator und Juror des „Joseph-Heinrich-Colbin-Preises“. Er ist Herausgeber einer deutschsprachigen Version des Finanzblasenklassikers „Das vergoldete Zeitalter“ von Mark Twain und Charles Dudley Warner. Gemeinsam mit seiner Frau versorgt er  dasvergoldetezeitalter.de mit Texten. Seine Fotografien sind im Netz unter knipsenundtexten.de und in einer Reihe handlicher Bildbände zu finden.

Die Veranstaltung findet im Wuppertaler Weltkulturladen statt, beginnt um 20 Uhr und der Eintritt ist frei, Spenden werden jedoch gerne entgegengenommen.

Weltkulturladen
Röttgen 102
42109 Wuppertal

Weitere Informationen gibt es bei Facebook.





2016 – Ein Jahr für Egomanen

Demokratie im Selbstzerstörungsprozess

 von Dirk Jürgensen ...

Der Autor dieser Zeilen hat sich entschieden, das Jahr 2016 nicht mit einem Rückblick zu versehen. Zu oft müsste er seinen recht deprimierten Rückblick auf das Jahr 2015 zitieren und noch ein paar weitere dunkle Töne beimischen. 2016 war ein Erfolgsjahr für Egomanen, der Nationalismus greift weiter und immer stärker um sich – sogar bei uns in Deutschland, wo wir es doch wirklich besser wissen müssten. Zuletzt hat dann auch die Präsidentschaftswahl in den USA bewiesen, dass es immer auch noch schlimmer kommen kann und der Begriff der Schwarmintelligenz zumindest im Politischen ein sehr fragwürdiger ist.

Der Schwarm ist es, der den weltweiten Selbstzerstörungsprozess der Demokratien beschleunigt. Zerstörung und Zurückentwicklung statt Verbesserung und Fortschritt heißt die Devise, die mit diffusen Ängsten legitimiert wird, die man uns viel zu lange hieß ernst zu nehmen. Dabei hat das Umtätscheln der höchst informationsresistenten besorgten Bürger sie zum Schwarm werden lassen. „Postfaktisch“ wurde auch in diesem Zusammenhang zum würdigen Wort des Jahres 2016. Es scheint so, dass die jahrelange Lektüre der Bildzeitung und das Zurückziehen in eine ganz eigene kleine Welt des ach so einflusslosen „kleinen Mannes“ zu einer Überforderung angesichts der heutigen Informationsvielfalt geführt hat. Erschwerend kommt hinzu, dass das die Presse längst ablösende Medium Facebook immer nur die eigene Meinung stärkt, anstatt das Weltbild zu entfalten. Sogar dumme und falsche „Fakten“ dienen dem Jeweiligen Status quo. Nebenbei sei die Frage erlaubt, ob die derzeit aufkeimenden Debatte um die Verhinderung von „Fake News“ auch in der Redaktion der Bildzeitung als Drohung empfunden wird?

Establishment? Welches Establishment?

Der Autor, der in den Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts politisch sozialisiert wurde, der dem Establishment als Klasse einer reichen Machtelite durchaus immer kritisch begegnete, fragt sich, was die heutigen Kritiker des Establishments überhaupt unter diesem recht englischen Wort verstehen. Was ist das für ein Establishment, das überall und jetzt bekämpft werden soll, wenn man einen Donald Trump zum Präsidenten wählt? Einen, der genau jener Clique angehört, die man zu bekämpfen vorgibt. Wählt man ihn nur, weil er sich einer Ausdrucksweise bedient, die außer Dummschwätzerei und gröbster Beleidigung kaum Alternativen kennt, weil er ein so herrlich unerzogener und gemeiner Egomane ist, wie man es nie sein durfte? Political correctness ist zum Schimpfwort mutiert und niemand stellt die Frage, ob diese neue incorrectness hilft, wenn sie größtenteils aus Lügen und Blendereien besteht?

Protestwahl dient keinem Selbstzweck

Immerhin zeigt Trump schon jetzt ganz deutlich, wozu es führt, wenn man politisch ahnungslos allein aus Protest irgendjemanden, den lautesten und frechsten Kandidaten wählt. Protestwahl dient niemals einem Selbstzweck, hinterher kommt es genau anders herum, als man es wollte. Trump holt einen Außenminister aus der Ölindustrie, der sich herrlich mit dem anderen Egomanen in Russland versteht. Trump holt einen Finanzminister aus dem Umfeld genau jener Bank, die eine der Hauptrollen in der Krisenauslösung gespielt hat, die so viele seiner Wähler in die Armut trieb. Ein Kabinett reinen Establishments. Noch jubeln seine Anhänger, er würde die Regierung endlich wie eine Firma führen wollen. Eine Firma, das wird nur zu gerne übersehen, die auch pleitegehen kann, wie es auch Trump mit einigen seiner Firmen erlebt erlebt und erfolgreich verdrängen konnte.

Trump ist das Sinnbild für den absoluten Sieg des Kapitalismus, wenn man will, auch des Ablegers mit dem Namen Neoliberalismus. Der sogenannte Amerikanische Traum, in dem unzählige Tellerwäscher zu Millionären wurden, soll wieder im ganzen Land geträumt werden. Wohlgemerkt, geträumt soll er werden. Gelebt wurde er noch nie, denn dass der Kapitalismus immer nur temporär zu einem breit angelegten Wohlstand führt, wenn man ihn nicht mit ganz engen Zügeln fasst, dass er immer ein Spiel von wenigen Gewinnern und vielen Verlierern ist, gelangt immer erst in das Bewusstsein seiner Jünger, wenn die nächste Krise auch sie erreicht. Ewiges Wachstum ist auch so ein Wunschtraum, der nicht Realität werden kann, der uns aber von jenen wenigen Gewinnern als Realität „verkauft“ wird, die in einer Krise nicht wieder bei Null beginnen müssen.

Kein Meister rettet den Zauberlehrling

Wir in Europa sollten uns einfach wieder an die paar Jahre Geschichtsunterricht in der Schule erinnern und daran denken, dass lauter Protest immer dann angemessen ist, wenn er der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Toleranz dient. Der Ruf nach einem starken Mann als Äußerung des Protests ist fatal. Die demokratisch gewählten Trump, Putin und Erdogan (es sind die markantesten Beispiele und die Liste könnte durchaus viel länger sein) sollten Mahnung genug sein.

Vielleicht ist der Wahlerfolg Trumps zumindest einigen Europäern eine Lehre, eine, die einen Wilders in den Niederlanden, eine Le Pen in Frankreich oder die unsäglichen Nein-ich-bin-kein-Nazi-aber-Verharmloser der AfD verhindern.

Political correctness heißt nicht, dass man sich in großen Koalitionen bis zum Tode kompromissbereit zeigt. Im Sinne der Grundrechte – der Menschenrechte – darf es keine Kompromisse geben. Das sollten auch jene Parteienvertreter und Kommentatoren wissen, die derzeit hoffen, dem Rechtsrutsch und den Rufen der „besorgten“ Bürger mit Thesen aus dem braunen Umfeld begegnen zu müssen. Mischt man einem Eimer mit roter oder schwarzer Farbe Braun hinzu, kann das Rot oder Schwarz hinterher nur schmutziger aussehen – eine nachträgliche Korrektur ist schwierig.

Ach, da kommt der Meister!
Herr, die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister
werd ich nun nicht los.

Das ist ein oft verwendetes und passendes Zitat, doch wir sollten nicht zu fest damit rechnen, dass den politischen Zauberlehrlingen im Parlament und auf der Straße mitten im größten Schlamassel Goethes Meister zu Hilfe kommt.

Populisten verbreiten keinen Spaß

Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass „Die Zeit“ kurz vor dem Jahresende in ihrer 52. Ausgabe an ein Jubiläum erinnert hat, das mir sehr am Herzen liegt. Zugegebenermaßen etwas uninspiriert – aber immerhin – erinnert die Wochenzeitung in ihrem Feuilleton an das vor 500 Jahren erschienene Werk „Utopia“ des Thomas Morus. Nun ist es sicher keine Binsenweisheit, dass „Die Zeit“ unter den „Lügenpresse“ skandierenden „besorgten“ Bürgern kaum Käufer findet, doch halte ich es für ein gutes Zeichen, dass überhaupt eine Zeitung an dieses Thema erinnert. Die Gegenwart verlangt angesichts der von den Populisten unterstützten und in ihrem Sinne verwendeten Schreckensbildern nach einer Wiederkehr der Utopie, der Vorstellung davon, wie Gesellschaft besser, gerechter und friedlicher funktionieren kann. Populisten nutzen die Ziel- und Bilderlosigkeit einer Gesellschaft rücksichtslos und leider sehr erfolgreich aus.

Wer meine hier zu findenden Beiträge zum Utopie-Thema kennt, der weiß, dass ich eine Utopie für ein Mittel halte, ein verständliches Bild von einer besseren Welt zu zeichnen, das sich anzustreben lohnt. Und um den üblichen Einwänden zu entgegnen: Niemals sollte davon ausgegangen werden, dass eine Utopie eins zu eins umgesetzt werden kann. Zu kompliziert ist diese Welt. Aber was nützt der Weg, wenn es kein Ziel gibt, das zu erreichen Spaß macht? Haben sie schon festgestellt, wie wenig Spaß die rechten Populisten verbreiten? Ihr Hass und der Wunsch nach Herrschaft und Abgrenzung ist kein wünschenswertes Bild einer friedlichen und freien Zukunft! Utopien können hingegen Optimismus und positives Handeln fördern. Sie erzählen nicht von einem religiös begründeten Totenreich, von keinem Paradies, für das man sterben muss, um hinein zu gelangen und für das bislang niemand eine wirklich nachweisbar gültige Eintrittkarte vorliegen konnte.

Der Geist der Utopie gehört in den Politik- und in den Wirschaftsteil der Zeitung

Wir müssen die Utopie nur wieder in unser Leben holen und darüber sprechen, ob die Menschen tatsächlich immer nur schlecht und korrupt sind, eine Idee von Gerechtigkeit zur Dystopie kippen. Dabei sieht man sich selbst doch immer auf der Seite der Guten. Was hindert uns „Gutmenschen“ also daran, die Utopien der historischen Autoren – nicht die Dystopien, mit denen sie oft verwechselt oder gleichgesetzt werden – zur Hand zu nehmen und selbst an einer neuen Utopie zu bauen? Mit etwas Engagement könnte der Geist der Utopien dann aus dem Feuilleton heraus sogar die Seiten der Politik und der Wirtschaft inspirieren, denn da gehört er hin.

Dieser Gedanke soll mein – wenn auch nur eine winzig kleiner – Hoffnungsschimmer auf ein besseres 2017 sein. Ein Schimmer, der auch auf dieser Internetpräsenz einst sichtbar werden soll. Spätestens dann wird die Facebook-Präsenz darunter leiden.

Hoffnung Utopie - Bild: ©Dirk Jürgensen - Düsseldorf

Bild: ©Dirk Jürgensen – Düsseldorf




Das Bilderbuch vom Rheinturm in Düsseldorf

Anregungen für einen Spaziergang

 von Dirk Jürgensen ...

Vor einigen Monaten habe ich einen kleinen Fotoband herausgebracht, in dem der Düsseldorfer Rheinturm zahlreiche Cameo-Auftritte hat. Cameo-Auftritte sind jene Überraschungsauftritte, die man meist vom großen Alfred Hitchcock in Erinnerung hat. Gut, man kann auch sagen, dass der Rheinturm auf den 64 Seiten des kleinenBandes die Hauptrolle spielt. Aber das wäre dem Ansatz meines Fotoprojekts nicht gerecht geworden, denn es geht darum, was dieses schlicht-schöne Bauwerk uns Düsseldorfern bedeutet und wie es uns täglich begegnet.

Rheinturm - Bild: ©Dirk Jürgensen - Düsseldorf

Rheinturm – Bild: ©Dirk Jürgensen – Düsseldorf

So ist diese Sammlung auf 64 Seiten eine Anregung für eigene Erkundungen geworden. Es lohnt sich, mit offenen Augen durch die Stadt zu gehen, ihre teils recht verborgenen schönen Seiten zu entdecken. Natürlich darf sie auch Besuchern der Stadt am Rhein einen Anlass zu Spaziergängen jenseits von Königsallee, Rheinpromenade und Altstadt liefern. Es ist schon spannend, wie viele Sichtachsen, Durchblicke und Einblicke immer wieder neu gefunden werden können. So kann auch ich nach Fertigstellung des Bandes immer wieder nur feststellen, dass ich noch ganz viele wichtige Ansichten übersehen habe.

Vermutlich könnte das Bilderbuch niemals komplett werden.

Das moderne Wahrzeichen einer modernen Stadt

Der Rheinturm ist innerhalb kürzester Zeit zu einem bedeutenden modernen Wahrzeichen der Landeshauptstadt Nordrhein-Westfalens geworden. Das liegt vermutlich an seiner Lage direkt am Rhein, vielleicht auch an seiner überaus schlichten Architektur und sein Korrespondieren mit der Düsseldorfer Brückenfamilie. Sicher lassen sich auch noch zahlreiche weitere Gründe finden, warum die Düsseldorfer ihn so mögen und Besuchern immer wieder die an ihm angebrachte Dezimaluhr erklären. Auf jeden Fall ist der Rheinturm ein Hinweis darauf, dass Düsseldorf eine sehr junge Großstadt ist und sich erst in Zeiten der Industrialisierung von einer beschaulichen preußischen Provinz-Verwaltung zu einer dynamischen Metropole verwandeln konnte.

Der kleine Band wird im Print-on-Demand-Verfahren hergestellt und ist über den stationären Buchhandel, wenn es nicht anders geht, auch über die Online-Händler wie Amazon zu beziehen.

Rheinturm – Cameoauftritte eines Düsseldorfer Wahrzeichens
ISBN: 978-3-741-28557-8
Format 21×21 cm
Preis (in Deutschland) 8,50€

Weitere Informationen zum Buch.




Düsseldorf, die reiche Stadt wird ärmer

Zum Ende einer Institution, dem Sternverlag

 von Dirk Jürgensen …

Noch nie hat mich die Nachricht über die bevorstehende Schließung eines Geschäfts so sehr wie diese geschockt. Das Ende des Sternverlags zum März 2016 bedeutet das Ende einer Düsseldorfer Institution, die das Leben vieler Menschen mitgeprägt und ein Leben lang begleitet hat. Brauchte man einst ein Buch, das der ebenfalls längst geschlossene kleine Buchhändler im Quartier nicht vorrätig hatte, lautete die unvermeidliche Frage: Warst du schon im Sternverlag?

Sternverlag - ©Foto: Jürgensen - Düsseldorf

Sternverlag – ©Foto: Jürgensen – Düsseldorf

Als die Schreibwarengeschäfte und Buchläden im Stadtteil schlossen, besorgte man die Schulbücher im Sternverlag. Jetzt, da ich längst keine Schulbücher mehr brauche, ist der Sternverlag immer die erste Anlaufstelle, wenn mir nicht einfällt, welches Buch ich denn verschenken oder selber lesen sollte. Eine ach so angesagte Mayersche, die nichts als ein großer Schnickschnackladen mit ein paar frontal präsentierten Bestsellern ist, kann all die Anregungen nicht bieten, die der Sternverlag bietet und leider bald bot. Und Amazon hat noch keine Möglichkeit gefunden, die Haptik eines Buches am Rechner zu simulieren.

Mit dem Sternverlag verliert Düsseldorf wieder einmal ein großes Stück seiner einst so markanten Einzelhandelsgeschichte. Ketten beherrschen auch in dieser Stadt den Markt und machen es völlig unerheblich, in welcher Stadt man sich gerade bewegt, um einzukaufen.

Der Sternverlag bedeutet die so notwendige Einzigartigkeit und ist hervorragend geeignet, Fremden und Neudüsseldorfern als Besonderheit präsentiert zu werden. Sucht man einen Laden, der Literatur nicht nur bestellt, weil er ein beschränktes Spezialsortiment oder nur die üblichen Vertreter verschiedener Bestsellerlisten vorrätig hat, sucht man einen Laden, weil man sein Buch eben nicht im Internet bestellen, es vor dem Kauf berühren und darin blättern möchte, hat man im Sternverlag eine große Chance fündig zu werden.

5000 Quadratmeter Verkaufsfläche sind für einen Buchhändler gigantisch, heutzutage kaum mit Gewinn zu bewirtschaften, dem Investorenwohl ein Graus. Die wirtschaftliche Vernunft schlägt auch hier einmal wieder zu. Die kulturelle Vernunft zählt nicht in der Gegenwart, sondern erst morgen – sie kommt in keinen Quartalszahlen vor. Vor Ablauf des nächsten Quartals ist der Laden zu.

Es geht nicht nur um den einen Buchhändler. Der Sternverlag ist für viele Düsseldorfer der einzige Grund, die Friedrichstraße aufzusuchen. Natürlich ist das ein Teil des Problems. Läge das Geschäft auf der viel stärker frequentierten Schadowstraße, sähe die Geschichte wahrscheinlich anders aus. Unweigerlich wird die Schließung des Sternverlags weitere Schließungen nach sich ziehen, weil der Straße der Leuchtturm verloren geht. Im kommenden Jahr wird diese Entwicklung dramatisch, da die Straßenbahn unter die Erde verlegt wird und somit kein Sichtkontakt nach draußen mehr besteht, der Spontanausstiege möglich macht.

Das ist der Lauf der Zeit. Das muss man hinnehmen. Die Stadt verändert sich, wie sich auch die Einzelhandelsstruktur verändert. So sprechen die „Vernünftigen“ unter uns. Doch ist es immer wieder eine Schande, wenn die Zukunft ärmer und langweiliger als die Gegenwart wird. Das sollte man dann doch nicht immer so einfach hinnehmen.

Im niederländischen Maastricht führen die Mitarbeiter einen der schönsten Buchläden Europas, der dennoch von der Schließung bedroht war, mit Erfolg weiter. Sie konnten ihn über eine Crowndfounding-Aktion retten. Schade, dass die Utopie bei uns einen so schlechten Ruf hat.

Würde sich in Düsseldorf eine ähnliche Initiative gründen, wäre ich sofort dabei!




Gotteskrieger? Nichts für mich.

Also, Gott, wie ist das jetzt mit Deiner Macht?

 von Dirk Jürgensen …

Wenn ein Gott von mir verlangte, seine Drecksarbeit zu übernehmen, indem ich Ungläubige töten oder versklaven sollte, um seine Herrschaft zu manifestieren oder sein beleidigtes Ego zu verteidigen, würde ich mich sofort vom Glauben an seine Göttlichkeit lossprechen.

Gott - © Foto: Jürgensen - Düsseldorf

… oder auch nicht. – ©Foto: Jürgensen – Düsseldorf

Wer ein Gott ist, der muss nichts delegieren, der kann mir und dem Rest der Menschheit seine göttliche Macht gefälligst persönlich glaubhaft demonstrieren. Er könnte zum Beispiel den, wie seine Jünger immer wieder vorgeben, von ihm geschaffenen Menschen in ein friedfertiges, in ein freies und tolerantes Wesen verwandeln. Er müsste ihm beibringen können, vernünftig und in Gerechtigkeit mit seinen Artgenossen zusammen zu leben und es wäre ihm aufgrund seiner Einzigartigkeit, seiner Güte und Souveränität gar nicht so wichtig, dass an ihn geglaubt wird. Was könnte ihn der menschliche Zweifel kratzen? Da stünde ein echter Gott drüber. Soviel Selbstbewusstsein müsste er doch besitzen; als Gott müsste er das wirklich hinbekommen. Er müsste es schaffen, aus Glauben Wissen zu machen, jene beiden Worte, deren Verwechslung die Religionen so gerne im Sinne ihrer gepachteten Wahrheit zelebrieren. Und wenn nicht, ja, was ist er dann anderes als ein Schaumschläger, an den zu glauben reine Verschwendung ist? Für ihn würde ich meine Hände nicht schmutzig machen und meine humanistischen Werte verraten.

Also, Gott, wie ist das jetzt mit Deiner Macht? Gehst Du jetzt endlich mal gegen die Mörder vor, die in Deinem Namen ihren Mist verzapfen und von Weltherrschaft träumen? Und vergiss dabei nicht all die Nazis und andere idiotischen Verbrecher und verbrecherische Idioten, die Deine ganze Schöpfung versauen.

Wie wäre es also jetzt endlich einmal mit einem Gottesbeweis, mit einem klaren Nachweis, dass Du gar keine Reservierungen für ein Paradies entgegen nimmst, dass die Sache mit den 40 Jungfrauen ein Einfall von Menschen ist?

Viel Zeit gebe ich Dir dazu nicht mehr, denn Du hast schonzu lange gewartet und ich fürchte, wir Menschen müssen den Mist ohne göttliche Hilfe wieder in die Reihe kriegen. Irgendwie.

Beten wird aufgrund der weiter zu erwartenden göttlichen Passivität wenig helfen. Gebete mögen dem Einzelnen vielleicht Trost schenken, ihn beruhigen. Der Nutzen ist allgemein allerdings gering, wenn man bedenkt, dass auch die religiös motivierten Terroristen vor ihrer Tat – wenn sie noch leben sollten, auch danach – beten. Lebensfreude hingegen, ist das, was den religiösen oder nationalistischen Fanatikern dieser Welt abgeht – und ihrer Ideologie schadet. So gehören Lebensfreude und Humor, jene wirklichen Beweise des Menschseins, unbedingt im Kampf gegen die Angst, die Dummheit, den Terror, den Faschismus, den Nationalismus und den religiösem Fundamentalismus jeder Couleur dazu. Aber das ist unser Problem.

Sicher wird es auch nach dem hoffentlich irgendwann gewonnenen Kampf immer wieder Menschen geben, die sich von einem Gott oder von ihren Überzeugungen verpflichtet fühlen, die Drecksarbeit zu erledigen. Ob es ein Anders Brevik oder die ISIS-Fanatiker in Paris sind, sie alle glauben und glauben zu wissen im Guten und im Dienste einer besseren Welt eine Drecksarbeit erledigt zu haben. Vermutlich helfen Medikamente in diesen Fällen mehr als jede Überzeugungsarbeit, aber für alle nicht so pathologischen Fälle hilft es, früh genug über die Frage nachzudenken, ob ein gerechter oder auch zorniger Gott, nicht auch ohne sie zurechtkommen kann und ein echter Gott keine Missionare braucht.




Der Berg liest

Ein Ausflug nach Wuppertal

Wenn Düsseldorfer einen Ausflug nach Wuppertal planen, haben sie zwei Dinge im Sinn. Erstens möchten sie mit der Schwebebahn fahren und zweitens den Zoo besuchen. Oder umgekehrt. Ein Wuppertaler wird ganz sicher noch zahlreiche andere Attraktionen seiner Heimatstadt aufzählen können, doch auch ohne Aufzählung kommt nun eine dritte Sache hinzu, die Düsseldorfer nicht verpassen möchten, an der sie sogar aktiv teilnehmen werden:

Der-Berg-liest-2015_Plakat_webAm 27. September 2015 findet in der Nordstadt Elberfeld die dritte Ausgabe des Lesefestivals „Der Berg liest“ statt und wenn der Erfolg nur annähernd so groß wie bei die zweite Ausgabe 2013 mit 211 Lesungen an über 80 verschiedenen Orten wird, wird sich die Reise ins Bergische auch in diesem Jahr lohnen.

Wir, Maria (alias Marie van Bilk) und Dirk Jürgensen sind diese Düsseldorfer, die den Leseberg mit einer ganzen Reihe eigener Texte besteigen möchten und haben sich dafür den Hinterhof der Marienstraße 89 ausgesucht. Bei schlechtem Wetter, so wird gemunkelt, kann in den Hausflur gewechselt werden. Von 16 bis 17 Uhr werden die grandiosen Ralph Beyer und Michael Schumacher diesen Ort bespielen, bis dann ab 17 Uhr die eben erwähnten Jürgensens eine Auswahl ihrer eigenen Texte den hoffentlich zahlreichen Ohrenpaaren präsentieren werden.

Zusammengefasst:

Der Berg liest, die Jürgensens auch.

Am 27. September 2015.

Von 16 bis 19 Uhr im Hinterhof der Marienstraße 89 in 42105 Wuppertal-Elberfeld.

Der Eintritt ist kostenlos und der Zugang frei, bis der Hof voll ist.

Weitere Informationen zum Lesefestival, das ganze Programm und Karte mit allen Schauplätzen gibt es hier.




Das Eiland als Anregungswert für neue Utopien

Wir brauchen Utopien – Teil 8

 von Dirk Jürgensen ...

Den Namen Aldous Huxley verbinden wir fast automatisch mit seiner 1932 erschienenen Dystopie „Schöne neue Welt“, die in Deutschland zuerst unter dem Titel „Welt – wohin?“ erschien, der in seiner Fragestellung die Gefahr des damals bereits existierenden Stalinismus und des immer stärker werdenden Faschismus kurzgefasst implizierte. Neben George Orwells Roman „1984“ aus dem Jahr 1949 mit einen vermeintlich sozialistischen Staat, der sich als diktatorischer, als totalitärer Eiland - Aldous Huxley - PiperPräventions- und Überwachungsstaat zeigt, ist Huxleys „Schöne neue Welt“ noch immer und besonders wieder in unseren Tagen die vermutlich maßgeblichste literarische Sicht auf eine leider gar nicht so unwahrscheinliche Zukunft.

Nahezu vergessen wurde, dass Huxley 1962 – kurz vor seinem Tod – mit der Utopie „Eiland“ ein positives Gegenstück, einen optimistisch stimmenden Gegenentwurf einer solidarischen, gewaltfreien und freiheitlichen Gesellschaft einer tropischen Insel namens Pala erfand.

Während er die „Schöne neue Welt“ in einer recht fernen Zukunft des Jahres 632

A.F. In Anspielung auf A.D. , Anno Domini = im Jahre des Herrn, also „nach Christus“ bedeutet A.F. „Anno Fordii“ bzw. „After Ford“ = nach (Henry) Ford. Als Bezugspunkt dient das Jahr 1908, als das erste T-Modell vom Band lief.
ansiedelte, ist Pala der in allen Belangen exotische Teil einer ansonsten unzulänglichen Gegenwart. In all seiner Bescheidenheit, seiner Friedfertigkeit und positiven Abgrenzung zu den ansonsten allmächtigen Marktmächten einer globalisierten Ökonomie, wird Pala – hier kann Huxley die gewissermaßen dystopische Realität nicht außen vor lassen – aufgrund der vorhandenen Ölvorkommen von der benachbarten Militärdiktatur und mit ihr von interessierten Konzernen bedroht und am Ende auch ohne Gegenwehr besiegt.

Günter Blöcker schrieb 1973 in seiner Rezension für die F.A.Z.:

Thematisch und erzähltechnisch ist damit ein konkreter Bezugspunkt geschaffen, der den Inseltraum davor bewahrt, allzu romantisch-irreale Züge anzunehmen. Diese Gefahr besteht. Die farbenprächtige exotische Kulisse trägt ebenso dazu bei wie die für abendländische Gemüter eher realitätsferne Heilsmixtur aus diversen fernöstlichen Lebenslehren. Pala ist die Summe all der Rezepte für ein sinnvolles, erfülltes Erdenwallen, die Huxley seinen Lesern seit der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre unermüdlich anbietet. Die Stichworte sind bekannt, Kontemplation, Selbsttranszendenz, Yoga des täglichen Lebens, das große Gewahrsein, das helle Licht der Leere,

die Loslösung vom kleinen, eigensüchtigen Ich. Dazu ein wenig Kibbuz-Ideologie und die den Himmel auf die Erde herabgaukelnde Droge, die hier Moksha-Medizin heißt, die „Pille der Wahrheit und Schönheit“, die „Wirklichkeits-Enthüllerin“. Alles dies wird in großer Ausführlichkeit vor den Augen eines zunächst skeptischen, dann mehr und mehr überzeugten Reporters aus dem Westen demonstriert und dargelegt – weder Essay noch Roman, sondern ein utopischer Bilderbogen, der Kolportage-Elemente sowenig verschmäht wie die Mittel der lehrhaften Gleichniserzählung oder den dialogisierten Leitartikel.

Weiter schreibt er:

Wenn Ernst Bloch im Hinblick auf „Brave new World“ meinte, der „Individual-Agitator“ Huxley sei „nur noch zu Hoffnungsmord und Anti-Utopie fähig“, so hat Huxley mit seinem letzten Buch den Gegenbeweis angetreten.

und an anderer Stelle:

Man tut gut daran, sich nicht durch seine offenkundigen Schwächen irritieren zu lassen, sondern sich an seinen Anregungswert zu halten, an den utopischen Geist mehr als an den Buchstaben der Utopie.

Gerade dieser „Anregungswert“ ist es, der in unseren Tagen Utopien wo wichtig und wünschenswert macht. Die Menschen spüren, dass die globalen kapitalistischen Mechanismen, die beinahe uneingeschränkte Herrschaft der Märkte, die einer Minderheit Reichtum und der globalen Mehrheit Armut bringt, nicht der Weisheit letzter Schluss sein kann. Wie beispielsweise die Griechen anlässlich ihres Referendums zur „alternativlosen“ Sparpolitik beispielsweise mit ihrem Oxi ihre Hoffnung auf die Utopie eines anderen Europas äußerten, sollten sich die Denker, die Literaten und Wissenschaftler aller Disziplinen aufgerufen fühlen, endlich wieder Bilder einer besseren Zukunft zu schaffen, die der globalen Gesellschaft mehr als eines neues und besseres(?) Smartphones bietet. Ohne den „Anregungswert“ einer Utopie wird die Zukunft zu sehr den Technokraten und ökonomischen Egoisten überlassen.

Einen besonders intensiven Einblick in Huxleys Utopie „Eiland“ bietet mit einigen Hörspieleinlagen ein dreißigminütiger Beitrag des ORF aus dem Jahr 1977, der in der österreichischen Mediathek abzurufen ist.

Eiland“ von Aldous Huxley ist derzeit als Taschenbuchausgabe aus dem Piper-Verlag bei jedem lokalen Buchhändler kurzfristig verfügbar.




Ein solcher Bau steht normalerweise 200 Jahre

Ein Rückblick auf den erfolglosen Kampf um den Düsseldorfer Tausendfüßler

 von Dirk Jürgensen ...

Die Debatte um den Abriss der von den Düsseldorfern liebevoll „Tausendfüßler“ genannten Hochstraße ist ein bedenkliches Kapitel der jüngeren Stadtgeschichte. Die Art und Weise, wie die Bürger vor vollendete Tatsachen gestellt und wie standhaft ihre Einwände und vielfach konstruktiven Gegenvorschläge ignoriert wurden, ist ein Musterbeispiel dafür, wie man die allgemein beklagte Politkverdrossenheit manifestiert. Parallelen zu „Stuttgart 21“ und Bilder von der Arroganz der Macht sind unverkennbar.

Der Düsseldorfer Tausendfüßler – Die Auseinandersetzung um den Erhalt der Hochstraße und um die Kö-Bogen-Planung

Der Düsseldorfer Tausendfüßler

Der Tausendfüßler war ein Baudenkmal, ein Teil eines Ensembles mit dem Dreischeibenhochhaus, dem Schauspielhaus und dem angrenzenden Hofgarten, das die an klassischen Altertümern arme Stadt in ihrem Kern als moderne und aufstrebende Stadt prägte und bekannt machte. Dieses Ensemble ist nicht mehr vollständig und aus den Wirren der noch auf Jahre dominierenden Großbaustelle treten nach und nach riesige Tunnelrampen ins Blickfeld, die stark daran zweifeln lassen, dass die Befürworter des Abrisses Recht behalten werden.

Est stimmt zeitweise traurig, mit seinem Protest und den anderen Vorstellungen von einer Aufwertung der Düsseldorfer Stadtmitte richtig gelegen zu haben. Ein Triumph sieht jedenfalls anders aus. Und um nicht all das selbst Erlebte aus der Amtszeit der Oberbürgermeister Joachim Erwin und Dirk Elbers (beide CDU) aufführen zu müssen, möchte ich all jenen Menschen ein Buch ans Herz legen, die wissen möchten, wie eine bürgerferne und bezüglich der Folgekosten unvernünftige städtische Baupolitik aussieht und wie sie leider von Erfolg [sic!] gekrönt sein kann.

Der Düsseldorfer Tausendfüßler – Die Auseinandersetzung um den Erhalt der Hochstraße und um die Kö-Bogen-Planung

Die Herausgeber Manfred Droste und Hagen Fischer haben in akribischer Kleinarbeit eine umfangreiche Dokumentation zusammengestellt, die all die Informationen von der Zeit der Planung und dem Bau des Tausendfüßlers, zu seiner Ästhetik, seiner bis in die letzten Tagen tadellosen Funktionalität über den fragwürdig abgelaufenen Verkauf des ihm anliegenden Jan-Wellem-Platzes und der sehr stückweisen Neuplanung seines innerstädtischen Umfelds bis zu seinem endgültigen Abriss aufführt.

Aus der Sitzung des Düsseldorfer Stadtrats am 5. Mai 1960, als der Bau der Hochstraße beschlossen wurde, eine kurze Passage zitieren, in der vom damaligen obersten Stadtplaner Friedrich Tamms die heute oft geäußerte Behauptung eindeutig widerlegt wird, der Tausendfüßler sei nur ein Provisorium gewesen:

Ratsherr Schulhoff (CDU): „Ich habe nur eine Frage, Herr Professor Tamms, die Sie nicht beantwortet haben. Sie wurden gefragt, wie lange die Hochstraße stehen wird. Darauf haben Sie gesagt: Die Hochstraße steht solange sie steht. Das ist nicht exakt. Sie müssen doch über die Lebensdauer etwas sagen können.“ (Starke Unruhe – Zwischengespräche)
Beigeordneter Professor Tamms: „Ein solcher Bau steht normalerweise 200 Jahre.“

Im Folgenden hält uns das Buch die ausführliche gutachterliche Stellungnahme zum Denkmalwert des Bauwerks von Axel Föhl (LVR-Amt für Denkmalpflege im Rheinland) aus dem Jahr 1991 bereit. Sie ist außerordentlich aufschlussreich und beinahe spannend zu lesen. Man möchte fast bedauern, dass sie in der Zeit der Abrissdiskussionen nicht als Mehrteiler in den Düsseldorfer Tageszeitungen erschien. Sie ist selbst für einen Laien beinahe spannend zu lesen und zeigt sehr detailliert, wie intensiv und ohne zu sparen an der grazilen Form des Tausendfüßlers geplant und wie sorgfältig die Bauausführung erfolgte. Nur ein Zitat daraus:

Für die Erhaltung der Hochstraße Jan-Wellem-Platz liegen künstlerische, wissenschaftliche und städtebauliche Gründe vor. Die Gestaltungsqualtät des Brückenbauwerks hebt sich mit der Leichtigkeit ihrer Formgebung (ihrer „Entmaterialisierung“, um den Begriff Tamms aufzugreifen) wie der Eleganz im Grundriss, Aufriss und Querschnitt, mit ihren „kontinuierlich geführten Kurven höherer Grade“, ihrer einfach und doppelt sinusförmig geschwungenen Untersicht und ihrer geringen Bauhöhe von dem Gros der gleichzeitig, aber auch später ausgeführten innerstädtischen Hochstraßen positiv ab.

Es ist wirklich eine Schande, dass man diese Sicht der Dinge niemandem mehr am Objekt vorführen kann.
Lore Lorentz sagte einmal:

Düsseldorf hat eine Stärke: Kein Dom überragt die Gegenwart.
Ihre Schwäche: Sie weiß nicht, daß es ihre Stärke ist.

Dieses schwierige und einen voreiligen Abriss fördernde Verhältnis Düsseldorfs zu seiner eben nur aus Bausünden bestehenden Moderne könnte man nicht besser beschreiben. Baudenkmäler benötigen Zeit, um allgemeine Wertschätzung erfahren zu können. Uns Düsseldorfern fehlt es wohl an der nötigen Geduld.
So wird die hier beschriebene Dokumentation die Fehler der Vergangenheit nicht mehr korrigieren können, aber vielleicht kann sie helfen, in Düsseldorf und anderswo demnächst weniger solcher Fehler zu begehen und vor einem Abriss zu überlegen, was eine attraktive, eine lebenswerte und individuelle Stadt zwischen den vielerorts zu beklagenden Normbauten ausmacht.


 

Der Düsseldorfer Tausendfüßler – Die Auseinandersetzung um den Erhalt der Hochstraße und um die Kö-Bogen-Planung
Manfred Droste und Hagen Fischer (Herausgeber)
erschienen beim Droste-Verlag in Düsseldorfer
ISBN 978-3-7700-6000-9
19,80 € (D)


Mehr zum Thema:

Der große Pan ist tot

Abschied vom Tausendfüßler

Zwei Netzfundstücke zum Thema:

Die Rettung des Tausendfüßlers ist noch möglich! – Scissorella

Tausendfüßler. 1962 – 2013. Düsseldorf verabschiedet sich von der Moderne. – Scissorella




Brian Fies und auch wir träumten von der Zukunft

Wir brauchen Utopien – Teil 7

 von Dirk Jürgensen ...

Und wir träumten von der Zukunft – Eine Geschichte von Hoffnung und Wandel von Brian Fies

„Und wir träumten von der Zukunft“ von Brian Fies

Kennen sie das? Man besucht einen antiquarischen

Hier handelte es sich um die mehrmals im Jahr stattfindende Büchermeile auf der Düsseldorfer Rheinpromenade.
, schaut in das Vorwort eines Buches – oder liest dessen erste paar Zeilen – und meint, mit dem Autor auf einer Wellenlänge zu sein, vielleicht den gleichen Geburtsjahrgang sein Eigen zu nennen? So ist es mir mit der bei Knesebeck erschienenen Graphic Novel „Und wir träumten von der Zukunft“ des amerikanischen Sachbuch- und Comic-Autors Brian Fies ergangen.

Nach nur wenigen Sätzen war mir klar, dass mein wiederholtes Klagen über das Fehlen neuer Utopien einen Unterstützer gefunden hat.

1970 war ich zwölf Jahre alt. Die technische Entwicklung zwischen Industrie, Privatleben und Raumfahrt machte riesige Schritte. Im Jahr 2000 würden saubere [sic!] Atom-Autos lautlos über die Straßen gleiten, der Mond wäre ein erschwingliches touristische Ziel geworden und aufgrund der technisch bedingten Rationalisierung in Industrie und Verwaltung nach der enorm gestiegenen Produktivität die wöchentliche Arbeitszeit für den Einzelnen rapide gesunken. Im Alter von vielleicht 45 Jahren würde ein spannendes Rentnerleben beginnen, das die Computer beziehungsweise Roboter mit ihrem Fleiß locker finanzierten. Wer hätte schon erwarten können, dass die technische Entwicklung nur wenige Gewinner hervor brächte und gesellschaftlich eher kontraproduktiv verliefe? Ich bin mir sicher, dass 1970 die Prophezeiung, man würde im Jahr 2015 im Schnitt noch immer acht Stunden am Tag arbeiten und das Renteneintrittsalter auf 67 verschieben, mit verständnislosem Kopfschütteln oder einem lauten Lacher kommentiert worden.

Brian Fies schreibt in seinem eben erwähnten Vorwort:

Als die Zeitschrift Popular Science zur Jahrtausendwende nach den versprochenen Flugautos fragte, war das ein Witz, aber einer, der den Finger in die Wunde eines nicht gehaltenen Versprechens legte. Irgendwo war und unterwegs etwas verloren gegangen. Als die düsteren, unbeabsichtigten Folgen der Welt von morgen sichtbar wurden, erschien die Grundidee der hoffnungsfrohen Zukunft, auf die hinzuarbeiten sich lohnte, plötzlich altmodisch und naiv. Einstige Helden wurden zu Bösewichtern, Optimismus war etwas für Trottel; die cleveren, coolen, zynischen Zeitgenossen setzten ihre Karten nun auf das dystopische Schicksal. Ich bin anderer Meinung.

Nach dieser eindeutigen Standortbestimmung im Sinne seines optimistisch-utopischen Denkens beginnt die Geschichte von Buddy und seinem Vater mit einem Besuch der Weltausstellung 1939 in New York, findet Zwischenstationen 1945 mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, den Facetten des Atomzeitalters 1955, der bemannten Raumfahrt um 1965 und wird mit dem Apollo-Sojus-Projekt 1975 enden.

Fies lässt seine Protagonisten in all den Dekaden nicht realzeitkonform, sondern stark verlangsamt altern. Der 1939 von der Präsentation der endlosen technischen Möglichkeiten beeindruckte Junge, wird erst zum Ende der Geschichte erwachsen sein. Er wird bis dahin von einem Comic-Helden namens Cap Crater und dessen Gehilfen Cosmic Kid – Buddys Alter Ego – im Kampf gegen den immer wieder zeitgemäßen Bösewicht Xandra begleitet. Fies gestaltet dies bezüglich des jeweiligen Zeitgeistes stilistisch – in der vorliegenden gebundenen Ausgabe sogar haptisch – authentisch wirkenden Comic-Einschüben.

Mit dem Erwachsenwerden Buddys, seiner Entfremdung vom Glauben seines Vaters an den American Way of Life und der Ernüchterung bezüglich der nicht eingetroffenen Utopien, endet auch die Comic-Serie um Cap Crater, der seinen Ruhestand auf dem stillen Mond verbringen will. Am Ende sieht man Buddy mit seiner kleinen Tochter, die die alten Geschichten mit einem kleinen 3D-Beamer zu neuem Leben erweckt und die Resignation mit einem etwas zu amerikanisch-pathetischen Blick in eine wunderbare interstellare Zukunft des Menschen fortgewischt wird. Dies ist in kleiner Schwachpunkt dieser ansonsten hochinteressanten Graphic Novel, denn Fies bleibt uns die Erklärung schuldig, woher er seinen Optimismus nimmt. Allein das Lesen und Erzählen utopischer Geschichten kann ihn nicht begründen. Oder doch?


Und wir träumten von der Zukunft – Eine Geschichte von Hoffnung und Wandel

ISBN: 978-3-868-73150-7

von Brian Fies – erschienen im Knesebeck-Verlag, bei dem das Buch inzwischen vergriffen ist.

Fragen Sie Ihren örtlichen Antiquar!


Der in Kalifornien lebende Brian Fies wurde durch sein zunächst als Web-Comic erschienenes Buch „Mutter hat Krebs“ weltbekannt. Er beschäftigte sich in dieser Graphic Novel mit der Geschichte der Krebserkrankung seiner Mutter. Fies hat dafür 2005 den Eisner Award for Best Digital Comic, 2007 den Harvey Award und 2008 den Deutschen Jugendliteraturpreis erhalten.