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2016 – Ein Jahr für Egomanen

Demokratie im Selbstzerstörungsprozess

 von Dirk Jürgensen ...

Der Autor dieser Zeilen hat sich entschieden, das Jahr 2016 nicht mit einem Rückblick zu versehen. Zu oft müsste er seinen recht deprimierten Rückblick auf das Jahr 2015 zitieren und noch ein paar weitere dunkle Töne beimischen. 2016 war ein Erfolgsjahr für Egomanen, der Nationalismus greift weiter und immer stärker um sich – sogar bei uns in Deutschland, wo wir es doch wirklich besser wissen müssten. Zuletzt hat dann auch die Präsidentschaftswahl in den USA bewiesen, dass es immer auch noch schlimmer kommen kann und der Begriff der Schwarmintelligenz zumindest im Politischen ein sehr fragwürdiger ist.

Der Schwarm ist es, der den weltweiten Selbstzerstörungsprozess der Demokratien beschleunigt. Zerstörung und Zurückentwicklung statt Verbesserung und Fortschritt heißt die Devise, die mit diffusen Ängsten legitimiert wird, die man uns viel zu lange hieß ernst zu nehmen. Dabei hat das Umtätscheln der höchst informationsresistenten besorgten Bürger sie zum Schwarm werden lassen. „Postfaktisch“ wurde auch in diesem Zusammenhang zum würdigen Wort des Jahres 2016. Es scheint so, dass die jahrelange Lektüre der Bildzeitung und das Zurückziehen in eine ganz eigene kleine Welt des ach so einflusslosen „kleinen Mannes“ zu einer Überforderung angesichts der heutigen Informationsvielfalt geführt hat. Erschwerend kommt hinzu, dass das die Presse längst ablösende Medium Facebook immer nur die eigene Meinung stärkt, anstatt das Weltbild zu entfalten. Sogar dumme und falsche „Fakten“ dienen dem Jeweiligen Status quo. Nebenbei sei die Frage erlaubt, ob die derzeit aufkeimenden Debatte um die Verhinderung von „Fake News“ auch in der Redaktion der Bildzeitung als Drohung empfunden wird?

Establishment? Welches Establishment?

Der Autor, der in den Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts politisch sozialisiert wurde, der dem Establishment als Klasse einer reichen Machtelite durchaus immer kritisch begegnete, fragt sich, was die heutigen Kritiker des Establishments überhaupt unter diesem recht englischen Wort verstehen. Was ist das für ein Establishment, das überall und jetzt bekämpft werden soll, wenn man einen Donald Trump zum Präsidenten wählt? Einen, der genau jener Clique angehört, die man zu bekämpfen vorgibt. Wählt man ihn nur, weil er sich einer Ausdrucksweise bedient, die außer Dummschwätzerei und gröbster Beleidigung kaum Alternativen kennt, weil er ein so herrlich unerzogener und gemeiner Egomane ist, wie man es nie sein durfte? Political correctness ist zum Schimpfwort mutiert und niemand stellt die Frage, ob diese neue incorrectness hilft, wenn sie größtenteils aus Lügen und Blendereien besteht?

Protestwahl dient keinem Selbstzweck

Immerhin zeigt Trump schon jetzt ganz deutlich, wozu es führt, wenn man politisch ahnungslos allein aus Protest irgendjemanden, den lautesten und frechsten Kandidaten wählt. Protestwahl dient niemals einem Selbstzweck, hinterher kommt es genau anders herum, als man es wollte. Trump holt einen Außenminister aus der Ölindustrie, der sich herrlich mit dem anderen Egomanen in Russland versteht. Trump holt einen Finanzminister aus dem Umfeld genau jener Bank, die eine der Hauptrollen in der Krisenauslösung gespielt hat, die so viele seiner Wähler in die Armut trieb. Ein Kabinett reinen Establishments. Noch jubeln seine Anhänger, er würde die Regierung endlich wie eine Firma führen wollen. Eine Firma, das wird nur zu gerne übersehen, die auch pleitegehen kann, wie es auch Trump mit einigen seiner Firmen erlebt erlebt und erfolgreich verdrängen konnte.

Trump ist das Sinnbild für den absoluten Sieg des Kapitalismus, wenn man will, auch des Ablegers mit dem Namen Neoliberalismus. Der sogenannte Amerikanische Traum, in dem unzählige Tellerwäscher zu Millionären wurden, soll wieder im ganzen Land geträumt werden. Wohlgemerkt, geträumt soll er werden. Gelebt wurde er noch nie, denn dass der Kapitalismus immer nur temporär zu einem breit angelegten Wohlstand führt, wenn man ihn nicht mit ganz engen Zügeln fasst, dass er immer ein Spiel von wenigen Gewinnern und vielen Verlierern ist, gelangt immer erst in das Bewusstsein seiner Jünger, wenn die nächste Krise auch sie erreicht. Ewiges Wachstum ist auch so ein Wunschtraum, der nicht Realität werden kann, der uns aber von jenen wenigen Gewinnern als Realität „verkauft“ wird, die in einer Krise nicht wieder bei Null beginnen müssen.

Kein Meister rettet den Zauberlehrling

Wir in Europa sollten uns einfach wieder an die paar Jahre Geschichtsunterricht in der Schule erinnern und daran denken, dass lauter Protest immer dann angemessen ist, wenn er der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Toleranz dient. Der Ruf nach einem starken Mann als Äußerung des Protests ist fatal. Die demokratisch gewählten Trump, Putin und Erdogan (es sind die markantesten Beispiele und die Liste könnte durchaus viel länger sein) sollten Mahnung genug sein.

Vielleicht ist der Wahlerfolg Trumps zumindest einigen Europäern eine Lehre, eine, die einen Wilders in den Niederlanden, eine Le Pen in Frankreich oder die unsäglichen Nein-ich-bin-kein-Nazi-aber-Verharmloser der AfD verhindern.

Political correctness heißt nicht, dass man sich in großen Koalitionen bis zum Tode kompromissbereit zeigt. Im Sinne der Grundrechte – der Menschenrechte – darf es keine Kompromisse geben. Das sollten auch jene Parteienvertreter und Kommentatoren wissen, die derzeit hoffen, dem Rechtsrutsch und den Rufen der „besorgten“ Bürger mit Thesen aus dem braunen Umfeld begegnen zu müssen. Mischt man einem Eimer mit roter oder schwarzer Farbe Braun hinzu, kann das Rot oder Schwarz hinterher nur schmutziger aussehen – eine nachträgliche Korrektur ist schwierig.

Ach, da kommt der Meister!
Herr, die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister
werd ich nun nicht los.

Das ist ein oft verwendetes und passendes Zitat, doch wir sollten nicht zu fest damit rechnen, dass den politischen Zauberlehrlingen im Parlament und auf der Straße mitten im größten Schlamassel Goethes Meister zu Hilfe kommt.

Populisten verbreiten keinen Spaß

Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass „Die Zeit“ kurz vor dem Jahresende in ihrer 52. Ausgabe an ein Jubiläum erinnert hat, das mir sehr am Herzen liegt. Zugegebenermaßen etwas uninspiriert – aber immerhin – erinnert die Wochenzeitung in ihrem Feuilleton an das vor 500 Jahren erschienene Werk „Utopia“ des Thomas Morus. Nun ist es sicher keine Binsenweisheit, dass „Die Zeit“ unter den „Lügenpresse“ skandierenden „besorgten“ Bürgern kaum Käufer findet, doch halte ich es für ein gutes Zeichen, dass überhaupt eine Zeitung an dieses Thema erinnert. Die Gegenwart verlangt angesichts der von den Populisten unterstützten und in ihrem Sinne verwendeten Schreckensbildern nach einer Wiederkehr der Utopie, der Vorstellung davon, wie Gesellschaft besser, gerechter und friedlicher funktionieren kann. Populisten nutzen die Ziel- und Bilderlosigkeit einer Gesellschaft rücksichtslos und leider sehr erfolgreich aus.

Wer meine hier zu findenden Beiträge zum Utopie-Thema kennt, der weiß, dass ich eine Utopie für ein Mittel halte, ein verständliches Bild von einer besseren Welt zu zeichnen, das sich anzustreben lohnt. Und um den üblichen Einwänden zu entgegnen: Niemals sollte davon ausgegangen werden, dass eine Utopie eins zu eins umgesetzt werden kann. Zu kompliziert ist diese Welt. Aber was nützt der Weg, wenn es kein Ziel gibt, das zu erreichen Spaß macht? Haben sie schon festgestellt, wie wenig Spaß die rechten Populisten verbreiten? Ihr Hass und der Wunsch nach Herrschaft und Abgrenzung ist kein wünschenswertes Bild einer friedlichen und freien Zukunft! Utopien können hingegen Optimismus und positives Handeln fördern. Sie erzählen nicht von einem religiös begründeten Totenreich, von keinem Paradies, für das man sterben muss, um hinein zu gelangen und für das bislang niemand eine wirklich nachweisbar gültige Eintrittkarte vorliegen konnte.

Der Geist der Utopie gehört in den Politik- und in den Wirschaftsteil der Zeitung

Wir müssen die Utopie nur wieder in unser Leben holen und darüber sprechen, ob die Menschen tatsächlich immer nur schlecht und korrupt sind, eine Idee von Gerechtigkeit zur Dystopie kippen. Dabei sieht man sich selbst doch immer auf der Seite der Guten. Was hindert uns „Gutmenschen“ also daran, die Utopien der historischen Autoren – nicht die Dystopien, mit denen sie oft verwechselt oder gleichgesetzt werden – zur Hand zu nehmen und selbst an einer neuen Utopie zu bauen? Mit etwas Engagement könnte der Geist der Utopien dann aus dem Feuilleton heraus sogar die Seiten der Politik und der Wirtschaft inspirieren, denn da gehört er hin.

Dieser Gedanke soll mein – wenn auch nur eine winzig kleiner – Hoffnungsschimmer auf ein besseres 2017 sein. Ein Schimmer, der auch auf dieser Internetpräsenz einst sichtbar werden soll. Spätestens dann wird die Facebook-Präsenz darunter leiden.

Hoffnung Utopie - Bild: ©Dirk Jürgensen - Düsseldorf

Bild: ©Dirk Jürgensen – Düsseldorf




Wieder ein Jahresrückblick

von Dirk Jürgensen ...

Zwei MondeMeine Jahresrückblicke im leider nicht mehr existierenden Online-Magazin einseitig.info hatten Tradition. Zwar möchte ich sie (wie vermutlich alle meine Kollegen) stets etwas von den üblichen Rückblicken und Sichtweisen abweichen lassen, aber dennoch magich nicht übersehen, was in unserer verrücken Welt als Nachricht verarbeitet und verbreitet wird. Dieser Jahresrückblick ist aus dem Blickwinkel eines wieder einmal überstandenen Weltuntergangs entstanden. Wie es nach Fertigstellung so ist, fehlen ganz viele und ungemein wichtige Vorfälle, Personen und Katastrophen. So hätte meine persönliche Abrechnung des Jahres ohne Probleme 100 Seiten oder mehr ausmachen können. Dennoch denke ich, dass wir bekloppten Menschen eine Apokalypse sogar ohne den ewigen – von mir einfach übergangenen – Wiedergänger Berlusconi längst verdient hätten.

Oder kriegen wir 2013 doch endlich eine bessere Welt hin? Sie wäre einen weiteren Versuch wert, denn wir haben keine andere.

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Post von Brüderle – Das Versprechen goldener Zeiten?

von Dirk Jürgensen ...

In meinem Briefkasten fand ich kürzlich neben anderer Post einen Umschlag, der nicht an mich persönlich, sondern „an die Bürgerinnen und Bürger des Hauses“ gerichtet war. Als Absender prangte auf dem Umschlag ein Bundesadler mit dem Namen Rainer Büderle, dessen Funktion als Mitglied des Deutschen Bundestages und Amtsadresse in Berlin darunter. Frankiert war das Schreiben als „POSTWURFSPEZIAL“ einem Service der Deutschen Post. Entgegen meiner sonstigen Gewohnheit bezüglich des Umgangs mit unaufgefordert eingetroffener Werbepost warf ich den Brief nicht in den eigens dafür unter den Briefkästen aufgestellten Papierkorb, sondern nahm ihn mit und legte ihn mit all der anderen Post auf den Küchentisch.

Ich machte mir eine Kaffee, öffnete den Umschlag und fand neben einem Anschreiben eine Antwortkarte, mit der ich von der FDP-Bundestagsfraktion Informationsmaterial anfordern konnte oder gar sollte. Ja, war mein erster Gedanke, der Wahlkampf läuft ein ganzes Jahr vor der Bundestagswahl zumindest bei der FDP schon auf Hochtouren und diese Partei scheint sich aufgrund mieser Umfragewerte ganz sicher nicht davor zu scheuen, Steuergelder für ihren Kampf zu missbrauchen. Noch kann sie es, schließlich ist sie Teil der Regierung. Warum bin ich eigentlich immer so skeptisch?

Ich widmete mich wichtigerer Post und nun, ein paar Tage später, schaue ich mir die Sache intensiver an.

Eine Seite der Antwortkarte zieren zwei kleine blonde Kinder hinter einer weißen Tischkante, die sie gerade mit ihren Nasen erreichen können. Zwischen ihnen schaut uns ein Sparschwein an. Darüber steht der blaugelb gestaltete und etwas holprige Satz „Freiheit bewegt SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT“. Gerade frage ich mich noch, wessen Freiheit das so gerne und populär verschönernd missverstandene politische Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft besonders gut bewegt, lese ich, dass unter dem Sparschwein „stabiles Geld für die Zukunft unserer Kinder“ gefordert wird. Dieser Appell wird von einem künstlich verschmierten, wohl individuelle Bearbeitung vortäuschenden Stempelaufdruck unterstützt. Ein blaues Herz wird darin von der Aussage „FDP-Fraktion. Wir lieben die Soziale Marktwirtschaft“ umkränzt.

Tja, denke ich, wo die Liebe halt hinfällt…

Die andere Seite der Karte soll ich ausfüllen und per Fax oder Post an die FDP-Bundestagsfraktion zurücksenden. „Dialog Partner“ soll ich über die Anforderung von Informationen werden. Einen Dialogpartner hätte ich mir noch vorstellen können. Aber egal, hier haben wohl bloß wieder Grafiker vom Auftraggeber eine zu große Sprachfreiheit erhalten. Der heute unvermeidliche QR-Code darf auch nicht fehlen. Er weist sicher nur auf eine Reklameseite der FDP und interessiert mich nicht. Auch nicht der Hinweis, dass man meine Daten nicht an Dritte weitergeben will. Das Porto zahlt der Empfänger, oder, wie zu vermuten ist, doch wieder ich als Steuerzahler.

Nun zum eigentlichen Schreiben. Zuerst bedankt sich Herr Brüderle bei mir, weil Deutschland aufgrund „vor allem“ meiner Arbeit wirtschaftlich besser als viele andere Länder dasteht. Ja, möchte ich ihm zustimmen, an der Arbeit der derzeitigen Regierung kann es nicht liegen.

Der zweite Absatz überrascht mich und sicher auch viele Opelaner, Nokia-Subventinonsopfer und ehmalige Schleckermitarbeiterinnen mit der Aussage, dass es in Deutschland keinen Raubtierkapitalismus gäbe, sondern eine Soziale Marktwirtschaft, die „wir“, damit ist wohl die FDP-Fraktion gemeint, „aktiv gestalten“. Mir wäre seitens der FDP, deren Ansatz zur Sozialen Marktwirtschaft auch mit dem des Neoliberalismus gleichzusetzen ist, gerne etwas mehr Passivität beim Gestalten lieber gewesen. Die immer so gern von ihr geforderte Freiheit der Marktteilnehmer schließt immer auch die Raubtiere ein.

Nun folgen vier Schlagworte, die verdeutlichen sollen, wofür die FDP im Bundestag steht und ich möchte, sollte Herr Brüderle mein Schreiben lesen, entgegensetzen, wofür ich stehe.

„Wir stehen für Wachstum.“

Bürgerinnen und Bürger wurden anhand des Wachstumsbeschleunigungsgesetz um 24 Mrd. Euro entlastet, um eben das Wirtschaftswachstum zu beschleunigen. – Herr Brüderle, ich kenne zwar niemanden persönlich, der diese Entlastung gespürt hat, aber selbst wenn das angesprochene Gesetz tatsächlich gegriffen haben sollte, so geht es doch vollkommen am eigentlichen Problem vorbei. Unendliches Wachstum ist in einem Wirtschaftskreislauf gar nicht möglich, es handelt sich um eine Illusion. Laufen Sie los, Herr Brüderle, sie kommen bei einem Kreislauf immer wieder zum Startpunkt zurück. Wenn man bei einem Wachstum kein Ziel vereinbart, handelt es sich als Denkmodell um eine unendliche Spirale und die ist schon aufgrund begrenzter Ressourcen langfristig kaum erklärbar.

„Wir stehen für neue Arbeitsplätze und Rekordbeschäftigung“

Wenn es so wäre, dass es der FDP um die Herausbildung sozial dienlicher, qualitativ statt quantitativ ausgerichteter Arbeitsplätze ginge, die jenseits des Wachstumsstrebens alter Manier anzusiedeln sind, wenn es Ihnen um den Ausbau regenerativer Energieerzeugung, einer Dezentralisierung der Energienetze, wenn es um einen echten fortschrittlichen Wandel ginge, könnte ich an dieser Stelle unterschreiben. Brüderle verweist stattdessen auf „die höchste Beschäftigung seit zwanzig Jahren“, darauf, dass die „Reallöhne seit 2010 stetig gestiegen“ seien und es verbesserte Aufstiegschancen durch „gezielte Weiterbildung“ gäbe. Beinhaltet die Zahl der Beschäftigten auch die, die unbedingt einer Mindestlohnregelung bedürfen? Täuscht mein Eindruck, dass nur jene Branchen einigermaßen kräftige Lohnzuwächse zu verzeichnen haben, in denen die Arbeitnehmer ihre Forderungen per Streik durchsetzten? In meinem Umfeld ist wohl kaum jemand zu finden, der angesichts der Preissteigerungen der letzten Jahre einen realen Lohnzuwachs oder den zunehmenden Eingang von Weiterbildungsangeboten zu verzeichnen hat. Die Volkshochschulen streichen aufgrund von Geldmangel allgemein ihr Angebot zusammen.

„Wir stehen für Verantwortung.“

Verantwortung ist immer gut und wenn es darum geht, die Vergemeinschaftung von Schulden aus dieser Verantwortung heraus zu verhindern, kann ich nur zustimmen. Doch leider sind die Schulden der Staaten und die der kriselnden Banken längst vergesellschaftet. Gewinne wurden hingegen aufgrund immer geringer ausfallender Besteuerung immer weniger vergesellschaftet und ich fürchte, mit der FDP wird kein Eingrenzen des unkontrollierten Finanzverkehrs und keine erhebliche Besteuerung von Kapitalerträgen möglich sein. Wenn Banken aufgrund ihrer Systemimmanenz gerettet werden, dann ist zu fragen, ob es richtig ist, dass Banken überhaupt systemimmanent werden können. Die angeführte Diskussion um Eurobonds umgeht einmal mehr das eigentliche Problem einer übertriebenen Freiheit des Geldes und dessen Spekulanten, die letzthin der Freiheit der Menschen zuwider läuft. Wenn die einzige Verantwortung der FDP in der Verhinderung der Eurobonds hinausläuft, ist es verdammt traurig um diese Partei bestellt.

„Wir stehen für die Stabilität des Geldes.“

Dieser letzte Standpunkt wird prägnant mit der Aussage „Geldwert ist stille Sozialpolitik“ untermauert. Allerdings ist auch Umverteilung stille Sozialpolitik. Im Positiven, wie im Negativen – je  nach der Richtung der jeweiligen Umverteilung. Da wir in den letzten Jahren eine immer weiter auseinanderstrebend Wohlstandsschere beobachten mussten, kann man die bisher erfolgte „stille Sozialpolitik“ nur als gescheitert erklären oder verurteilen. Je nach dem, was als Ziel der Politik gesetzt war. Der als Rettungsschirm bekannte Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) ist als Versuch zur Rettung einer europäischen Gemeinschaftsidee lobenswert, doch letzthin wieder nur zur Rettung einer neoliberalen Ideologie und ihrer staatstragenden Vertreter geeignet. Einem Fortschritt steht sie wohl eher im Wege, wenngleich ich nicht die pauschale Europakritik ihrer Gegner unterstützen mag.

Auf der zweiten Seite des Schreibens versichert Rainer Brüderle, dass „wir wissen, was Inflation bedeutet. … Inflation vernichtet Werte. Hier müssen wir einen Riegel vorschieben. Etwa bei hohen Energiepreisen.“ Es folgt eine Erklärung zum von Rot-Grün einst erlassenen Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG), das zu einer Verteuerung des Stroms geführt habe und eine mit gewissem Stolz vorgetragene Verkündung, „die FDP-Fraktion [habe] daher eine erste Reduzierung der Überförderung beim EEG erreicht. [Sie wolle] die übermäßige Subventionierung weiter absenken und damit den Anstieg der Stromkosten beschränken.“ Die Sache mit den Subventionen musste wohl erwähnt werden, schließlich leidet die FDP sehr unter ihrem Ruf einer klientelgesteuerten Subventionsneigung. Ich vermute, die vom EEG profitierenden Firmen haben mindestens eine Partei beim Spenden übersehen. Wie gesagt, eine Vermutung.

Brüderle verliert kein Wort zur teuren aber notwendigen Modernisierung des Stromnetzes, zur Endlichkeit und somit unvermeidlichen Verteuerung der Ressourcen, zur ganz sicher noch anstehenden Vergesellschaftung der Folgekosten der unverantwortlichen Atomenergie, die sicher kein Stromkonzern über Jahrtausende tragen will oder gar kann. Den trotz Abschaltung zahlreicher Atomkraftwerke zunehmende Stromexport in die Nachbarländer, der ganz sich ganz sicher nicht preismindernd auswirkt, hat Herr Brüderle nicht bemerkt. Es folgt auch kein Hinweis zu den stetig fließenden Gewinnen dieser Stromkonzerne, zu den Vergünstigungen die zahlreiche Unternehmen erhalten, während private Kunden aufgrund einer wenig sozialen Tarifstruktur für ihren geringen Verbrauch bestraft werden. Hier regelnd einzugreifen widerspricht vermutlich dem marktorientierten Freiheitsdenken der aktuellen FDP.

Könnte man sich nicht auch die Frage stellen, wozu eigentlich Stromkonzerne existieren, wo es doch um eine Grundversorgung der Bevölkerung geht, mit der man aus moralischen Gründen schon keine über den Investitionsbedarf liegende Gewinne machen sollte? Das wäre mal eine FDP, die mir gefallen könnte. Wenn sich diese Partei Ziele dieser Art setzte, könnte ich fast zum Liberalen werden und diesen Teil des Schreibens unterzeichnen:

„Probleme müssen angepackt und dürfen nicht verschleppt werden. Das gilt für ganz Europa. Es geht um die richtigen Entscheidungen.“

Bislang bleibt die FDP für mich unwählbar. Auch das hat mich der Brief Rainer Brüderles gelehrt. Manchmal ist die Verschwendung von Staatsfinanzen also sogar positiv zu bewerten.




Wer schreibt die Gesetze?

von Dirk Jürgensen ...

Ein sicheres Zeichen dafür, dass die Politik ihre Gestaltungshoheit im Sinne der Bürger und vielfach auch im Sinne ihrer Parteiprogramme aus der Hand gegeben hat, ist die immer wieder zu beobachtenden Fremdvergabe bei der Formulierung von Gesetzesentwürfen. Wenn die Tabakindustrie den Nichtraucherschutz, die Rüstungsindustrie den Verteidigungshaushalt beeinflusst und der BDI (Bundesverband der Deutschen Industrie e.V.) Entwicklungshilfe in ihrem Sinne verstehen hilft, treten die Interessen der Wählerinnen und Wähler immer weiter in den Hintergrund. „In einem neuen Fall“, so die Initiative LobbyControl, „soll es um die Elternzeit-Vertretung einer Mitarbeiterin im Ministerium gehen und um das Anfertigen von ‚Vermerken und Reden für die Hausleitung‘ (also letztlich Gesundheitsminister Daniel Bahr, FDP).“

Lobbyismus gibt es schon seit vielen Jahren, doch hatte man in Deutschland noch nie wie in diesen Monaten und Jahren der schwarzgelben Regierung so sehr das Gefühl, Teile des Kabinetts säßen in den Konzernzentralen – oder umgekehrt. Hätte es mit dem Atomausstieg sonst so lange gedauert?

Vor den nächsten Wahlen sollten wir also unbedingt prüfen, es zumindest versuchen zu prüfen, wem sich die oder der zu wählende Abgeordnete, wem sich ihre oder seine Partei tatsächlich verpflichtet fühlt! Es geht dabei nicht um temporäre Schwankungen, wie es beispielsweise jetzt die um ihr Überleben kämpfende FDP vollzieht. Richtungen und politischer Wille ist kein Ding von Kurzfristigkeit.

Übrigens ist der Wahlverzicht als Protesthandlung unsinnig. Ihn verkraften ausgerechnet die Lobbyisten am besten.