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2014 – Freie Bahn den Bekloppten!

von Dirk Jürgensen ...

Ein Jahresrückblick auf ein rückwärtiges 2014

2014, das Jahr der Bekloppten - Foto: © Jürgensen - Düsseldorf

Foto: © Jürgensen – Düsseldorf

– Der Jahresrückblick auf das nun auslaufende Jahr 2014 fällt recht kurz aus: Demokratien wie Diktaturen haben sich weltweit darauf geeinigt, zwischen Nationalismus, religiösem Fanatismus und Marktradikalität angesiedelten Bekloppten alle Freiheiten zu gewähren. Kein Zeitgenosse wird sich an mehr Krisenherde oder gar Kriege erinnern können, was nicht allein an der größeren Durchdringung unseres Bewusstseins durch weltweite Nachrichten liegt. Vernunft ist nur noch das Leitbild einer schweigenden Mehrheit – oder gar Minderheit? Man weiß es nicht, denn schweigend degeneriert jede Mehrheit zu Minderheit. Auch in diesem Sinne war 2014 zu großen Teilen ein Jahr der Rückwärtsbewegung.

Eine auszugsweise Auflistung der Beklopptheiten:

  • Den Islamischen Staat ausrufende Dumpfbacken mit Minderwertigkeitskomplex errichten eine mittelalterliche Macho-Gewaltherrschaft, die anhand ihrer in Echtzeit und 3D gerenderten Grafikleistung jeden Ego-Shooter zum Märchenquartett schrumpfen lässt. Religion ist zu einer Phantasy-Orgie mutiert, in deren höchsten Level dem Gewinner 72 Jungfrauen versprochen werden. Ob der Hersteller des Spiels das wirklich liefern kann?

  • Wer aufgrund dieser Idiotie einmal mehr den Untergang des hiesigen Abendlandes befürchtet, schließt sich der

    Selbstverständlich weiß der Autor, dass Vokuhila die Abkürzung für eine seltsame Haarmode aus den Achtzigern ist. Er hat sich sehr bewusst für die Verwechslung mit der lokal etwas variierenden „Bürgerbewegung“ entschieden, um dieser keine weitere Popularität zu verschaffen.
    oder einer ähnlich umständlich abgekürzten und von Neonazis gesteuerten Initiative an, um seine Fremdenängste endlich auf der Straße ausleben zu können. Man bezeichnet sich als „bürgerliche Mitte“, trägt seinen braunen Kern endlich wieder offen, will kein Nazi sein, hat nichts gegen Ausländer, aber… Verschwiegen wird in all der Angstdemonstration, dass die Opfer der islamistischen Gewalt in der Mehrzahl Muslime sind. Doch übersehen wir nicht den einen Vorteil dieser fragwürdigen Protestbewegung: Endlich braucht der gepflegte Hooligan keinen Bundesligaspielplan mehr zur Terminierung seiner Freizeitaktivitäten.

  • Wer in der Ostukraine und drumherum ein Friedensengel, ein Faschist oder relativ harmloser Nationalist oder gar Freiheitskämpfer ist, was Schwärmerei von den vermeintlichen Vorzügen einer untergegangenen UdSSR ist bei einem inzwischen ultrakapitalistischen und nationalistischen Russlands ist und welche von den Massenmedien verbreitete Nachrichten Demagogie oder oder einigermaßen ungefärbte Neutralität darstellen, interessiert nicht mehr. Wenn beide Seiten lügen, wird bestenfalls weggehört.

  • Der Nahostkonflikt, der Nahostkonflikt. Der ist irgendwie immer da und immer gleich. Ob man nun die Seite der Palästinenser oder die der Israelis unterstützen oder verurteilen mag, ist inzwischen relativ unbedeutend. Zu sehr sind auf beiden Seiten die vernünftigen Kräfte ge- oder verschwunden. Allerdings scheint es in der Region trotz der Dauer des Konflikts noch Waffen, Sprengstoff und Menschenmaterial in ausreichender Menge zu geben, wie es zu meinem Erstaunen auch noch genügend zu zerstörende Wohnhäuser zu geben scheint. Da die jeweiligen Bevölkerungen ihre Wahlzettel immer radikaleren Gruppierungen widmen, werden noch ein paar Generationen über den Nahostkonflikt diskutieren dürfen. Das Gebiet ist ein wunderbares Biotop, in dem studiert werden kann, dass Menschen, die keinen anderen als den Kriegszustand kennen, nicht unbedingt die Motivation zum Frieden entwickeln.

  • Als die Bürger der USA einen afroamerikanischen Präsidenten wählten, schien der Rassismus endlich besiegt, höchstens noch in den Köpfen einer zu vernachlässigenden Minderheit vorhanden. Nun erlebt das Land Proteste und Unruhen wie schon lange nicht mehr, denn das Land der Freien muss erkennen, wie der latente Rassismus in Polizei und Justiz anhand der Todesopfer jüngster Zeit nach außen tritt. Wäre die Waffenlobby nicht derart im Konservativen verwurzelt, würden sicher jetzt perfide Parolen laut werden, nach dem beispielsweise der 18-jährige Michael Brown noch leben könnte, wenn er denn im Besitz einer Handfeuerwaffe gewesen wäre, um sich gegen den Polizisten zu wehren. Ein bekloppter Gedanke, von dem sich der Autor sofort distanzieren möchte.

  • Europa war einst ein großes Ziel. Etwas ist schief gelaufen. Inzwischen wird Europa als bürokratische, nicht als demokratische Einheit wahrgenommen. Die Bevorzugung von Wirtschaftsinteressen behindert die gesellschaftliche Entwicklung und wir lassen uns ständig mit Arbeitsplatzkeulen bedrohen und von Heiligsprechungen eines allgegenwärtigen Marktes blenden. Der europäische Geist erscheint hingegen viel zu selten und separatistische Gedanken, nationalistische Idealbilder geben längst überwunden geglaubte Alternativen vor. Europagegner werden im Parlament Europas immer mehr und fördern den Zersetzungsprozess. Anstatt nun im Gegenzug Europa voranzubringen, kümmert sich die von den Wählern kaum noch geforderte Politikkaste weiter für die Interessen der Interessenverbände. Die Lobbyisten kümmern sich wenigstens noch um Politik. Die Demokratie muss aufpassen, dass die Lethargie nicht zur Agonie wird.

  • In Japan, einem Land, das es besser wissen müsste, soll 2015 der stillgelegter Atommeiler Sendai wieder hochgefahren werden. So hat es die Präfektur Kagoshima trotz zahlreicher Protesten aus der Bevölkerung mehrheitlich entschieden. Nur 70 km vom Standort des Kraftwerks entfernt befindet sich der aktive Vulkan Sakurjima. Schön bekloppt, sollte man meinen. Fast so bekloppt wie die Briten, die ihr neues Kernkaftwerk Hinkley Point in Somerset 35 Jahre lang subventionieren werden und dafür auch noch die Freigabe der EU erhalten haben. Zur Begründung der Genehmigung schreibt die deutsch Vertretung der EU-Kommission auf ihrer Homepage: „Im Verlauf der der eingehenden Unetersuchung konnten die britischen Behörden nachweisen, dass mit der Beihilfemaßnahme ein echtes Marktversagen behoben wird, und die anfänglichen Zweifel der Kommission ausräumen. Insbesondere könnten die Projektträger aufgrund der beispiellosen Art und Tragweite des Projekts nicht die erforderlichen Finanzmittel beschaffen.“ Da reagiert der Markt ausnahmsweise einmal richtig, wird ihm ein Versagen unterstellt. So einfach geht das in einer Lobbykratie. Was nach den 35 Jahren sein wird und wer die unermesslichen Kosten nach der Stilllegung – wenn keine Katastrophe die Laufzeit verkürzt – in 60 Jahren tragen wird, ist leicht zu erraten. Es wird vermutlich nicht der Betreiber sein (können). Auch in diesem Sinne wird dann wieder der Markt versagen.

  • Wenn auch viele innenpolitische Themen zwischen PKW-Maut und dem geduldeten Herausmogeln aus dem sozialen Netz die allgemeine Beklopptheit begründen könnten, darf das Ebolafieber auch in diesem Jahresrückblick nicht fehlen. Seit 1976 ist es bekannt, als im damaligen Zaire, der heutigen Demokratischen Republik Kongo, 280 Menschen an ihm starben. Zwischendurch tauchte der Erreger immer wieder auf und ließ in Afrika immer wieder Menschen sterben, bis er 2014 dann zum großen Schlag ausholte und Menschen in Guinea, Liberia, Sierra Leone, Nigeria, dem Senegal, der Demokratischen Republik Kongo und Mali befiel. Als dann auch noch Infizierte in die USA und nach Spanien reisten, wurde die Sache auch für uns brenzlig. Schließlich hielt sich das Virus bislang an die kontinentalen Grenzen Afrikas, einem ökonomisch – und daher menschlich – eher unergiebigen Erdteil. Viren sind clever. Würden sie ihre Wirte vornehmlich in den USA oder in Europa dahinraffen, hätte die Pharma-Industrie längst genügend Pillen oder Spritzen im Angebot. Wer zahlen kann, dem wird geholfen. Solidarität ist ein Begriff längst vergangener Zeiten und auf den Märkten hinderlich.

Wenn sich Fortschritt weiterhin technisch anhand einer höheren Auflösung in der Bilddarstellung eines Handy-Displays definiert und nicht gesellschaftlich durch wachsende Freiheit und Gerechtigkeit, wird 2015 ebenso nach hinten losgehen. Wir werden Regierungen wählen, die uns schaden, wir werden aktiv oder passiv Entwicklungen unterstützen, die wir nicht wollen und wir werden uns von Unternehmen und Staaten aushorchen lassen, weil alles so unüberschaubar und irgendwie bequem ist. Die Bekloppten dieser Welt freuen sich darüber und haben weiterhin freie Bahn. 2014 dürfte ihnen Mut gemacht haben und da hilft es auch nichts, dass ganz Deutschland Fußball-Weltmeister geworden ist.




Das vergoldete Zeitalter – Eine Geschichte von heute

von Dirk Jürgensen ...

Die erste deutschsprachige Ausgabe seit 1876

Das vergoldete Zeitalter - Neuauflage - Bitte beachten Sie den unten aufgeführten Text

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Es war dem Herausgeber wichtig, die verbesserte Ausgabe zu einem günstigeren Preis anbieten zu können. Mit einem Ladenpreis von 19,80 Euro ist das auch gelungen. Weniger war bei immerhin 464 Seiten und fehlender Massenproduktion leider nicht drin. Zusätzlich gibt eine E-Book-Variante für nur 6,99 Euro. Damit lässt sich die nächste Wirtschaftskrise mit einem Schmunzeln begrüßen, denn so richtig hat sich unser geliebter Kapitalismus seit Twains Zeiten nicht gebessert.

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George Orwell und die Zerstörung einer anarchistischen Utopie

von Dirk Jürgensen ...

Wir brauchen Utopien – Teil 5

– Wer sich mit utopischen Zukunftsmodellen beschäftigt, kommt am Anarchismus vorbei und sollte unbedingt nach Spanien blicken.

Als Thomas Morus im Jahr 1516 sein „Utopia“ schrieb, waren die Begriffe Sozialismus und Kommunismus noch in keinem Wortschatz zu finden. Im 16. Jahrhundert mit seinen aus dem Elend erwachsenen Bauernaufständen und den Ideen eines entstehenden Humanismus, der sich an den Bürger-(Polis-) Gedanken und anderen frühen demokratischen Vorstellungen orientierte, war „Utopia“ ein Gegenentwurf zum Feudalismus. Gemeinsames Arbeiten an und mit gemeinsamen Produktionsmitteln in allgemeiner Freiheit, kein Ausufern privaten Eigentums, das waren revolutionäre Vorstellungen und sind bis heute ein nicht realisiertes Sinnbild einer idealen und gerechten Gesellschaftsordnung – ein Wunschbild, eben eine Utopie – geblieben.

Das 17. und 18. Jahrhundert, die Zeit der Aufklärung in Verbund mit dem Fortschreiten der wissenschaftlichen und technischen Entwicklung, das Entstehen industrieller Massenproduktion und die Anfänge der Globalisierung, veränderte die Lebensumstände der Menschen enorm. Der Feudalismus wurde von einer neuen Klassengesellschaft abgelöst. Der neue Adel bestand aus den wenigen Industriekapitänen jener Zeit. Und wenn auch der Humanismus als Teil aufklärerischen Gedankenguts verstanden werden kann, war angesichts der Kategorisierung des Menschen als Produktionsfaktor Arbeit – wir würden heute vielleicht Humankapital sagen – und den damaligen Zuständen zwischen Verarmung der Landbevölkerung und der Kinderarbeit in den wachsenden Städten nichts zu spüren. Einzelne Revolten, frühsozialistische Versuche, wie beispielsweise die eines Robert Owen, konnten dem herrschenden rücksichtslosen Kapitalismus in seiner Gesamtheit nichts anhaben und zeigten, wie weit das Ziel einer gerechten Gesellschaft von der gelebten Realität der Unterschicht entfernt war.

So fand Karl Marx für die Bestrebungen der Frühsozialisten nach Demokratie und Gleichheit den Begriff des „utopischen Sozialismus“, in dem zwar ein lobenswertes Ziel, nicht jedoch der Weg dahin bestimmt wurde. Marx lehnte es sogar ab, das Ziel zu definieren und den Menschen das unwissenschaftliche Bild einer Idealgesellschaft zu erfinden. Er beschränkte sich bewusst darauf, historisch-systematisch die notwendigen Handlungsschritte zu entwickeln, um die gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen über den Kampf der Klassen zu verbessern.

Der Gedanke liegt nahe, dass die seit Marx betriebene negative Besetzung des Utopiebegriffs letzthin dafür gesorgt hat, das eigentliche Ziel aus den Augen zu verlieren. Somit bewirkte dieses Bilderverbot zwangsläufig das Umschlagen sozialistischer und kommunistischer Revolutionen hin zum zentralistischen Totalitarismus einer Einheitspartei oder eines Komitees, der auf dem ziellosen Weg in eine undefinierten Idealgesellschaft jedes Vergehen als Mittel zum Zweck des Machterhalts rechtfertigte.

Einen anderen, einen keineswegs zentralistischen Weg schlugen zum Ziel einer gerechten Gesellschaftsordnung schlugen die Anarchisten ein, deren früher Hauptvertreter Pierre-Joseph Proudhon war. Er gilt als Begründer des Syndikalismus, Mutualismus und Förderalismus. Proudhons gerne zitierter Satz aus dem Jahr 1840 „Eigentum ist Diebstahl!“ sollte übrigens relativiert betrachtet werden, denn lehnte nicht das Privateigentum an sich ab, sondern er forderte die Abschaffung des Privatbesitzes an Produktionsmitteln.

In der Folge Proudhons hielten Michail Bakunin und Pjotr Alexejewitsch Kropotkin ähnlich wie Marx und Engels eine soziale Revolution für erforderlich, um die Besitzverhältnisse entscheidend verändern zu können. Im Gegensatz zu den Marxisten wurde die Führung durch eine elitäre Kaderpartei wie auch eine staatliche Hierarchie abgelehnt. Marx sah den Staat mit der fortschreitenden Revolution absterben, die Anarchisten trauten dieser undeutlichen Entwicklung nicht, sie wollten ihn direkt abschaffen, verfolgten einen antiautoritären Sozialismus.

Von 1864 bis 1872 kamen die Vertreter verschiedenster Gruppierungen, die sich zur Arbeiterbewegung zählten, in der IAA (Internationale Arbeiterassoziation) zusammen. Nachdem Karl Marx aufgrund unüberbrückbarer Unterschiede zwischen den Lagern erfolgreich dafür gesorgt hatte, dass Bakunin 1872 ausgeschlossen wurde, zerbrach die Erste Internationale, die dann 1876 vollständig aufgelöst wurde.

Dies war der Beginn eines bis in die heutige Zeit währenden Konflikts zwischen den Marxisten und den Anarchisten, eines Konflikts in dem es viel um Meinungshoheiten und um Macht, in dem die Marxisten fast immer die Oberhand gewannen. Obgleich eigentlich beide Gruppierungen ein nahezu gleiches Ziel verfolgen, kam es in der Geschichte immer wieder zu

Bis heute scheint der Begriff des Anarchisten ein Synonym für einen Bombenleger zu sein, dabei waren diese Zeiten schon vor 100 Jahren längst vorbei.
, zur Zensur, zu Mord und Verfolgung.

Die Zeitung der Escuela Moderna, einem anarchistischen Bildungsprojekt von Francisco Ferrer

Die Zeitung der Escuela Moderna, einem anarchistischen Bildungsprojekt von Francisco Ferrer – Quelle: Wikipedia

Ein Land, in dem der Marxismus im Gegensatz zum Anarchismus verhältnismäßig wenig Fuß fassen konnte, ist Spanien. Besonders das industriell geprägte Katalonien und das landwirtschaftlich dominierte Andalusien sind hier zu nennen. Selbst der Spanische Bürgerkrieg, aus dem das faschistische Franco-Regime als Sieger hervorging, konnte nicht verhindern, dass es in Spanien noch heute zahlreiche Beispiele anarchistisch geprägter kommunaler Kooperationen gibt.

Auch der Verlauf des Bürgerkriegs selbst, an dem zuerst Marxisten und Anarchisten auf Seiten der Republikaner gegen den Faschismus kämpften, war vom eben beschriebenen Konflikt geprägt – vielleicht sogar entscheidend. George Orwell, der in seinem Bericht „Mein Katalonien“ als Mitkämpfer im Spanischen Bürgerkrieg berichtet, lässt das mit seinen Beobachtungen und dem entstandenen Nebenkriegsschauplatz vermuten:

„Der allgemeine Umschwung nach rechts begann ungefähr im Oktober und November 1936, als die UdSSR anfing, die Zentralregierung mit Waffen zu versorgen, und als die Macht von den Anarchisten auf die Kommunisten überging. Außer Russland und Mexiko besaß kein anderes Land den Anstand, der Zentralregierung zu Hilfe zu kommen, und Mexiko konnte aus einleuchtenden Gründen Waffen nicht in großen Mengen liefern. So waren also die Russen in der Lage, die Bedingungen zu diktieren. Es besteht kaum ein Zweifel daran, dass diese Bedingungen vor allem lauteten: »Verhindert die Revolution, oder ihr bekommt keine Waffen.« So wurde die erste Maßnahme gegen die revolutionären Elemente, nämlich die Verdrängung der P.O.U.M. aus der katalanischen Generalidad, nach Befehlen der UdSSR durchgeführt. Man hat abgeleugnet, dass die russische Regierung irgendeinen direkten Druck ausgeübt habe. Aber diese Tatsache ist nicht von großer Bedeutung, denn man kann annehmen, dass die kommunistischen Parteien aller Länder die russische Politik ausführen. Es wird aber nicht geleugnet, dass die kommunistische Partei die hauptsächliche Triebkraft zunächst gegen die P.O.U.M., später gegen die Anarchisten, den von Caballero geführten Flügel der Sozialisten und allgemein gegen eine revolutionäre Politik war. Nachdem sich die UdSSR einmal eingemischt hatte, war der Triumph der kommunistischen Partei gesichert.

Zunächst wurde das kommunistische Prestige dadurch enorm gehoben, dass man Russland gegenüber dankbar war für die Waffen und die Tatsache, dass die kommunistische Partei besonders nach Ankunft der Internationalen Brigade den Anschein erweckte, als könnte sie den Krieg gewinnen.

Zweitens wurden die russischen Waffen durch die kommunistische Partei oder die mit ihr verbündeten Parteien ausgeliefert, und sie achteten darauf, dass ihre politischen Gegner sowenig wie möglich davon erhielten (Anm.: Das war der Grund dafür, dass es an der aragonischen Front so wenig russische Waffen gab, da die Truppen dort hauptsächlich Anarchisten waren. Bis zum April 1937 sah ich als einzige russische Waffe – mit Ausnahme einiger Flugzeuge, die vielleicht russisch waren, vielleicht aber auch nicht – nur eine einzelne Maschinenpistole.).

Drittens gelang es den Kommunisten durch die Verkündung einer nichtrevolutionären Politik, alle diejenigen um sich zu scharen, die von Extremisten verscheucht worden waren. Es war beispielsweise leicht, die wohlhabenderen Bauern gegen die Kollektivierungspolitik der Anarchisten zu sammeln. Die Mitgliedschaft der Partei wuchs gewaltig an, der Zufluss speiste sich hauptsächlich aus dem Mittelstand: Ladenbesitzer, Beamte, Armeeoffiziere, wohlhabende Bauern und so weiter, und so weiter.

Im Grunde genommen war der Krieg ein Dreieckskampf. Das Ringen mit Franco musste fortgesetzt werden, aber gleichzeitig war es das Ziel der Zentralregierung, alle Macht zurückzugewinnen, die noch in den Händen der Gewerkschaften verblieben war. Dies geschah durch eine Reihe kleiner Manöver, es war eine Politik der Nadelstiche, wie es jemand genannt hat, und man tat es, im ganzen gesehen, sehr klug. Es gab keine allgemeine, offene Gegenrevolution, und bis zum Mai 1937 war es nicht einmal nötig, Gewalt anzuwenden. Man konnte die Arbeiter immer durch ein Argument zur Räson bringen, das fast zu augenfällig ist, um es zu nennen: »Wenn ihr dieses oder jenes nicht tut, werden wir den Krieg verlieren.« In jedem Fall natürlich verlangte anscheinend die militärische Notwendigkeit, etwas aufzugeben, das die Arbeiter 1936 für sich errungen hatten. Aber dieses Argument war immer stichhaltig, denn das letzte, was die Revolutionsparteien wünschten, war, den Krieg zu verlieren. Verlor man den Krieg, würden Demokratie und Revolution, Sozialismus und Anarchismus zu bedeutungslosen Worten. Die Anarchisten, die einzige Revolutionspartei, deren Größe von Bedeutung war, wurden gezwungen, Stück für Stück nachzugeben. Das Fortschreiten der Kollektivierung wurde angehalten, die örtlichen Ausschüsse wurden entfernt, die Arbeiterpatrouillen wurden aufgelöst, die Polizeikräfte der Vorkriegszeit wurden, weitgehend verstärkt und schwer bewaffnet, wieder eingesetzt, und verschiedene Schlüsselindustrien, die unter der Kontrolle der Gewerkschaften gestanden hatten, wurden von der Regierung übernommen. (Die Übernahme des Telefonamtes von Barcelona, die zu den Maikämpfen geführt hatte, war ein Beispiel dieser Entwicklung.)

Schließlich, und das war das allerwichtigste, wurden die Milizeinheiten der Arbeiter, die sich auf die Gewerkschaften gründeten, allmählich auseinandergebrochen und in die neue Volksarmee aufgeteilt. Das war eine ‚unpolitische‘ Armee, sie hatte einen halben Bourgeoischarakter. Es gab unterschiedlichen Sold, eine privilegierte Offizierskaste und so weiter, und so weiter. Unter den besonderen Umständen war das tatsächlich ein entscheidender Schritt. In Katalonien vollzog man ihn allerdings später als an anderen Orten, denn hier waren die Revolutionsparteien am stärksten. Offensichtlich bestand die einzige Garantie für die Arbeiter, ihre Errungenschaften zu festigen, nur darin, einen Teil ihrer Streitkräfte unter ihrer eigenen Kontrolle zu haben. Wie gewöhnlich wurde auch das Auseinanderbrechen der Miliz im Namen militärischer Leistungsfähigkeit vollzogen, und niemand leugnete, dass eine gründliche militärische Reorganisation notwendig war. Es wäre aber durchaus möglich gewesen, die Miliz zu reorganisieren und leistungsfähiger zu machen und sie gleichzeitig unter der direkten Kontrolle der Gewerkschaften zu belassen. Der Hauptzweck des Wechsels lag darin, dafür zu sorgen, dass die Anarchisten keine eigenen Waffen mehr besaßen. Außerdem war der demokratische Geist der Miliz ein Brutnest für revolutionäre Ideen. Die Kommunisten wussten das sehr genau und schimpften ohne Unterlass und erbittert über die P.O.U.M. und das anarchistische Prinzip des gleichen Lohns für alle Ränge. Es fand eine allgemeine ‚Verbürgerlichung‘ statt, eine absichtliche Zerstörung des Gleichheitsgeistes aus den ersten Monaten der Revolution. Alles ereignete sich so geschwind, dass Leute, die Spanien innerhalb von wenigen Monaten mehrmals besucht hatten, erklärten, dass sie anscheinend kaum das gleiche Land besuchten. Was an der Oberfläche und für eine kurze Weile ein Arbeiterstaat zu sein schien, verwandelte sich vor den eigenen Augen in eine herkömmliche Bourgeoisrepublik mit der normalen Unterscheidung von reich und arm. Im Herbst 1937 erklärte der ‚Sozialist‘ Negrin in öffentlichen Ansprachen, dass »wir privates Eigentum respektieren«, und Mitglieder des Cortes, die zu Beginn des Krieges aus dem Land fliehen mussten, da man sie faschistischer Sympathien verdächtigte, kehrten nach Spanien zurück.“

Dass die beschriebene Einflussnahme der UdSSR im absoluten Widerspruch zur in Teilen Spaniens gelebten Utopie Spaniens stand, wird durch dieses Zitat Orwells deutlich:

„Die Arbeitermiliz, die auf den Gewerkschaften aufbaute und sich aus Leuten von ungefähr der gleichen politischen Meinung zusammensetzte, bewirkte, dass an einer Stelle die intensivsten revolutionären Gefühle des ganzen Landes zusammenkamen.

Ich war mehr oder weniger durch Zufall in die einzige Gemeinschaft von nennenswerter Größe in Westeuropa gekommen, wo politisches Bewusstsein und Zweifel am Kapitalismus normaler waren als das Gegenteil. Hier in Aragonien lebte man unter Zehntausenden von Menschen, die hauptsächlich, wenn auch nicht vollständig, aus der Arbeiterklasse stammten. Sie lebten alle auf dem gleichen Niveau unter den Bedingungen der Gleichheit. Theoretisch herrschte vollkommene Gleichheit, und selbst in der Praxis war man nicht weit davon entfernt. In gewisser Weise ließe sich wahrhaftig sagen, dass man hier einen Vorgeschmack des Sozialismus erlebte. Damit meine ich, dass die geistige Atmosphäre des Sozialismus vorherrschte. Viele normale Motive des zivilisierten Lebens – Snobismus, Geldschinderei, Furcht vor dem Boss und so weiter – hatten einfach aufgehört zu existieren. Die normale Klasseneinteilung der Gesellschaft war in einem Umfang verschwunden, wie man es sich in der geldgeschwängerten Luft Englands fast nicht vorstellen kann. Niemand lebte dort außer den Bauern und uns selbst, und niemand hatte einen Herrn über sich.

Natürlich konnte dieser Zustand nicht andauern. Es war einfach ein zeitlich und örtlich begrenzter Abschnitt in einem gewaltigen Spiel, das augenblicklich auf der ganzen Erdoberfläche gespielt wird. Aber es dauerte lange genug, um jeden, der es erlebte, zu beeindrucken. Wie sehr damals auch geflucht wurde, später erkannte jeder, dass er mit etwas Fremdem und Wertvollem in Berührung gewesen war.

Man hatte in einer Gemeinschaft gelebt, in der die Hoffnung normaler war als die Gleichgültigkeit oder der Zynismus, wo das Wort Kamerad für Kameradschaft stand und nicht, wie in den meisten Ländern, für Schwindel. Man hatte die Luft der Gleichheit eingeatmet. Ich weiß sehr genau, wie es heute zum guten Ton gehört zu verleugnen, dass der Sozialismus etwas mit Gleichheit zu tun hat.

In jedem Land der Welt ist ein ungeheurer Schwarm Parteibonzen und schlauer, kleiner Professoren beschäftigt zu ‚beweisen‘, dass Sozialismus nichts anderes bedeutet als planwirtschaftlichen Staatskapitalismus, in dem das Motiv des Raffens erhalten bleibt. Aber zum Glück gibt es daneben auch eine Vision des Sozialismus, die sich hiervon gewaltig unterscheidet.

Die Idee der Gleichheit zieht den normalen Menschen zum Sozialismus hin. Diese ‚Mystik‘ des Sozialismus lässt ihn sogar seine Haut dafür riskieren.

Für die große Mehrheit der Menschen bedeutet der Sozialismus die klassenlose Gesellschaft, oder er bedeutet ihnen überhaupt nichts. Unter diesem Gesichtspunkt aber waren die wenigen Monate in der Miliz wertvoll für mich. Denn solange die spanischen Milizen sich hielten, waren sie gewissermaßen der Mikrokosmos einer klassenlosen Gesellschaft. In dieser Gemeinschaft, in der keiner hinter dem Geld herrannte, wo alles knapp war, es aber keine Privilegien und kein Speichellecken mehr gab, fand man vielleicht in groben Umrissen eine Vorschau davon, wie die ersten Schritte des Sozialismus aussehen könnten. Statt mir meine Illusionen zu rauben, fesselte mich dieser Zustand. Die Folge war, dass ich noch viel stärker als vorher wünschte, der Sozialismus möge verwirklicht werden. Teilweise kam das daher, weil ich das Glück gehabt hatte, unter Spaniern zu leben. Mit ihrer angeborenen Anständigkeit und ihrem immer gegenwärtigen anarchistischen Gefühl würden sie selbst die ersten Stadien des Sozialismus erträglicher machen, wenn man ihnen nur eine Chance gäbe.“ Wieviel  anders wird Orwell in seiner Dystopie „1984“ ein totalitäris Sytem beschreiben.

Als Orwell seinen Bericht verfasste, war der Spanische Bürgerkrieg noch im vollen Gange. Die gelebte Utopie, deren Ende auch Hans Magnus Enzensberger in seinem dokumentarischen Roman „Der kurze Sommer der Anarchie“ über Buenaventura Durruti beschrieb, wurde zum Teil einer gemeinsamen Erinnerung der Beteiligten. Es scheint, dass die aktuellen Krisen dieser Welt eine Rückbesinnung auf die Utopie als Zukunftsziel notwendig machen.

Meine Lesetipps zum Thema:

George Orwell – Mein Katalonien

Hans Magnus Ezensberger – Der kurze Sommer der Anarchie

Buch und Film von Isamelle Fremeaux und John Jordan – Pfade durch Utopia

Achim von Borries/Ingeborg Weber-Brandies (HG.) – Anarchismus Theorie Kritik Utopie

Der Film „Die Utopie leben! Der Anarchismus in Spanien„, den der Sender arte vor einigen Jahren ausstrahlte, sollte unbedingt auf DVD erscheinen oder wenigstens wiederholt werden!

Selbstverständlich sind die Amazon-Links nur im Notfall zu verwenden. Viel ratsamer ist die Unterstützung des lokalen Buchhandels.

Die Reihe wird fortgesetzt.




Kapitalverbrechen und Raubzug

von Dirk Jürgensen ...

Prof. H. Lesch über die Finanzkrise und den sonstigen Irrsinn des Lebens in der ökonomisch dominierten Welt.

Dieser Beitrag aus der Serie „Pelzig hält sich“ ist im Sinne unserer schnelllebigen Zeit zwar schon alt, er stammt vom 03.07.2012, er bleibt dennoch aktuell und sehenswert. Damals war die Finanzkrise ein uns alle beschäftigendes Thema, doch scheint all das, was unbedingt geändert werden sollte und auch die Krise selbst, längst vergessen. Dabei wird die nächste Finanzkrise ganz sicher wieder kommen. Vielleicht ist sie aber auch gar nicht beendet, sondern aufgrund all der Kriege, Flüchtlichgsdramen und Seuchen nur nicht mehr ausreichend Schlagzeilen gerecht?




Chin Meyer erklärt den Finanzmarkt

von Dirk Jürgensen ...

Die Stärke der Vergoldung eines Zeitalters zeigt sich nicht während des Funktionierens, sondern erst nach dem Zusammenbrechen der Finanzmärkte. Aber nur ganz kurz, dann wird wieder einen neue Goldschicht aufgetragen, denn da die gehandelten Werte nur in Ausnahmefällen tatsächlich greifbare sind, liegt der Zusammenbruch immer in nächster Nähe und ist nicht zu verhindern. Besser als manch ein Fachaufsatz erklärt der Kabarettist Chin Meyer die Logik der Derivate, den Wahnsinn der Glücksritter mit ihren Scheingeschäften zwischen der genialen Geschäftsidee und dem staatlichen Schutzschirm. Sein witzigies Beispiel ist überraschend einfach und stimmig. Bei allem Lachen über den Irrsinn der sich immer wieder aufpumpenden Finanzblasen bleibt die eine Frage offen: Wieso und warum fallen die Menschen, die Gesellschaften, die politischen Systeme immer wieder auf diesen Unsinn herein?

Kaum ein Netzfundstück der letzten Monate passte so gut wie dieses zum Ursprungsthema dieser Seite. Die Verwendung war nicht zu vermeiden.

 

Bildquelle (Startseite): www.chin-meyer.de




Karstadt und das Ende der Warenhäuser

von Dirk Jürgensen ...

Tausendfach, alles unter einem Dach – Das war einmal

Warenhaus in Schieflage – Ältere mögen sich erinnern. An jene Errungenschaft der modernen Welt, für einen Artikel nicht mehr von Geschäft zu Geschäft laufen zu müssen, weil es doch in jeder größeren Stadt mindestens einen Kaufhof, Wertheim, Horten, Hertie oder Karstadt gab. Eines dieser Warenhäuser genügte, um sich vollständig einzukleiden und ganz nebenbei auch noch Lebensmittel, Kosmetik, Uhren und Schmuck oder Haushaltartikel in riesigen Tüten nach Hause zu schleppen. Kleine Geschäfte mögen geflucht haben, aber als Kunde liebte man, endlich „tausendfach, alles unter einem Dach“.

Heute sind Warenhäuser nur noch das Abbild der Fußgängerzonen mit ihren Marken-Stores. Wer ein T-Shirt kaufen möchte und keine spezielle Marke präferiert, muss teils sogar auf mehreren Etagen verstreute Shop-in-Stores-Inseln aufsuchen, um endlich das richtige zu finden. Das sind Läden im Laden, die es mit der gleichen Auswahl auch noch einmal als Laden in der Fußgängerzone gibt, was Vielfalt allenfalls vortäuscht.

Früher waren viele Dinge schlechter, aber gesuchte Artikel waren wenigstens schneller in speziellen Abteilungen zu finden. Die Rückkehr zu dieser alten Warenhaustugend würde den Markenvertrieblern zwischen Esprit, S.Oliver, Tom Tailor, Superdry oder sonstigen gerade einmal angesagten Brands nicht gefallen – und vielen Kiddies, die es nicht mehr anders kennen auch nicht – aber ich werde das Gefühl nicht los, dass genau dieses Problem ein Grund für den Niedergang der Warenhäuser gilt. Nicht umsonst schließt in Düsseldorf gerade das einstige Horten-Stammhaus an der Berliner Allee (mit seiner leider noch immer nicht unter Denkmalschutz stehenden Eiermann-Fassade) und bangen die Karstadt-Mitarbeiter der ganzen Republik um ihre Arbeitsplätze, weil ihr Eigentümer Nicolas Berggruen höchstwahrscheinlich einen Verkauf anstrebt.

Neu ist das Thema nicht und außer der Verwendung der neudeutschen Bezeichnung als Department Store ist dem Management im Sinne einer Abgrenzung vom kleinteiligen Einzelhandel und einer Eigenständigkeit des eigenen Profils nichts eingefallen, wie der Rückblick auf eine Geschichte belegt, die ich bereits vor zehn Jahren schrieb:

Die Hose – Von der Krise im Einzelhandel




Marie trägt heut’ ein Kleid mit Punkten … und Rachel Khoo kocht französisch

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...

Vive la France in Düsseldorf

© Foto Marie van Bilk/Maria Jürgensen

© Foto Marie van Bilk/Maria Jürgensen

– Ich halte es wie Rachel Khoo. Ich genieße. Es regnet Bindfäden, Sommerregenschleifchen nach einem heißen Tag im Juli. Le Crachin ist es nicht, aber schön. Ich liebe Sommerregen und verstecke mich fast barfüßig und mit Strohhut und im gepunkteten Kleid unter meinem Schirm. Auf dem Burgplatz parken französische Oldtimer. In Düsseldorf wird das Frankreichfest gefeiert und ich bin dort. Trotz des Regens ist es gut besucht. Die Herren vor Ort tragen oft gestreift und klassisch Baskenmütze. Ich liebe dieses Klischee in Sachen Kleidung, so wie Chinesen bei uns die Lederhosen. Den Schäfern in den Pyrenäen sei Dank, oder Napoleon III? Jedenfalls sieht’s nett aus und erinnert mich an Matrosen und Seefahrt. Für beides habe ich ein Faible, noch ein größeres habe ich für schlichtes, unaufwändiges Kochen und gutes Essen. Und wer ist Weltmeister im guten Essen? Die Franzosen! Richtig! Das darf ich auch heute wieder erfahren, während ich an den vielen Ständen mit Leckereien vorbei schlendere, die auf dem Markt am Rande des Festes angeboten werden. Madame Ginet bietet Macarons feil, für die ich jede Sünde begehen würde. Das sind Baiserböden aus Mandelmehl, die in der Mitte mit einer herrlichen Ganache, einer Art Buttercreme gefüllt sind. Zum Niederknien! Profiteroles, Tartines au chocolat, Éclairs, Calissons, Cannelés de Bordeaux, Tuiles aux amandes, Pain d’epices, eine Art Honigkuchen aus dem Elsass… der Patisseriestand hat es mir angetan. Meine Tüte ist bald gut gefüllt und mein Portemonnaie erheblich leichter. Einige Stände weiter gibt es Saucisson Sec in verschiedenen Variationen vom Esel, Schwein, pur porc, Reh und der Ente. Mit den Italienern kam nicht nur feines Tuch nach Lyon, sondern die Salami. Die Saucisson, eine Rohwurst wird überwiegend aus Naturdarm hergestellt, nicht geräuchert, sondern luftgetrocknet und mit Edelschimmel überzogen, manchmal noch durch Nüsse oder Feigen ergänzt. Für Weintrinker ist sie perfekt. Auch wenn ich den nicht trinke, was Franzosen bedauern würden, ich nehme ein Stückchen des Olivenbrots dazu, das die Bäcker nebenan anbieten, und prompt liegt Südfrankreich am Rhein. Der Käse fehlt noch. Das große Stück Comté, das schließlich im Korb liegt, wird nicht lange halten. Hingabe ist die einzige Reaktion, denn er riecht schon jetzt so verführerisch, dass ich mir ein Stück für unterwegs abschneiden lasse. Weiterlesen




Hoffnung und Lust setzen Ziele

von Dirk Jürgensen ...

Wir brauchen Utopien – Teil 3

William Morris und seine „Kunde von Nirgendwo“

William

William Morris, * 24. März 1834 in Walthamstow; † 3. Oktober 1896 in London
Morris war ein Multitalent, ein Maler, Herausgeber, Architekt, Dichter, Drucker, nach heutiger Begrifflichkeit Designer und gilt als einer der ersten Vertreter der britischen sozialistischen Bewegung.

William Morris - Kunde von Nirgendwo - Golkonda-Verlag

William Morris – Kunde von Nirgendwo – Golkonda-Verlag

Als Mitgründer des Arts and Crafts Movement empfand Morris die Produkte der Massenproduktion der damals aufstrebenden Industrie als

Bezüglich des Arbeitsprozesses selbst zeigt sich dieses Seelenlose im Sinne eines Karl Marx in der Entfremdung.
und forderte eine
Ein Ansatz, den wir auch und grade heute angesichts von Billigimporten aus Fernost und rücksichtsloser Massentierhaltung gut nachvollziehen können. Leider kann sich der aktuell zu beobachtende Trend, mehr auf die Qualität der Produkte und auf faire, ökologisch unbedenkliche Fertigung zu achten, nur bei jenen Verbrauchern durchsetzen, die es sich finanziell leisten können – und wollen. Im Textilbereich dominieren Ketten wie Primark oder H&M, die die Argumente Morris‘ leider noch immer bestätigen.
auf die höhere Qualität handwerklicher Arbeiten. Genau diesen Ansatz verfolgte er in seinem als Gegenentwurf zu Edward Bellamys „Rückblick aus dem Jahre 2000“ verstandenen Utopie „Kunde von Nirgendwo“, die 1890 veröffentlicht wurde.

In seiner Zeitung „The Commenweal“ veröffentlichte Morris zuvor (1890) eine vielbeachtete Kritik des „Rückblicks“, in der er deutlich macht, wie fundamental die Unterschiede in der Sichtweise auf einen idealen, auf einen ebenfalls gerecht angesehenen Staat sein können:

Die einzige sichere Art, eine Utopie zu lesen, ist, sie als Ausdruck der Gesinnung ihres Autors zu betrachten.So gesehen ist Mr. Bellamys Utopie immer noch als sehr interessant zu bezeichnen, da sie mit reichlich ökonomischem Sachverstand und großem Geschick aufgebaut ist. Und natürlich ist sein Temperament das zahlreicher Menschen. Diese Temperament könnte man als unverfälscht, als modern, als ahistorisch und unkünstlerisch bezeichnen; es hat zur Folge, dass jemand (falls er denn Sozialist ist) mit der modernen Zivilisation völlig zufrieden wäre, wenn es nur gelänge, Ungerechtigkeit, Elend und die Sinnlosigkeit der Klassengesellschaft abzuschaffen;solche halbherzigen Veränderungen scheinen ihm machbar. Das einzige Lebensideal, das solch ein Mensch zu sehen vermag, ist das eines fleißigen Angestellten aus der Mittelschicht von heute, geläutert vom Verbrechen der Komplizenschaft mit der Monopolistenklasse und unabhängig anstatt, wie jetzt, parasitär. Es ist nicht zu bestreiten, dass ein solches Ideal, falls es denn verwirklicht werden könnte, im Vergleich mit den derzeitigen gesellschaftlichen Verhältnissen ein großer Fortschritt wäre. Aber kann es überhaupt verwirklicht werden? […]

Aus der Zufriedenheit des Autors mit den besten Bestandteilen des modernen Lebens folgt naturgemäß, dass er den Wandel hin zum Sozialismus als eine Vorgang betrachtet, der ohne den Zusammenbruch dieser Lebensweise vonstattengeht oder jedenfalls ohne größere Störungen, und zwar vermittels der finalen Entwicklung der großen privaten Monopole, die so charakteristisch für die heutige Zeit sind. Er unterstellt, dass sie zwangsläufig in einem einzigen großen Monopol aufgehen müssen, welches das ganze Volk einschließt und und vom ganzen Volk zu seinem Vorteil betrieben wird.

Dieses Zitat stammt wie das folgende aus dem „Rückblick aus dem Jahre 2000“, wie er im Golkonda-Verlag erschien. An dieser Stelle handelt sich um die vom Herausgeber Wolfgang Both in Zusammenarbeit mit Andreas Fliedner und Hannes Riffel übertragene Rezension Morris‘.[/title]

Morris charakterisierte Bellamys Zukunftsentwurf als stark national zentralisierten Staatskommunismus, als gesellschaftliche Maschinerie zwischen Arbeitszwang und Verpflichtung zur Aufgabe der Arbeit mit 45 Jahren. Zudem hielt er die urban geprägten Lebensräume angesichts der realen Wohnverhältnisse in den Ballungszentren, für nicht erstrebenswert und lehnte den vermehrten Einsatz von Maschinen zur Verringerung der menschlichen Arbeitszeit sinnlos ab. Morris glaubte, dass das Ideal der Zukunft nicht in einer Verringerung der menschlichen Anstrengungen durch die Reduzierung des Arbeitsumfangs auf ein Minimum bestehen wird, sondern in einer Reduzierung der „Mühen“ der Arbeit auf ein Minimum, das so klein ist, das sie aufhören,Mühen zu sein; in einem Gewinn an Menschlichkeit, von dem nur geträumt werden kann, bis die Menschen noch gleichberechtigter geworden sind, als es ihnen Mr. Bellamys Utopie gestattet,[…].

Mit der „Kunde von Nirgendwo“ formulierte William Morris seinen in der Rezension angedeuteten Gegenentwurf zum „Rückblick“.

Sein in London lebender Ich-Erzähler William

Die namentliche Ähnlichkeit mit Bellamys Julian West ist ganz sicher kein Zufall. Außerdem weist der Name gleichzeitig auf den Autor selbst und die Gastrolle des Protagonisten in Morris‘ Utopie hin.

schläft nach einer hitzigen Debatte über einen der Revolution folgenden Zukunftsstaat schlecht und wacht am frühen Morgen des vermeintlich folgenden Tages auf und macht sich auf einen Spaziergang an die Themse. Zu seiner Überraschung ist das Wasser des Flusses sauber, es schwimmen sogar Lachse darin. E sieht keine Industrieschornsteine mehr und die bisherige moderne (vermutlich Stahlbau-)Brücke wurde durch eine im alten Stil aus Stein errichtete ersetzt. Guest trifft am Ufer einen Fährmann, dem er sich als jemand vorstellt, der lange auf Reisen gewesen ist und die Verhältnisse fremd geworden seien. Mit den als Bezahlung angebotenen Münzen, die Guest in seiner Tasche findet, kann der Fährmann nichts anfangen und so beginnt eine Reihe von Fragen und Antworten, in der dem Gast die Vorzüge des Lebens im 20. Jahrhundert im Laufe einer Reise auf der Themse von verschiedenen Menschen gezeigt werden.

Die Lebensverhältnisse in Morris‘ Idealstaat, dessen Struktur aufgrund seiner radikalen Dezentralisierung dem Anarchismus nicht fern ist, sind von einem romantischen „Zurück zur Natur“ geprägt, aus von einer starken Bewunderung des Mittelalters spricht.. Die großen Städte, die rußigen Industriezentren des 19. Jahrhunderts wurden längst zurückgebaut,die Slums niedergerissen.Das neue London ist von Wäldern und Wiesen durchzogen, die Landflucht der Industrialisierung konnte umgekehrt werden. Nur Reste alter großer Gebäude sind noch zu finden. So wird das Parlamentsgebäude in London übergangsweise noch als Düngerlager verwendet. Heutigen Lesern kommt es oftmals befremdlich vor, dass Morris Gebäude, die wir als schön und alt ansehen, als unerträglich modernistisch und

Vollkommen unfreiwillig – mit entgegengesetzter Intention sogar – gibt uns Morris damit einen Hinweis darauf, mit der Kritik an zeitgenössischer Architektur sorgsam umzugehen. Was uns heute als hässlich erschreckt, kann morgen als schön und stilbildend gelten.
beschrieb.

Die Ästhetik der Natur, der dörflichen Strukturen, der Häuser, der Gebrauchsgegenstände und das Entstehen dieser Dinge stellen ein grundlegendes Thema in Morris‘ Utopie. Die Menschen seines Zukunftsentwurfs haben das Handwerk, Kunsthandwerk, die Kunst, die aufgrund maschineller Massenproduktion vergessenen Fähigkeiten zurückgewonnen und entwickeln diese von Generation zu Generation weiter, werden perfektioniert. Es gibt keine Fabriken mehr, man trifft sich gegebenenfalls in vereinigten Werkstätten zur gemeinschaftlichen Arbeit. Arbeit, Kreativität und dadurch entstehende Befriedigung und Identifikation mit dem Hergestellten oder Geleisteten haben die Gedanken an einen monetären Gegenwert verdrängt. Da es aufgrund des Fehlens von Geld oder eines auf Tauschbasis funktionierenden Marktes keine monetäre oder vergleichsbedingte Wertigkeit der Güter mehr gibt, ist das durch die sinnvolle, befriedigende Arbeit erfüllte Leben selbst Belohnung genug. Güter werden an die Menschen verschenkt,die sie benötigen und sich an ihnen erfreuen können.

Gegenseitige Hilfe, besonders in landwirtschaftlichen Saisonzeiten ist obligat, doch immer auch freiwillig und kommt als fröhliche Freizeit auf dem Lande daher.

Die Schönheit der Lebensumstände hat sich auch auf die jugendliche Schönheit der Menschen übertragen, da sie alle aus einer durch Freiheit, (eine für das 19. Jahrhundert erstaunlich freie und gleichberechtigte) Liebe und Vernunft bestimmten Beziehung entstanden sind. Frauen sind selbstbestimmt, selbstbewusst und gleichberechtigt, wenngleich die Aufteilung der Arbeiten der Erwachsenen eher einem klassischen Modell der Geschlechterrollen zu entsprechen scheint.

Kinder wachsen in einem antiautoritärem Umfeld auf und das Wort „Erziehung“ hat sich in ein Fremdwort verwandelt. Somit sind auch Schulen obsolet. Der Begleiter Guests, Dick, formuliert es, nachdem er augenzwinkernd nachfragte, warum denn nicht auch alte Leute erzogen würden, so:

Aber ich kann Ihnen immerhin versichern, dass unsere Kinder etwas lernen, ohne dass sie durch eine Lehr- oder Unterweisungssystem zu gehen haben. Ei, nicht eines dieser Kinder sollten Sie finden, Junge oder Mädchen, das nicht schwimmen, nicht eines, das sich nicht auf kleinen Waldponys zu tummeln verstände […]! Kochen können sie durch die Bank, die größeren Jungen können nähen, viele können Dachdecken und verrichten allerhand Tischlerarbeit oder sie verstehen sich auf sonst einen Hantierung. […]Allein ich begreife wohl, dass Sie von Büchergelehrsamkeit reden, und die ist doch eine einfache Sache. Die meisten Kinder, welche Bücher umherliegen sehen, bekommen es schon mit vier Jahren fertig zu lesen […]

Dieses und die noch folgenden kursiv gesetzten Zitate stammen aus der von Andreas Fliedner herausgegebenen und bei Golkonda erschienenen Fassung der „Kunde von Nirgendwo“.
Fremdsprachen werden über den zahlreichen Kontakt mit ausländischen Gästen gelernt und bezüglich historischen Wissens heißt es, […]viele forschen nach dem Urspung der Dinge, nach den Gesetzen und der Verkettung von Ursache und Wirkung, – sodass Wissen und Kenntnisse unter uns zunehmen[…]. Andere wiederum […] verbringen ihre Zeit mit Mathematik. Es ist ja doch unnütz, die Neigungen der Menschen zwingen zu wollen.

So friedlich und harmonisch es in dieser Utopie zugeht, so konnte sich William Morris deren Entstehen keinesfalls in einem langsamen, evolutionärem Prozess vorstellen. Wie er ausführlich beschreibt, musste es ein harter, über mehrere Jahre viele Opfer fordernder Bürgerkrieg sein, der andauerte, bis Hoffnung und Lust ihm ein Ziel setzten führte zur Revolution im eigentlichen Sinne. Ohne den totale Zusammenbruch des alten Systems und seiner partiellen Privilegien und scheinbar allgemeinen Vorzüge der kapitalistischen Ordnung sieht Morris demnach aufgrund des Fehlens eines gemeinsamen Zieles Aller keine Chance auf einen Wandel zum idealen Staat. Mit dieser Überzeugung steht er nicht allein, wie neuere Utopien – und leider auch Dystopien, die beispielsweise eine nach einem nuklearen Fallout entstandene Gesellschaftsordnung (oder Unordnung) beschreiben. Immerhin erwacht William Guest am Ende des Romans – zwar etwas traurig, weil sich neben der angenehmen neuen Gesellschaftsordnung gerade eine Liebesgeschichte andeutete – wieder in seiner gewohnten Umgebung, um seinen Zeitgenossen in zukünftigen revolutionären Diskussionen das Bild und die Hoffnung auf einen idealen Zukunftsstaat vermitteln zu können.

Wir dürfen uns heute entscheiden, ob wir Ballemys oder Morris‘ Utopie näher stehen. Beide geben uns – so konträr sie sich gegenseitig verstanden – die Möglichkeit, eigene Variationen einer gerechten, friedlichen und zufriedenen Welt zu entwickeln, die einen wirklichen Fortschritt jenseits unseres neoliberalen Alltags bedeutet, in dem uns Zufriedenheit als Stillstand „verkauft“ wird. Der Ansatz, dass nur Hoffnung und Lust Ziele setzen, ist kein schlechter. Aber funktioniert das wirklich erst nach dem totalen Zusammenbruch?

Um der Antwort auf diese und andere Fragen näher zu kommen, empfehle ich nicht zuletzt aufgrund der dort enthaltenen Zusatzinformationen die im Golkona-Verlag erschienene Ausgabe der „Kunde von Nirgendwo“ von William Morris, die Sie bei jedem lokalen Buchhändler erwerben können.




Die Fußball-WM nach der Vorrunde

von Dirk Jürgensen ...

Gedanken vor dem Achtelfinale der Fußball-WM

– Nach den Protesten im Vorfeld ist nun auch Gruppenphase der WM in Brasilien beendet und wir wissen, welche Favoriten (oder wenigstens Vertreter der klassischen Fußballwelt) sterben mussten. Die Antwortfloskel auf die Frage, wen sich denn die deutsche Mannschaft im Finale wünscht – „egal, nur nicht Italien“ – bleibt ungesprochen. Es wird kein gewonnenes Elfmeterschießen gegen England mehr geben. Die seit Epochen unbesiegbaren Spanier überlegen längst, ob man das Spiel vielleicht mit „kick and rush“ modernisieren könnte und die Mannschaft um den Weltfußballer Christian Ronaldo, darf weiter einer goldenen Generation Portugals nachtrauern, die ebenfalls nichts gewann, aber ungemein gut aussah.

Fußball-WM - Foto: © Dirk Jürgensen - DüsseldorfBrasilien, meistgenannter Favorit, ist ohne große spielerische Begeisterung noch im Rennen. Aber wann haben die zuletzt eigentlich so richtig begeistert und ihre Legende von der landestypischen Spielkunst gefestigt? Pelé, Rivelino und Zico und spielen schon länger nicht mehr und es steht zu befürchten, dass es im Laufe des Turniers einer Mannschaft gelingt, Neymar sicher zu bewachen.

Auch Argentinien hat außer Messi (und in Ansätzen Di Maria) kaum etwas zu bieten, wenngleich das in vielen Fällen schon genug ist, um zu gewinnen.

Der Deutschen Mannschaft ist wieder einmal alles zuzutrauen. Die jugendliche Unbekümmertheit eines Sommermärchens ist zwar dahin, aber man scheint die richtige Mischung aus spielerischer Brillianz, langweiligen Tiki-Taka (gerne auch Tiqui-taca) und Unberechenbarkeit gefunden zu haben, um bei einem Ausscheiden im Achtelfinale und einem Sieg im Finale ein allgemeines „Wir haben es ja gewusst!“ provozieren zu können.

Insgesamt – obgleich die Fifa angesichts ihrer Machenschaften verboten (noch besser: hoch besteuert) und der unnötige Bau von Sportpalästen in Ländern, deren Bevölkerung unter tiefster Armut leidet untersagt gehört – ist diese Fußball-Weltmeisterschaft ein unterhaltsames Ereignis. Doch wie langweilig wäre es gewesen, wenn sich all die gestürzten ständigen Verdächtigen durchgemogelt hätten, wenn sich Costa Rica, das vermeintlich sichere Opfer der Todesgruppe D mit Uruguay, Italien und England nicht so verdient für das Achtelfinale qualifiziert hätte?

Wie nicht nur Costa Rica gezeigt hat, sind die Außenseiter das Salz in der WM-Suppe:

Iran, das einen Sieg gegen Argentinien und vermutlich damit auch gegen verknöcherte Mullahs im eigenen Land verdient gehabt und beinahe errungen hätte.

Griechenland, das 2004 mit einem damals schon sympathisch-veralteten Fußball-Stil Europameister wurde, steht auch diesmal klassisch verwurzelt in Achtelfinale. Die Elfenbeinküste hatte man stärker eingeschätzt, wenngleich die afrikanischen Teams bei Weltmeisterschaften leider fast immer enttäuschen. Aber es gibt ja noch Algerien. Das ist immerhin auch Afrika und hat noch eine Rechnung mit der Deutschen Mannschaft offen, die zu Lasten der Algerier 1982 in Gijon eine Absprache mit den Österreichern traf. Zudem hat die Länderspielbilanz mit dem größten Land Afrikas beinahe italienische Dimensionen. Bisher wurden alle Spiele von der DFB-Elf verloren. Gut, es waren nur

1964 war es ein Freundschaftsspiel, das Algerien 2:1 gewann und bei der eben erwähnten WM 1982 in Spanien gewannen die spielerisch starken Algerier sogar 2:0 und hätten sich für die nächste Runde qualifiziert, wenn es nicht zum „Nichtangriffspakt von Gijon“ gekommen wäre, der immer wieder auch als „Schande von Gijon“ bezeichnet wird.
. Warnung genug und Grund eine Serie zu brechen.

Eine dieser Serien bezieht sich beispielsweise auf das Gesetz der Unfähigkeit europäischer Mannschaften, in Südamerika einen Titel holen zu können. Aufgrund des Ausscheidens der Spanier und der Italiener (weniger der Engländer) ist man schnell geneigt, dieses Gesetz der Serie auch jetzt wieder hinzunehmen. Doch obacht!

Es könnte sein, dass sich im Viertelfinale von den acht möglichen Plätzen sechs europäische Teams breitmachen. Das könnten Frankreich, Deutschland, Niederlande, Griechenland, Schweiz und Belgien sein. Eine Neuauflage des Finales von 1974 Deutschland (damals noch BRD) gegen die Niederlande wäre möglich und könnte die so oft erwähnte Serie ins Archiv verbannen. Alles Spekulation und vermutlich in wenigen Tagen Makulatur.

Zum Schluss möchte ich eine weitere Spekulation wagen und die Frage nach dem Spieler des Turniers beantworten, indem ich all die Ronaldos, Messis und Müllers unbeachtet lasse:

Es ist, wenn sich kein Überraschungskanditat mehr zeigt, Luis Suárez aus Uruguay.

Als Torschützenkönig der obersten englischen Liga wurde er dort mehrfach zum Spieler des Jahres gewählt und schoss ausgerechnet England beinahe im Alleingang auf die Insel zurück.

Dies hätte ihm bereits ein paar Zeilen in den Geschichtsbüchern des Fußballs gesichert. Doch es wäre längst nicht genug für den Titel des Spielers der WM gewesen, denn er ist einer jener „Bekloppten“, die der internationale Fußball unbedingt braucht. Würde man sich noch an Èric Cantona erinnern, wenn er stets die Ruhe selbst geblieben wäre? Sicher nicht.

Obwohl bereits einschlägig

2010 biss Suárez in einem Spiel zwischen Ajax Amsterdam und dem PSV Eindhoven seinen Gegenspieler OtmanBakkal nach einem Wortgefecht in die vordere rechte Schulter. 2013 biss er bei einem Spiel des FC Liverpool den Spieler BranislavIvanović des FC Chelsea
konnte er sich nicht beherrschen und biss seinem italienischen Gegenspieler Giorgio Chiellini ohne offensichtliche spielerische Not in die Schulter. Der Schiedsrichter hatte den kannibalistischen Vorfall zwar nicht bemerkt, aber Suárez konnte nicht damit rechnen, dass heutzutage unzählige Kameras jeden Zentimeter Rasens einfangen und aufzeichnen lassen. Luis Suárez ist ein begnadeter Fußballer, der seine Emotionen und nicht allein einen seltsamen Hang zum Einsatz seiner Schneidezähne nicht in den Griff bekommt. So könnte man ihn bezeichnen. Seine Eskapaden sind stets zu bestrafen, doch wollen wir einmal ehrlich sein: Wäre Fußball noch ein solches Kultprodukt, wenn die Spieler alle einem Philipp Lahm entsprächen?

Schon bei der Fußball-WM 2010 in Südafrika verpasste er das Halbfinale aufgrund einer Spielsperre, die er sich mit einem absichtlichen Handspiel auf der Torlinie im Viertelfinale gegen Ghana redlich verdient hatte. Nun wurde er für vier Monate von allen fußballerischen Aktivitäten suspendiert, muss neun Länderspiele verpassen und 100.000 Schweizer Franken Strafe bezahlen. In der Heimat gilt er nun als ein zu unrecht bestrafter Held, hält die Mannschaft Uruguays für unverdient benachteiligt und auch sein bislang letztes Bissopfer soll die Bestrafung inzwischen für übertrieben halten. Der Ruhm, wenn auch der zweifelhafte, ist ihm sicher.

Wer wird Weltmeister? Wir werden sehen. Jedenfalls nicht Italien.

Würde der Protest erst bei einem Ausscheiden Brasiliens wieder erwachen?

Es bleibt spannend.

2018 steht wieder eine WM ins Haus. Hat sich Putin eigentlich von der Duma schon ermächtigen lassen, den WM-Titel für Russland zu beanspruchen?




Rückblick auf Edward Bellamy

von Dirk Jürgensen ...

Wir brauchen Utopien – Teil 2

– Meine Lese- und Gedankenreise auf der Suche nach noch zu entwickelnden Utopien, die uns Heutigen eine Weiterentwicklung der „idealen“ Gesellschaft eines Thomas Morus glaubhaft und Hoffnung stiftend vorführt, bringt mich in das Boston des Jahres 1887.

Edward Bellamy - Rückblick aus dem Jahre 2000 - bei Golkonda

Edward Bellamy – Rückblick aus dem Jahre 2000 – bei Golkonda

Damals erschien in den USA mit „Looking Backward: 2000-1887“ von Eward Bellamy einer der erfolgreichsten utopischen Romane und damit gleichzeitig einer der ersten

Allein in Deutschland kursierten schnell sechs Übersetzungen gleichzeitig.
. Dieser „Rückblick aus dem Jahre 2000“ ist vor einiger Zeit in einer empfehlenswerten Neuausgabe der Übersetzung von Clara Zetkin im Golkonda-Verlag erschienen.

Der Roman entstand in einer Zeit, in der die Industrialisierung rasante Fortschritte und gemeinsam mit der wachsenden Zahl von Einwanderern Arbeit immer billiger machte. Feudale Strukturen waren längst durch einen ungezügelten Kapitalismus ersetzt, der mit seinen wiederkehrenden Krisen immer und ausgerechnet die Ärmsten leiden ließ. So kamen mit dem Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit vermehrt auch sozialistische Ideen ins Land der vermeintlich unbegrenzten Möglichkeiten.

Angesichts der Arbeitskämpfe mit Streiks und Aussperrungen, die mit dem „Haymarket Riot“ von Chicago ihren tragischen Höhepunkt fanden, sah sich der Journalist und Zeitungsherausgeber Edward Bellamy gezwungen, sich konkret mit den drängenden sozialen Problemen zu befassen. So entwarf er den Gerechtigkeitsgedanken der ersten amerikanischer Einwanderer aufgreifend in Romanform das Bild eines zukünftigen (Welt-)Staates, in dem ökonomische und politische Gleichberechtigung herrschen, eine gerechte Güterverteilung keine Armut mehr kennt. Dies gelang ihm mit „Looking Backward: 2000-1887“ derart überzeugend, dass sich schnell zahlreiche „

Um dem kaum zu vermeidenden Widerspruch zu begegnen: es ging den Beteiligten nicht um unseren heutigen Begriff von Nationalismus, sondern darum, Großunternehmen zu „nationalisieren“, also zu verstaatlichen oder zu sozialisieren.
“ gründeten, die sich später auf seinen Wunsch hin in „Nationalist Clubs“ umbenannten. Auch eine Diskussionsplattform in Form einer Zeitung – „The Nationalist Monthly“ – wurde herausgegeben.

Bellamy hielt die Verwendung der Begriffe „Sozialismus“ und „Kommunismus“ in seiner Heimat für übel beleumdet, somit für kontraproduktiv und nicht verwendbar. (Einen umfangreichen Überblick zur Zeit und zu den Umständen des Erscheinens des „Rückblicks“, auf die Wirkungen des Romans und die Argumente seiner Kritiker von William Morris bis Ernst Bloch gibt das Vorwort des Herausgebers Wolfgang

Der Herausgeber Wolfgang Both (Jahrgang 1950) studierte in Ilmenau Informationstechnik und arbeitete dann über 20 Jahre in der Industrieforschung. Heute ist er Referent in einer Berliner Senatsverwaltung. Gemeinsam mit Hans-Peter Neumann & Klaus Scheffler trug er die Geschichte des DDR-Fandoms Berichte aus der Parallelwelt (1998) zusammen. Als ausgewiesener Kenner sozialistischer Utopien hat er 2008 das Standardwerk Rote Blaupausen vorgelegt. (Quelle: Golkonda-Verlag) – Auf Rote Blaupausen werde ich in späteren Folgen an dieser Stelle sicher einmal ausführlicher eingehen.
der oben angegebenen Ausgabe.)

Julian West, Bellamys Ich-Erzähler, 30 Jahre alt, ein eher gelangweiltes Mitglied der privilegierten Schicht Bostons, lässt sich aufgrund von Schlaflosigkeit von einem „Magnetiseur“ in einen künstlichen Schlaf versetzen, aus dem er zu seiner großen Überraschung nicht am 31. Mai 1887, sondern erst am 10. September 2000 erwacht. Ohne weiter auf die Einzelheiten der Geschichte einzugehen, möchte ich an dieser Stelle verraten, dass Julian West in eine Welt enormen technischen Fortschritts geraten ist. Die Industrie wurde in den Nutzen der Allgemeinheit gestellt, verwendet saubere Technologien, die die rauchenden Schlote der 19. Jahrhunderts überflüssig machen.

Schnell kamen mir beim Lesen Zukunftsentwürfe in den Sinn, die in meiner Jugend nicht selten waren. Mir wurde bewusst, warum mir ausgerechnet Bellamy so nahe ist:

Eine Nutzung des industriellen Fortschritts im Sinne einer gerechten Wohlstandsverteilung des „Rückblicks“ hallte noch in den Siebzigern des 20. Jahrhunderts als Ideal nach. Viele gingen auch damals davon aus, dass aufgrund des zu beobachtenden und stetig größer werdenden Anwachsens der Produktivität aufgrund des vermehrten Computer-Einsatzes, fortschrittlicher Maschinentechnik und

Ein Begriff, der schnell eine negative Wendung erfuhr, weil Ratio (Vernunft) nur Gewinnmaximierung für Shareholder bedeutete und eben nicht den Weg zu mehr Gerechtigkeit bahnte.
der Arbeitsabläufe weniger menschliche Arbeit nötig würde. Ich kann mich noch gut erinnern, wie man sich damals das Arbeitsleben im Jahr 2000 vorgestellte, in dem Frauen und Männer täglich mehr Zeit mit ihren Familien verbringen könnten, Arbeitsplätze auf mehrere Arbeitnehmer verteilt würden (was später unter dem Begriff des Job-Sharings bekannt wurde), die dann mit ungefähr 45 Jahren in den aktiven Ruhestand wechseln könnten. Eine Diskussion um die Erhöhung des Renteneintrittsalters wäre uns damals absurd vorgekommen, da doch schließlich die Automatisierung menschliche Arbeit zu großem Teil überflüssig mache. Die Parallelen zwischen den Vorstellungen unserer jüngeren Vergangenheit zu Bellamys Jahr 2000 sind enorm und der gesellschaftliche Fortschritt wäre hinsichtlich der tatsächlichen technischen Innovation durchaus realisierbar gewesen. Wenn man denn gewollt und die Kraft gehabt hätte, gegen die reine Kapital- und Marktorientierung anzusteuern.

Arbeitnehmer, zu denen Vater gehörte, hatten in den Siebzigern noch das Gefühl, dass es stetig aufwärts ginge. Die Arbeitsbedingungen verbesserten sich an den meisten Industriearbeitsplätzen, Löhne und Gehälter stiegen in für uns unvorstellbar großen Schritten, für das Ersparte gab es gute Zinsen und immer mehr Menschen durften sich einen Urlaub leisten, wie ihn früher nur Wohlhabende kannten. vermutlich fehlte es gerade deswegen an revolutionärem Geist, der einen nächsten Schritt möglich gemacht hätte. Gewissermaßen tappte man in eine utopistische Falle, die den Blick auf mögliche Utopien (besser: Ziele) verdunkelte. Zwischen Ölkrise, Globalisierung und der in jüngerer Vergangenheit dramatisch ausgeweiteten Finanzkrise wurde den Menschen immer wieder begreifbar gemacht, dass der Wohlstandsfortschritt zumindest Pausen einzulegen hatte, man „Lohnzurückhaltung“ üben und längere Arbeitszeiten hinnehmen müsse. Quer durch fast alle Parteien und Presseorgane geht diese Parole im Dienste eines in seiner scheinbaren Unumstößlichkeit ominösen Wachstumsbegriffs, der in die Unendlichkeit strebt. Der heutige, neoliberal dominierte Kapitalismus duldet kein Ziel, kein Utopia, sondern versucht mit großem Erfolg Zufriedenheit zu einem Schimpfwort zu machen, indem sie in unanständiger Weise mit Stillstand gleichgesetzt wird. Einer der Religion des ewigen wirtschaftlichen Wachstums scheut Zufriedenheit wie der Teufel das Weihwasser. Neid hingegen, gepaart mit der Erziehung zum

Dies sind wichtige Grundsätze neoliberalen Lebens: Jeder soll an seine Chance glauben, Solidarität ist ein Hindernis für die Karriere und für die Altersversorgung und eventuelle Krankheit muss mehr „Eigenverantwortung her.
ist der Motor der Wirtschaft.

In Belamys idealem Weltstaat wurde der Zustand der Zufriedenheit erreicht. Kein Marktschachern, kein Neid schürendes Streben Gewinn oder höherem Einkommen stört die allgemeine Friedlichkeit des genossenschaftlichen Gemeinwesens, in dem grundsätzliche Gleichheit in Rechten und Pflichten herrscht. Zwar stößt es etwas unangenehm auf, dass nur verdiente Männer in Führungspositionen des Staates gelangen, Frauen hiervon ausgeschlossen scheinen, doch sollten wir diesen leicht zu behebenden Mangel der Entstehungszeit des Romans schulden. Auch erschreckt die Wortwahl, wenn davon die Rede ist, dass die Menschen (allerdings nur bis zum 45. Lebensjahr und immer unter Berücksichtigung ihrer Neigungen und Fähigkeiten) in den Dienst einer militärisch organisierten Industriearmee gerufen werden. Doch man sollte bedenken, dass klare Organisationsstrukturen früher einzig aus dem militärischen Bereich bekannt waren, weshalb zum Beispiel die heute noch so bezeichnete Logistik militärischen Ursprungs ist. Da die Güterproduktion und -Verteilung dem Gemeinwohl zu dienen hat, keine Über- oder Unterversorgung entstehen soll, ist die Anforderung an die Organisation der Arbeit ebenso anspruchsvoll wie im Geiste der Profitmaximierung. So gibt es ein ausgeklügeltes Ausbildungssystem, das die Fähigkeiten und Neigungen der Einzelnen stets berücksichtigt.

Da Bellamy in seinem idealen Wirtschaftssystem das

Zitat von Seite 112/Kapitel 9: „Das Geld blieb stets gleich viel wert, mochte es durch Diebstahl, Mord oder durch fleißige Arbeit erworben sein, mochte es sich in den Händen eines Schurken oder eines ehrlichen Mannes befinden.“
abgeschafft hat, gilt es nicht mehr als Motivations- und auch nicht als Druckmittel in der Arbeitswelt. Vielmehr kann man sich über seine Leistung und dem Nachweis der Qualifizierung für angenehmere Arbeiten empfehlen. Eine „Bezahlung“ erfolgt in Form einer
Ganz nebenbei gilt Edward Bellamy als Erfinder der Kreditkarte. In seinem Fall ist sie eine Anrechtskarte, die Bezahlung damit entspricht keinem Geldwert, sondern einem Tauschwert. Sie ist also kaum mit der erstmals 1924 von Western Union angebotenen Kreditkarte zu vergleichen.
nicht für geleistete Arbeit, sondern dafür, dass man ein Mensch ist. Die Nähe zum derzeit immer wieder geforderten bedingungslosen Grundeinkommen ist unverkennbar.

Werbung ist aufgrund fehlenden Konkurrenzdenkens überflüssig geworden. Die Warenproduktion erfolgt aufgrund intensiver statistischer Erhebungen streng nachfrageorientiert. Bellamy verurteilt die in seinen Augen kapitalismustypische Produktion überflüssiger Güter zur Gewinnmaximierung, die nur mittels Werbung, also durch künstlich erweckten Bedarf an die Kunden gebracht werden können, damit überflüssig Arbeitskraft bindet und Unredlichkeit fördert. Eingekauft wird in von allen Bürgern schnell erreichbaren, sehr gut sortierten und luxuriös ausgestatteten Warenhäusern, die Muster aller verfügbaren Güter bereit halten. Bestellungen werden von dort via Rohrpost an ein Zentrallager gesandt. So können auch abseits der Metropolen alle möglichen Produkte angeboten werden. Kaum auszudenken, wie gut Bellamy unser Internet gefallen hätte! Es dürfte sich nicht nur in diesem Punkt lohnen, den „Rückblick“ Bellamys mit unseren Erfahrungen anzureichern und anzupassen, eine Fortsetzung zu finden.

Aufgrund all der eingesparten Arbeitszeit und des Wohlstands sind kulturelle Genüsse ein wichtiger Aspekt in Bellamys Utopie. So befindet sich in jedem Haus ein Musikzimmer, in das mittels

Als Ballamys seinen Roman verfasste, war die Telefonie eine ganz junge Technik und hatte noch keine Verbreitung gefunden. Mehr unter Wikipedia
zu jeder Tageszeit Livekonzerte in hervorragender Tonqualität übertragen werden. Music on Demand würden wir es heute wohl nennen.Mit weiteren technischen Errungenschaften des 20, Jahrhunderts geht Bellamy recht sparsam um. Im liegt es mehr an der Ausgestaltung der neuen Gesellschaftsordnung und nicht an Science Fiction.

So zeigt sich der Geist seiner Utopie besonders auch in den Bereichen Bildung und Erziehung, wo es als Devise gilt, dass die mit weniger natürlichen Gaben Versehenen eine intensivere Förderung benötigen als die Begabten, da Intelligente nach Ansicht Bellamys von sich aus nach Bildung streben. Im Staat des Jahres 2000 ist allgemeine Bildung ein Ziel, das im Interesse Aller liegt. Wer mag ihm da widersprechen?

Leider gibt uns Bellamy nur vage Hinweise auf eine größtenteils friedliche, evolutionäre Entwicklung, die diese neue Gesellschaftsform entstehen ließ. Da uns mit einem Utopia ein zu erreichendes Idealziel geboten wird, halte ich es für legitim, wenn der Autor den Weg von uns Lesern definieren lässt, wenn sie mit seinem Ideal einverstanden sind.

Vorher sei die Lektüre von Edward Bellamys „Rückblick aus dem Jahre 2000“ unbedingt angeraten.




Soll eine Sondersteuer fast alle Autofahrer schröpfen?

von Dirk Jürgensen ...

Ein bayrischer Geheimplan?

– Wer will behaupten, Politiker und deren Beratungsstäbe seien erst seit der Wiedervereinigung Deutschlands und der Schaffung des Euro-Stabilitätspakts ständig unterwegs, um neue Geldquellen zu erschließen? Früher, behaupten die Älteren gerne, war alles besser. Früher, beim dicken Wirtschaftsminister

Ludwig Wilhelm Erhard (* 4. Februar 1897 in Fürth; † 5. Mai 1977 in Bonn) war ein deutscher Politiker (CDU), von 1949 bis 1963 Bundesminister für Wirtschaft und von 1963 bis 1966 zweiter Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Mehr auf Wikipedia
mit seiner Zigarre, da gab es noch Gerechtigkeit und ein Wirtschaftswunder. Ein richtiges, das mit unserem nicht zu spürenden Aufschwung aufgrund der tollen Krisenbewältigung nicht zu vergleichen war. Da sprudelte das Geld kräftig in die noch jugendlichen öffentlichen Kassen.

Quick - Eine neue Sondersteuer

Titel der Illustrieten Quick vom 22.11.1958

Denkste. Zum Beispiel im Jahre 1958. Deutschland wurde bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Schweden von Brasilien als Weltmeister abgelöst, obwohl man in der Vorrunde Argentinien klar mit 3:1 besiegte – kurz: Deutschland wurde so langsam wieder wer. Aus den nach und nach überbauten Ruinen wuchs die Wirtschaft zur Blüte. Trotzdem wuchsen wohl die Staatseinnahmen nicht wie erhofft oder erwartet mit und man begab sich auf die Suche nach neuen Einnahmequellen.

Torsten Albig (* 25. Mai 1963 in Bremen) ist ein SPD-Politiker. Von 2009 bis 2012 war er Oberbürgermeister der schleswig-holsteinischen Landeshauptstadt Kiel. Seit 12. Juni 2012 ist er Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein.
sollte erst fünf Jahre später das Licht der norddeutschen Welt erblicken, aber eine besondere Bevölkerungsgruppe um
“Otto Normalverbaucher ist eine fiktive Person mit den durchschnittlichen Bedürfnissen der Gesamtbevölkerung.“ Mehr auf Wikipedia.
herum begann sich dennoch schon damals als „Melkkuh der Nation“ zu fühlen. Wie sich die Zeiten nicht ändern…

Am 22. November 1958 titelte das Magazin

Quick war eine von 1948 bis 1992 wöchentlich erscheinende Illustrierte. Mehr auf Wikipedia
mit einer Schlagzeile, die die jüngst so viel Staub aufwirbelnde Albig-Idee eines „Schlagloch-Solidarbeitrags“ langweilig erscheinen lässt. Kein Wunder, denn die vom Quick aufgedeckte Ärgernis stammt aus Bayern. Dort ist man nicht erst seit
Horst Seehofer (* 4. Juli 1949 in Ingolstadt) ist ein CSU-Politiker. Seehofer war von 1992 bis 1998 Bundesminister für Gesundheit und von 2005 bis 2008 Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Seit Oktober 2008 ist er Ministerpräsident des Freistaates Bayern und Vorsitzender der CSU.
immer auf einer anderen Spur unterwegs.

Hilferuf an alle: Eine neue Sondersteuer

Neuer Angriff auf unseren Geldbeutel geplant:

Laternen-Garagen-Steuer
Quick warnt vor einem neuen Steuerplan: Wer keine Garage hat und nachts sein Auto auf der Straße abstellt – der soll dafür zahlen. Vorerst droht diese Sondersteuer nur in Bayern, aber sie würde in anderen Bundesländern schnell Schule machen. […]

Die modernen Wegelagerer
Autofahrer, baut euch Garagen! Es kann teuer werden, den Wagen nachts auf der Straße abzustellen. Findige Beamte in Bayern hatten eine gefährlich-verführerische Idee: die „Laternengaragen-Gebühr“. Mit ihr, so glauben sie, lassen sich die chronisch leeren Steuersäckel der Städte und Gemeinden füllen. […]

Das Fundament
für eine neue Gebühr, die nichts anderes wäre als eine Sondersteuer, bildet der Artikel 14 Absatz 3 des bayerischen Straßen- und Wegegesetzes. (Gemeingebrauch liegt nicht mehr vor, wenn der Gemeingebrauch anderer ausgeschlossen oder mehr als unvermeidbar beschränkt wird. Das gleiche gilt, wenn die Straße nicht vorwiegend zum Verkehr, sondern zu andern Zwecken benützt wird.) Wie der Artikel ausgelegt werden kann, sagt deutlich das „Organ der kommunalen Spitzenverbände in Bayern“. (Wegen der Verkehrsnot in den Städten war es deren besonders Anliegen, das Parken nicht uneingeschränkt zum Gemeingebrauch zu rechnen. Diesem Verlangen hat das BayStrWG in Art. 14 voll entsprochen, indem es bestimmt, daß dann kein Gemeingebrauch besteht, wenn der Gemeingebrauch anderer ausgeschlossen wird.) Ein Zeitungsbericht über eine Bürgermeisterversammlung ergänzt die Drohung an die Autofahrer. (…neue Gesetz und stellte dabei fest, daß die darin angeführten sogenannten Sondernutzungen „ausgezeichnete Möglichkeiten bieten, den Gemeindesäckel zu füllen“. Beispielsweise sei das Dauerparken unter öffentlichen Laternen mit dem Begriff „Gemeingebrauch“ nicht zu vereinbaren; die Gemeinden hätten also das Recht, für diese „Laternengaragen“ eine Gebühr zu erheben.)

Wer sich durch das mühselige Amtsdeutsch gearbeitet hat, wir nun vielleicht aufschreien und sagen: „Was soll denn diese Aufregung? Ich bezahle doch schon seit Jahren Geld an meine Stadt für diesen elenden Anwohner-Parkausweis.“ Stimmt genau! Nur bezahlt der Anwohnerparker, der übrigens heute korrekt ausgedrückt Bewohnerparker ist, weil das Bundesverwaltungsgericht 1998 das bisherige Verfahren des Anwohnerparkens für rechtswidrig gehalten hat, allein für sein Privileg dort zu parken, wo es andere nicht dürfen. So weit war man 1958 noch nicht. So einfach stellte man es sich nicht vor. Damals durfte man sich noch Gedanken darüber machen, wie unmöglich und mit welchem Aufwand verbunden das Eintreiben einer solchen Sondersteuer wäre. Einerseits wird die gewollte Ironie des Beitrages mit heutiger Erfahrung kaum noch spürbar, dafür gewinnt er eine neue, unfreiwillige:

Am Anfang ist das Amt
In diesem Fall das Laternen-Garagen-Aufsichts-Amt (LGAA). Ein Amt erfaßt. In diesem Fall die garagenlosen Autofahrer. Keine Statistik berichtet, wieviel Autofahrer es gibt, die keine Garage finden oder die einfach die Garagenkosten sparen wollen. Wie werden sie erfaßt? Entweder: Jeder Autofahrer muß sich melden und eine Garage nachweisen – oder keine. Oder: Viele Aufsichtsbeamte lauern Nacht für Nacht an den Rinnsteinen. Oder: Die neidischen Hausbewohner denunzieren die Autobesitzer. – Wie wird die Steuer kassiert? Entweder gibt das LGAA Laternen-Garagen-Nutzungs-Plaketten aus. Oder es vermietet abgegrenzte Parzellen am Straßenrand (für 20 Mark – heute ungefähr 10 Euro – im Monat beispielsweise). Oder es nagelt Schilde an die Hauswände. Oder es stellt besondere Park-Erlaubnisschilder auf. Oder jeder Ertappte muß an Ort und Stelle bezahlen. […] Rechtsanwalt Dr. Gritschneider sagt: „Der Steuerplan ist praktisch nicht durchführbar. Angenommen, alle ‚Garagenlosen’ werden erfaßt. Das allein kostet mehr, als die Steuer einbringen kann. […]

am Ende ein Auto-Krieg
Angenommen, es werden Plaketten für die Windschutzscheibe ausgegeben. Dann müssen sich die Gebühren für die Plaketten unterscheiden in: Gebühr für eine Laternen-Garage unter einem Laubbaum (Regenschutz im Sommer), unter einem Nadelbaum (Regenschutz im Sommer und im Winter), ohne Baum, Garagen unter Laternen, die bis morgens brennen, und Garagen unter Laternen, die früher ausgeschaltet werden. Angenommen, es werden Parzellen vermietet. Dann muß die Gebühr außerdem gestaffelt werden nach Breite und Länge des Wagens. Dann muß verhindert werden, daß geschäftstüchtige Leute ganze Straßen pachten und weitervermieten. Dann müssen die parkenden Fahrzeuge ständig kontrolliert werden. Das neue Amt würde zu einem Wasserkopf mit folgenden Abteilungen: Verwaltung, Erfassung, Plaketten-Ausgabe (bzw. Parzellen-Anmaler- bzw. Schildanbringungsrefarat), Kontrolle, Beschwerde, Fahndung, Revision. Ein solches Amt würde den wildesten Autokrieg auslösen. Es gibt nur ein Mittel, diesen juristischen Drahtverhau zu verhindern: Die steuerschwachen Gemeinden verzichten darauf, Hunderttausende Autofahrer auszunehmen…

Ach wie kompliziert! Dabei ist Einiges trotz der Befürchtungen und „provokanten“ Anmerkungen längst Wirklichkeit geworden, denn unsere Gegenwart macht es viel einfacher. Es könnte einem in den Sinn kommen, dass jetzt in Zeiten grenzenlos vernetzter Computer, GPS und satellitengestützter Mautstationen sogar noch viel mehr mit weniger Verwaltungsaufwand möglich wäre, als man es 1958 erahnen konnte.

Doch denken wir lieber nicht zu laut an Innovation! Die nächsten Legislaturperioden werden garantiert auch ohne unser Zutun vor Ideenreichtum glänzen. Und wenn gerade in kein Gammelfleischskandal, keine WM oder ein anderer Skandal in diesem unseren Lande die Sinne ablenkt, bekommen die Bürger es vielleicht sogar mit, bevor die Auswirkungen zu spüren sind. Herr Albig hatte wohl das Pech, dass NSA und Ukraine trotz immenser Medienpräsenz weit entfernt scheinen.




Europa wählen!

von Dirk Jürgensen ...

Eine Wahl gegen Ressentiments – und gegen den Lobbyismus

– Lange war ein vereintes und friedliches Europa ein Ziel, das unerreichbar schien. Immer wieder wurde das friedliche Neben- und Beieinander durch nationalistische Interessen durch das Fördern von Ressentiments, von tatsächlicher oder vermeintlicher Ungerechtigkeit verhindert. Inzwischen können wir unsere Nachbarn in Europa Freunde nennen, haben sogar eine gemeinsame Währung, können ohne Formalitäten quer durch unseren Teilkontinent bis nach Portugal reisen und sogar bleiben, wo es uns gefällt. Bei aller begründeter Kritik ist Europa ein Gut, das wir gegen alle nationalstaatlichen Rückwärtsbewegungen verteidigen müssen!

Am 25. Mai 2014 wählen wir ein neues Europa-Parlament.

Wir wählen ein Parlament, dessen Abgeordnete lernen müssen, wer die von uns so geschätzte Demokratie ausmacht, wer über die Politik zu bestimmen hat. Das Parlament wird nicht von global tätigen Konzernen, von Aktionären nach dem Gewicht ihrer Anteile und nicht von wirtschaftlichen Interessenverbänden gewählt, sondern von den Bürgerinnen und Bürgern der einzelnen Mitgliedsstaaten.

Gangsterbank - Graffito in Düsseldorf - Foto ©Dirk Jürgensen

Graffito in Düsseldorf – Foto ©Dirk Jürgensen

Als „Das vergoldete Zeitalter“ 1876 in deutscher Sprache erschien, kannte hier noch niemand den „Lobbyisten“. Daher wurde dieser damals in den USA bereits gängige Begriff mit „Intriganten des Foyers“ übersetzt. Wir sollten diese Übersetzung wieder häufiger einsetzen, denn die bloße Übernahme aus dem Englischen kommt recht weichgespült daher, wenn man an die täglich zu beobachtenden Folgen des Lobbyismus betrachtet.

Ich denke, mehr noch als die ausufernde und fraglos einzudämmende Bürokratie sind es diese „Intriganten“, die uns den Spaß am vereinten Europa verderben, die unsere Parlamentarier dazu bringen, Lobbyinteressen vor Bürgerinteressen setzen und so europafeindliche Tendenzen schüren. Daher möchte ich auf eine E-Mail hinweisen, die ich eben von der Organisation LobbyControl erhielt, die mit einer neuen Kampagne Kandidaten der Europawahl an eine ihrer wesentlichsten Aufgaben erinnern und Einfluss auf sie nehmen will. Bitte machen Sie bei dieser Aktion mit, helfen Sie beim Erhalt der großen Idee Europa mit – und ganz wichtig.

Wählen gehen!

„Brüssel ist die Hauptstadt des Lobbyismus in Europa. Täglich nehmen dort schätzungsweise 15.000-25.000 Lobbyisten Einfluss auf die EU-Politik. Dabei dominieren Unternehmenslobbyisten und deren Interessen. Die Anliegen von Bürgerinnen und Bürgern hingegen fallen oft unter den Tisch.
Damit sich daran etwas ändert, brauchen wir wachsame Europaabgeordnete, die sich für mehr Transparenz und gegen Lobbyismus der Banken und Konzerne in der EU einsetzen. Am 25. Mai wird das Europaparlament neu gewählt. Und hier können Sie einen Unterschied machen.
Fordern Sie jetzt, zu Beginn des Wahlkampfes, die Kandidaten auf, sich in den kommenden fünf Jahren für die Interessen der Bürgerinnen und Bürger einzusetzen und Europa vor dem Einfluss der Unternehmenslobbyisten zu retten:

https://politicsforpeople.eu/germany/

Mit der Kampagne „Politics for People“ setzt sich LobbyControl in einem europaweiten Bündnis für striktere Regeln für Lobbyisten und mehr Transparenz ein. Die Kampagne ist ein gemeinsames Projekt unserer Allianz für Lobby-Transparenz und Ethische Regeln (ALTER-EU) und weiterer Partner. Wir hoffen, dass viele Menschen aus ganz Europa die kommenden Europaabgeordneten auffordern, sich gegen einseitigen Lobbyismus zu engagieren.
Denn viele Gesetze nehmen ihren Ausgang in Europa. Deshalb brauchen wir mehr Transparenz und Schranken für den Lobbyismus auf europäischer Ebene. Setzen Sie ein Zeichen und fordern Sie die Kandidaten auf, sich gegen den Lobbyismus von Konzernen und Banken einzusetzen:

https://politicsforpeople.eu/germany/

Vielen Dank für Ihre Unterstützung
Max Bank
EU-Referent“




Le Grand Bordel oder das große Durcheinander

 von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...

Eigentlich soll es nur ein Kochbuch sein

Le Grand BordelEs war unter „Kochbücher“ einsortiert, Leineneinband, Lesebändchen, Goldprägung. Mein Sensor für schöne Bücher schlug an und signalisierte „Aufblättern“, „Anschauen“, „Anfühlen“. Und schon hatten sie mich, die beiden Restaurantbetreiber der „Brasserie La Provence“ aus Hamburg, Stephan Hippe und Boris Krivec. Denn was mir gleich danach
ins Auge stach, waren wunderschöne Fotografien, ein ungewöhnlicher Satz, eine schöne Typo und ein wunderbares Konzept mit einem gekonnt geschriebenen Text. Judith Stoletzky und Gert George sind also mindestens ebenso mit Lob zu bedenken. Nicolas Polverino verdient einen Orden… aber die Liste würde lang, würde ich jetzt zu Lobeshymnen für alle Beteiligten ansetzen. Das tun die Autoren außerdem selbst zum Ende des Buches und das zu Recht! Die Geschichten rund um „Le Grand Bordel“ verleiteten mich mehr als einmal zum Schmunzeln, verschafften mir Fernweh und vor allem machten sie mir Appetit auf das, was am Ende des Buches auf mich wartete: 73 herrliche Gerichte bugsieren jeden in die Küche, machen Lust auf Freunde, Kochen und Frankreich, auch wenn es mitten in Hamburg liegt! Weiterlesen




Medaillenspiegelei – Wie Deutschland wieder gut dasteht

von Dirk Jürgensen ...

Vom Nutzwert eines Medaillenspiegels

Dass derzeit die Paralympics in Sotschi ohne nennenswerte politische Meinungsäußerung der Athletinnen und Athleten stattfinden, ist ein nicht zu vernachlässigendes Thema. Der Hunger nach Bestätigung der eigenen Leistung macht aus Sportlern Egoisten. Dass zudem die deutschen Massenmedien immer dann ihre Kritik zurückfahren, wenn Medaillenerfolge „unserer“ Olympiamannschaft zu vermelden sind, verstärkt mein Unwohlsein und gibt mir Hinweise darauf, dass ein propagandistischer Erfolg der Spiele nicht von der Hand zu weisen ist. Bei vorliegendem Erfolg mag man nicht mehr die Umstände anprangern und bei einer Enttäuschung will man von ihnen auch nichts mehr wissen.

Die Olympiaflagge. Eigentlich zählt doch nur der eigene Erfolg.

Die Olympiaflagge. Eigentlich zählt doch nur der eigene Erfolg.

Totalitäre Regime und Demokratien nutzen den Medaillenspiegel gleichermaßen als Reklame für sich und ihre positive Ausstrahlung auf die Welt und noch mehr auf die eigene Bevölkerung. Wenn die Leistung im Sport stimmt, dann kann es mit dem Leid politischer Gefangener, der Unterdrückung von Minderheiten, der Einschränkung der Meinungsfreiheit und der rücksichtslosen Verhängung der Todesstrafe nicht so schlimm sein.

Wie gehen wir mit den uns vorgelegten Medaillenspiegeln um? Was sind sie uns wert und wie gehen wir mit der Ablenkung um, für die sie verwendet werden? Am Ende der Olympiade in Athen 2004 war das Wehklagen beispielsweise groß. Dort, so meldeten die Gazetten damals, hätten die deutschen Olympioniken jämmerlich versagt. Sie jammerten in einer Zeit, da sie uns gleichzeitig immer wieder in Bereichen der Politik und der Wirtschaft ein typisch deutsches Jammer vorwarfen, das uns am Aufschwung hindern sollte.
Ich konnte damals nur mit meiner Provokation unter dem Titel „Medaillenspiegelei – Wie Deutschland wieder gut dasteht“ reagieren und fühle mich heute aufgrund ihrer weiterhin bestehenden Aktualität bestätigt. Obwohl. Werden Medaillenspiegel überhaupt noch wahrgenommen? Weiterlesen




Wen interessiert die Olympiade in Sotschi?

von Dirk Jürgensen ...

Eishockey

„Höchstens Eishockey gucke ich mir an. Aber sind die Deutschen überhaupt dabei?“
Foto: ©Dirk Jürgensen

Der mediale Hype um eine Olympiade voller Nischensportarten läuft heiß. Satte 740 Stunden wollen ARD und ZDF live aus dem subtropischen Sotschi und den etwas kühleren Bergen der weiteren Umgebung berichten. Mehr als je zuvor anlässlich von Winterspielen. Dabei werde ich das Gefühl nicht los, dass es sich um vergebene Liebesmüh, um rücksichtslose Verschwendung von Werbegeldern und Rundfunkgebühren handelt. Ich vermute auch, dass es eine verschwindend kleine Minderheit sein wird, die nur einen Bruchteil dieses Sendemarathons hinter sich bringen mag. Stehe ich mit meiner Ansicht allein im ewigen Herbst des Winters 2013/2014? Um zu prüfen, ob die „Putiniade“ wirklich ein mediales Desaster werden könnte oder ob der Brutalkapitalismus Russlands sein hübsches Gesicht zu zeigen imstande ist, habe ich eine kleine und daher nicht repräsentative Umfrage gestartet und dabei solche Antworten geerntet:„Nö, Sommerolympiade geht noch, aber die im Winter interessiert mich nicht.“

„Meine Frau will immer Eiskunstlaufen angucken, weil man sich so herrlich über die Schiebung bei der Punktevergabe aufregen kann. Ich habe im Keller einen Zweitfernseher.“

„Vielleicht Eisstockschießen oder Curling, wie das jetzt heißt. Das ist so komisch, wenn die mit den Besen das Eis fegen und irgendwie diesen Quatsch so wichtig nehmen.“

„Ohne Fußball ist Sport öde. Bundesliga und Zweite Liga sind wichtiger. Läuft ja zum Glück weiter.“

„Ich hoffe ja noch immer darauf, dass sich ein paar Sportlerinnen und Sportler bei der Siegerehrung die Regenbogenfahne ans Trikot heften. Aber vermutlich sind alle zu feige“

„Das sind alles Sportarten, die sonst auch kaum jemanden interessieren. Warum sollte das ausgerechnet zur Olympiade anders sein?“

„Nein, die Zeiten von ‚Wo ist Behle‘ und ‚Sie standen an den Hängen und Pisten/pissten‘ sind längst passé.“

„Höchstens Eishockey gucke ich mir an. Aber sind die Deutschen überhaupt dabei?“

Das klingt recht eindeutig. Auch ich würde mich freuen, wenn „unsere“ Athletinnen und Sportler ihre Solidarität mit ihren schwulen und lesbischen Kolleginnen und Kollegen bekundeten. Es wäre kaum vorstellbar, dass Putin sie nach dem Wettkampf verhaften ließe. Andere haben nicht diese Möglichkeiten der gefahrlosen Meinungsäußerung. Der folgende Ärger mit dem eigenen Verband dürfte zu ertragen sein.

Die Diskussion sollte nun eröffnet sein.




Wuschsch und Klönggg sind keine Kunstgriffe!

von Dirk Jürgensen ...

Eine offene Schelte an CSI und CIS

Liebe Produzenten von Krimiserien, liebe Kriminal-Redakteure der Fernsehsender,

Wuschsch und Klönggg

Ich bin, sollte das Drehbuch tatsächlich einer einigermaßen sinnvoll konstruierten Geschichte folgen, nicht zu blöd, einen Szenenwechsel als solchen mitzubekommen. Dieser muss nicht durch ein den Schnitt begleitendes Geräusch erklärt werden. – Text und Foto: © Dirk Jürgensen

mir gehen all Eure CSI/CIS-Originale und -Derivate gehörig auf die Nerven. Länger als nur wenige Minuten kann ich ihnen nicht beiwohnen. Diese ach so modernen amerikanischen Filme erzeugen genervte Langeweile. Doch ihre Machart sowie die unweigerliche Werbeunterbrechung, die der Erholung dienen soll, nein, der Bestätigung, dass ein Um- oder Ausschalten die beste Wahl ist, sollte eingehend betrachtet werden.

Sollten Ihr mich fragen, warum ich so ungehalten reagiere, liste ich gerne einige meiner Hauptärgernisse auf:

1. Meine in Würde gealterten Augen sind noch immer in der Lage, einen Kameraschwenk als solchen zu registrieren. Dessen akustische Untermalung mit einem „Wuschsch“, so, als würde die Bewegung des Aufnahmegeräts eine extreme Luftverwirbelung mit einem entsprechenden Geräusch erzeugen, ist nicht nur als überflüssig anzusehen, sondern lenkt mich mit der Frage über dessen Ursprung und Sinn vom vorgeführten Kriminalfall ab.

2. bin ich, sollte das Drehbuch tatsächlich einer einigermaßen sinnvoll konstruierten Geschichte folgen, nicht zu blöd, einen Szenenwechsel als solchen mitzubekommen. Dieser muss nicht durch ein den Schnitt begleitendes Geräusch erklärt werden. Ich meine jenes Geräusch, das mir seit einiger Zeit auch aus der Autowerbung (Audi oder BMW, Vorsprung durch Technik bei Freude am Fahren – ich weiß es nicht mehr und es ist mir egal) bekannt ist. Wem ist es nicht bekannt? Es klingt, als würde der Heizungsmonteur im Keller gegen die Rohre schlagen, um dem Hausmeister auf der Etage das Ende seiner Frühstückspause zu dokumentieren. Ein nachhallendes „Klönggg“ – schon wechselt der Blick vom Präsidium zum Tatort, oder es wird ein neues Datum eingeblendet. Geht das nicht auch ohne, oder will man die längst eingeschlafenen Zuschauer pünktlich vor der nächsten Werbung geweckt wissen?

3. verstehe ich überhaupt nicht, warum und auch wann die Serienkommissariate trotz international verbreiteter Haushaltsschwäche der Kommunen mit transparenten Flipcharts ausgerüstet wurden. Ich akzeptiere den eventuellen Einwand der Filmemacher, die Realität sei viel zu langweilig und trist und müsse aufgepeppt werden, doch es geht sicher mit etwas mehr Glaubwürdigkeit. Zugegeben, einen Vorteil haben die Dinger: Die Kamera kann von der Rückseite hindurchschauen und somit ungemein spannende Blickwinkel auf die attraktive, möglichst aus allen ethnologischen Gruppierungen des Handlungslandes bestehende Polizistencrew bieten. Einen anderen, der Arbeit dieser Ermittler dienenden und daher sinnvollen Grund, können Anschaffungen solcher sicher nicht billigen Tafeln nicht haben.

4. Ebenso halte ich es, da die hier kritisierten Sendungen nicht der Science Fiction zugeordnet werden können, für einen übertriebenen Modernismus und aufgrund ihrer fehlenden ergonomischen Vorzüge für bloße Effekthascherei, wenn die eben erwähnten gläsernen Flipcharts auch noch mit transparenten Touch-Screens ausgestattet werden, auf denen Fotos von Verdächtigen, Opfern und sonstigen Fundstücken unter fadenscheinigen Begründungen in Beziehung gesetzt und entsprechend verschoben werden.

5. nerven mich ständige Rückblenden und Erinnerungsfetzen oder schlimmstenfalls gar Visionen der Täter oder Ermittler. Diese werden ebenfalls mit dem unter Punkt 1 angeführten „Wuschsch“ und zusätzlich mit einer veränderten Bildauflösung oder Farbpalette dokumentiert. Was vielleicht in den Anfangsjahren des elektronischen Effekts noch als Kunstgriff galt, ist heute nur noch eine Notlösung und ein Beweis von Phantasielosigkeit. Ist der Regisseur also ratlos und weiß nicht, wie man eine Geschichte durch Handlung, durch Agieren der Schauspieler, durch geschickte Dialoge innerhalb einer viel zu kurzen Folge entwickeln, darstellen oder fortführen soll, „Wuschsch“ blendet man ein paar Bildfetzen ein. Ziemlich billig.

6. können Computer in Krimis ganz einfach zu viel. So, wie Fotos beim Heranzoomen immer schärfer und nicht immer verpixelter werden, recherchieren und kombinieren sie selbständig und ohne jede Datenschutzüberprüfung in allen Datenbanken überall, sodass die um sie herum versammelten Cops eigentlich arbeitslos sein müssten. Sicher, schon Sherlock Holmes ließ die Leser seiner Fälle aufgrund vollkommen unerwarteter Kombinationen mitsamt vorher nicht bekannter Einzelheiten über seine Intelligenz staunen, aber muss man das auch noch in einer heutigen Krimiserie dulden?

7. Wie die Computer zu intelligent sind, sind auch die Labore der Gerichtsmediziner viel zu sehr einem Raumschiff des 23. Jahrhunderts zuzuordnen. Wer die Gelegenheit erhält, ein real existierendes Polizeipräsidium oder Universitätsinstitut zu besuchen, kommt völlig entgegengesetzt ins Staunen.

8. sind Pathologen oder gerne auch Coroner stets verschrobene, schrullige Typen. Und wenn nicht, dann müssen sie diesem mühsam aufgebauten Klischee als außerordentlich attraktive Frau oder als Pippi Langstrumpf in Schwarz diametral entgegenstehen. Sie prüfen in höllischer Geschwindigkeit alles und viel mehr als man von ihnen erwarten kann.

9. scheint das Budget für ihre Arbeit grenzenlos und nicht durch die teuren Flipcharts der ermittelnden Kollegen beeinträchtigt.

10. besitzt jede oder jeder Einzelne von ihnen mindestens ausgereifte Kenntnisse in Gentechnik, Chemie, Physik, Statistik und Informatik, weiß alle internationalen Fälle aus der Vergangenheit auswendig, findet immer irgendwelche Nebensächlichkeiten, die niemand bisher untersuchte. Zudem werfen Pathologen eher verschleiernd denn erklärend mit Fachbegriffen um sich, deren Bedeutung ich gerne nachschlagen würde, doch macht das nächste „Wuschsch“ oder „Klönggg“ dem Ansinnen ein Ende und auch den Polizisten fehlt offenbar die Zeit dazu. Vermutlich nicht ohne Grund, denn hier verhalten sich moderne Krimis endlich einmal wie das wahre Leben, in dem manch Fremdwort nur ein flehender Schrei nach etwas Bewunderung ist. Und bewundern sollen wir sie doch, die Protagonisten. Ich gehe im Übrigen davon aus, dass die meisten im Film verwendeten fremdartigen Begriffe einer Überprüfung nicht standhalten könnten. Doch welchen Sinn hätten sie noch außer des Eindruckschindens? Meiner Vermutung nach soll der übertriebene Gebrauch von Fachtermini, vergleichbar mit der sinnfreien Verwendung stereotyper Bild- und Toneffekte, Mängel in der Geschichte ausbügeln. Kein Zuschauer wird nachfragen und wenn Nichterklärtes den nur rudimentär existierenden Handlungsstrang verkürzen hilft, bleibt mehr Zeit für die Werbung. „Wuschsch“ – nein, „Klönggg“.

Es mag sein, liebe Produzenten und TV-Krimi-Redakteure, dass die Mehrheit der Konsumenten meinen Unmut keinesfalls teilt oder gar der Meinung ist, Spannung sei einzig und allein mit Effekten zu erzielen. Sie würden mir mit diesem Argument den Erfolg Ihrer Sendungen erklären, wenn auch nicht rechtfertigen. Hitchcock unterschied einst Surprise (Überraschung – ein unerwartetes Ereignis) vom Suspense (Spannung – die Erwartung eines Ereignisses ohne sein Eintreffen), doch sogar die Wirkung der Überraschung geht im ach so modernen Effektgewitter unter. Dabei, da möge mir Hitchcock verzeihen, wäre selbst eine später nachvollziehbare Überraschung als positive Filmerfahrung zu bezeichnen.

Vielleicht aber schaut und hört einfach niemand mehr hin, vielleicht mag in einer Welt, in der so viel geschieht, niemand mehr mit seinen Gedanken einer Geschichte folgen? Das könnte Ihnen, liebe Verantwortliche, durchaus eine Sinnkrise bescheren, denn wozu machen Sie die Filme dann noch? Zur Unterbrechung der Dauerwerbung? Ich weise in diesem Fall mit klammheimlicher Freude jede Verantwortung von mir und betrachte die Sache als erledigt, … bis mir irgendwann einmal eine vertrauenswürdige Person erzählt, sie habe eine völlig neue Krimiserie origineller Machart entdeckt, die ich mir unbedingt einmal anschauen sollte. Bis dahin könnte das Warten vermutlich spannender als jeder Ihrer Krimis sein.

Am 31.10.2011 auf Einseitig.info fast genau so erschienen und noch immer aktuell.