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Der Apfel vom Jensenhof

Besuch aus der Karibik

Der vorläufige 10. Teil der Norderschauholm-Chronik

  von Dirk Jürgensen …

Äpfel © Jürgensen - DüsseldorfDer stattliche Dreiseithof am Ortseingang fällt auf. Seit einigen Jahren wird er von einer jungen zugereisten Familie bewirtschaftet. Die einzige zugereiste Familie mit den einzigen Kindern weit und breit. Ein Mädchen und ein Junge, die beide demnächst den weiten Weg zur Grundschule auf sich nehmen müssen, denn Norderschauholm hat seit vielen Jahren keine Schule mehr. Ich verstehe die Sorgen der Einheimischen, dass es so nicht weitergehen kann. Vielleicht muss man wirklich zu den alten Traditionen zurückfinden, die das freundliche Dorf auf der Insel so lange hat überleben und manchmal sogar hat wachsen lassen. Aber dazu später.

Vor fünf oder sechs Jahren starb die letzte Bäuerin des Hofes, die alle nur als »schöne Luisa« Jensen kannten. Sie hatte den Hof von ihrer Mutter Greta geerbt und diesen bis zuletzt geführt. Norderschauholm ist ein Ort der selbstbewussten und eigenständigen Frauen. Es wundert sich hier niemand oder zerreißt sich gar das Maul darüber, dass eine alleinstehende Frau ohne Mann im Haus einen ganzen Hof oder ein anderes Geschäft führt.

Der Holm war immer anders als der Rest der Welt. Ein Satz, den man von den Holmern erst in unseren Tagen zu hören bekommt, denn wer hier aufgewachsen ist, hält eigentlich alles für ganz normal und ist der Meinung, dass man woanders vielleicht nur vom Weg der guten Tradition und auch der zutiefst menschlichen Moral abgekommen ist.

Niemand nannte Luisa bei ihrem eigentlichen Namen, denn sie hatte nicht nur nach Ansicht der Insulaner nichts mit einer Gertrud gemein. Ihr schwarzes Haar, ihre dunklen Augen und ihre Hautfarbe, die die Menschen immer mit so selten gewordenen Bernstein verglichen, entsprachen eindeutig den Attributen einer Luisa und niemals denen einer Gertrud. Dabei ist auch ihre Mutter eine sehr attraktive, in heutigen Augen sportliche, allerdings eben sehr blonde, hochgewachsene Frau mit blauen Augen gewesen, die in jedem Film als klassische Schwedin durchgegangen wäre. Ihre Tochter Luisa bestätigte den Lehrsatz, wenn nicht sogar das seit vielen Generationen praktizierte Überlebensprinzip der Holmer, das besagt, wer jemals einen Apfelbaum veredelte, wundert sich nicht, er freut sich sogar, wenn ganz andere, meist viel schönere Äpfel als alle vorherigen neben den alten Stamm fallen. Gertrud alias Luisa war einer dieser Äpfel, auf die die Holmer so stolz waren und noch heute sind.

Eines Tages stand Amadeo, es muss ein Herbsttag gewesen sein, die Ernte war ein gefahren und er stand nicht nur ausgehungert, sondern auch frierend mitten auf dem Platz des Dreiseithofes. Schüchtern – er sprach nur jene winzigen Brocken jener hiesigen Sprache, mit denen er auf den Schiffen kommandiert wurde, und wusste nicht recht, wie er sich erklären und um etwas zu essen und einen Schlafplatz in der Scheune bitten sollte – stand er da und zählte darau, dass das Bellen des angeleinten Hofhundes endlich jemanden veranlassen musste in der Tür des Bauernhauses zu erscheinen.

Amadeo war ein kreolischer Seemann, der aufgrund heftigen Fiebers – es kann natürlich auch die Folge eines mindestens ebenso heftigen Trinkgelages gewesen sein – die Rückfahrt seines Rumfrachters aus Flensburg in die heimische Karibik verpasst hatte, von der Reederei daher als unzuverlässig eingestuft worden war und in diesem Hafen keine Heuer für eine anderes Schiff mehr erhielt. Höchstens Kohlen für den Kessel eines Dampfers der Skandinavienlinie mit Ziel im norwegischen Bergen hätte man ihn schaufeln lassen. Als er gehört hatte, dass Bergen noch weiter im Norden als Flensburg lag, nahm er davon Abstand. Das Risiko in der Kälte des Nordens den Winter verbringen zu müssen, war ihm zu groß.

Nachdem ihm jemand in einer Flensburger Hafenkneipe zugesteckt hatte, er solle es lieber im viel größeren und somit anonymeren Hafen Hamburgs probieren, hatte er sich zu Fuß auf den einhundertfünfzig Kilometer weiten Weg zur großen Hansestadt gemacht. Als auf dem Festland recht orientierungsloser Seemann auf einem fremden Kontinent muss er sich recht bald verlaufen haben. Denn dass er nach einem Tagesmarsch ausgerechnet auf den so abgelegenen Holm gelangt und nicht einfach weiter der Landstraße folgend in Richtung Süden gegangen war, blieb für alle Zeit ungeklärt. Vermutlich hatte ihn auch niemand danach gefragt.

Der Hofhund bellte mit heiserer Stimme und die Tür des Wohnhauses wollte sich nicht öffnen. Dafür stand, aus dem seitlichen Stall herauskommend, eine ihn um mindestens einen Kopf überragende blonde Frau in einer blutigen Kittelschürze neben ihm.

Ihr freundliches Lächeln wollte so gar nicht zur ebenfalls blutigen Axt in der einen und dem geköpften Huhn in der anderen Hand passen. Sie lächelte und ihr »Moin!« gab ihm das angenehme Gefühl, nicht sofort wieder vom Hof gejagt zu werden.

Bevor Amadeo etwas zu sagen wagte, was sie ohnehin nicht verstanden hätte, stellte sich die junge Frau als Greta Jensen vor, was der Fremde wiederum nur als Hinweis auf eine positive Begrüßung wertete.

Nach einem kurzen Wortwechsel, der allerdings nur das beiderseitige Unverständnis dokumentierte, verständigten sich die Bäuerin und ihr Besucher, indem sie ihre Worte mit mehr als deutlichen Gesten unterstützten, wie sie in der ganzen Welt verstanden werden und mit der in der Menschheitsgeschichte bereits unzählige Leben gerettet wurden und Freundschaften ihren Anfang gefunden haben. Schaufelten die Hände in einer rollenden Bewegung Luft in den Mund, konnte es nur ums Essen gehen, wurde der Kopf auf die zusammengelegten flachen Hände zur Seite geneigt, nur ums Schlafen. So wurde dem exotischen Gast ein reichliches Abendessen und ein Schlafplatz, nicht in der Scheune, sondern in einem der zahlreichen freien Zimmer des Hauses zurechtgemacht. Matratze und Federbetten des uralten Bettes waren derart voluminös und weich, dass dem Seemann eine Angst vor dem Ertrinken überkam, die er von seinen Fahrten über den Atlantik nicht kannte.

Ob es das überbordende Frühstück nach einer dann doch erholsamen Nacht im tiefen Federmeer oder die für Amadeo so wunderbare Präsenz dieser großen blonden Frau war, ist unerheblich und es wird niemanden wundern, dass seine Wanderung ins ferne Hamburg nicht an diesem Tag und auch nicht an den folgenden Tagen fortgesetzt wurde.

Auf dem Hof gab es immer mehr als genug Arbeit und obwohl der stumme Schweizer Hinrich – von ihm berichte ich an anderer Stelle – eine mehr als zuverlässige, jedoch in den meisten handwerklichen Dingen eher zurückhaltende Kraft war, freute sich die Bäuerin über die zusätzliche Hilfe. In der Hoffnung, in ihm eine Verstärkung für die Arbeit in Stall und auf dem Feld gewonnen zu haben, hatte Greta den exotischen Gast also ohne zu zögern aufgenommen.

Nun unterscheidet sich die Arbeit auf einem herbstlichen Bauernhof in Norddeutschland fraglos von der auf einer Zuckerrohrplantage Jamaikas und erst recht von der auf einem von Segeln und Dampf angetriebenen Schoner, doch lernte Amadeo unter ständiger Begleitung der Bäuerin, Hinrichs oder anderer Dorfbewohner schnell die erforderlichen Handgriffe und Begriffe in Wort und sogar Schrift dazu.

Der Winter kam und das Leben spielte sich mehr und mehr innerhalb des Hauses ab. Die größere Nähe ließ aus Fremden schnell Freunde werden, aus dem wachsenden gegenseitigen Vertrauen wurde Vertrautheit und die Tage, die nicht viel heller als die Nächte, die Nächte, die so unendlich lang und kalt waren, blieben nur selten die ganze Nacht über kalt. Dafür sorgten nicht allein die wuchtigen Federbetten.

Als der März ganz langsam das Ende des Winters ankündigte und die ersten wärmenden Sonnenstrahlen eigentlich dem Gemüt des karibischen Seemanns guttun sollten, war das Gegenteil der Fall. Trotz guter Verpflegung, nicht zu harter Arbeit und auch sonst sehr fürsorglicher Betüddelung und intensiven Bemühungen seitens der Bäuerin, ihm die Sprache und die sonstigen Vorzüge des Landes beizubringen, wurde Amadeo von einem schlimmen Heimweh befallen. Später wurden sich die Holmer darüber einig, dass es ein Fehler gewesen sei, im Rahmen der im Krug stattfindenden und vom Stammtisch unterstützten Deutschstunden ausgerechnet eine über der Theke hängende, mit kunstvollen Schriftzeichen verzierte Tafel für eine der Lehrstunden zu verwenden. »Dörst is schlimmer as Heimweh«, hat auf ihr gestanden. Viel früher als sonst sei Amadeo an jenem Abend zum Jensen-Hof aufgebrochen. Traurig habe der sonst so fröhliche Neuholmer geklungen, als er sich nach nur fünf oder sechs Bieren verabschiedete: »Musse geh. Habe keine Durst. Moin.«

Tatsächlich hatte sich Amadeo nicht lange nach diesem Vorfall eines frühen Morgens entschlossen, das Weite auf dem Bahnhof von Süderbrarup zu suchen, um es wenige Stunden später im Hamburger Hafen in Form eines Frachters zu finden. Weitere Einzelheiten seiner Flucht blieben unbekannt und er selbst sollte nie erfahren, dass er im Sommer des gleichen Jahres Vater einer wunderschönen Tochter geworden war.

Stammtisch und Kröger einigten sich darauf, das Schild über der Theke durch ein anderes zu ersetzen. Da man aber zu keiner Einigung über einen neuen Spruch kam und die viel zu helle Stelle selbst mit noch so viel Zigarrenqualm stärker als der Rest des Raumes nachdunkeln würde, sie jedoch unbedingt überdeckt gehörte, fand das weniger wortgewaltige Gebiss eines Hais, das lange Zeit auf dem staubigen Dachboden des Gasthofes ein unbeachtetes Dasein gefristet hatte, endlich eine neue, eine standesgemäße Wirkungsstätte. Es hängt mit seinen arg vergilbten Zähnen noch heute an dieser Stelle.

Viel mehr als der schnöde Thekenspruch interessiert uns die Gefühlslage Luisas angehender Mutter nach Amadeos plötzlichem Verschwinden. Doch müssen wir uns diesbezüglich etwas weniger Sorgen machen, als wir, die wir Fremde auf dieser Insel sind, es gelernt haben.

Keine Frage, sie war zutiefst traurig, konnte und wollte einige Tage mit niemandem sprechen und vernachlässigte etwas ihre alltäglichen Arbeiten. Doch war sie ein Kind Norderschauholms und das rettete sie viel schneller und nachhaltiger als es anderswo der Fall wäre vor all den Gefühlen der Kränkung, des Verlassenseins, der Enttäuschung und des womöglich niemals mehr lieben könnens.

Als Gerda spätestens zwei Wochen nach dem Verschwinden Amadeos mit Sicherheit erfahren hatte, dass sie schwanger war, wusste sie, dass sie Amadeo auf immer in guter Erinnerung behalten würde. Und als Gertrud, die schöne Luisa, dann im Sommer auf die Welt kam, war ihr und mit ihr allen Holmern klar, dass der karibische Gast kein wertvolleres Geschenk – keinen schöneren neuen Apfel – hätte hinterlassen können. Und natürlich, dies darf ich an dieser Stelle keinesfalls vergessen, war sie nicht allein. Es gab ja noch Hinrich, den stummen Schweizer mit seinen so zarten Händen. Aber das ist bekanntlich eine andere Geschichte.


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© Dirk Jürgensen – Veröffentlichungen des Textes und der Bilder, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.