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Corona, die linke Bazille

Vom Virus lernen

von Dirk Jürgensen …

Ich weiß, diese Überschrift ist
irreführend, denn eine Bazille ist ein Bakterium und weist mit den
Viren keinerlei verwandtschaftliche Beziehung auf. Für den
naturwissenschaftlich falsch verwendeten Begriff bitte ich um
Verzeihung. Aber ich konnte nicht anders, denn er zeigt in eine
Richtung, in die unsere Gedanken während der verordneten Zwangspause
und besonders nach der hoffentlich recht bald überstandenen Pandemie
gehen sollten.

Corona ist ein antikapitalistisches Virus

Dabei ist die Lungenkrankheit Covid-19 beziehungsweise SARS-CoV-2, wie Corona weniger anschmiegsam ebenfalls firmiert, ein völlig Ideologiefreies Wesen. Es hat kein Hirn, es hat keine Zunge die ideologische Leitsprüche formulieren kann. Dennoch lässt es mit beinahe wunderbarer Leichtigkeit die Börsenkurse und Ölpreise sinken, es zeigt, wie wenig rational unser Konsumverhalten gesteuert ist, wie fatal die Gewinnorientierung im Gesundheitswesen ist und dass es jenseits der allgemein duldsam hingenommenen Wachstumsreligion Alternativen geben muss oder gar gibt. Kurz gesagt bringt es vollkommen unmotiviert unser ökonomisches System ins Wanken. Ganz nebenbei besetzt es sogar den lange nur noch von »ewiggestrigen Linken« verwendeten Begriff der Solidarität wieder positiv. Beinahe könnte man also vermuten, Corona sei der potentielle Zünder einer Revolution, wie sie Marx und Engels nicht erträumen konnten.

Manchmal bedarf es eben nur eines
völlig unschuldigen und planlosen Auslösers. Auch der Urknall vor
ungefähr 14 Milliarden Jahren wird nicht zum Ziel gehabt haben, dass
wir uns mindestens alle zwei Jahre ein neues Handy genehmigen können.
Anhand der Opfer weltweit kann man leider nicht von einer friedlichen
Revolution sprechen, denn jedes Todesopfer ist eines zuviel. Dennoch
und gerade angesichts der Be- und Überlastung unserer Sozial- und
Gesundheitssysteme weltweit können wir Menschen Lehren aus der
Pandemie ziehen. Wenn wir es denn wollen. Nur drei mehr oder weniger
bedeutende Beispiele:

Corona versus BWL im Krankenhaus

Vor Corona wurde das deutsche
Gesundheitswesen immer weiter nach betriebswirtschaftlichen Maßstäben
zusammengespart. Auch der heute so gelobte Gesundheitsminister ist
ein Vertreter dieser Marktorientierung. Das Virus hat für ein
hoffentlich nicht nur kurzfristiges Umschwenken gesorgt, denn
Gewinnmaximierung hat im Gesundheissystem nichts zu suchen.
Eventuelle Sparmaßnahmen müssen immer gleichzeitig eine Optimierung
der Versorgung bewirken. Nur dann sind sie sinnvoll. Ebenso darf es
kein Mehrklassensystem in der Gesundheitsversorgung und
Krankenversicherung geben. Die pharmazeutische Industrie muss sich am
Gemeinwohl und nicht am Börsenkurs orientieren. Die medizinische
Versorgung ist zu wichtig, um sie den Mächten des Marktes
auszusetzen. Pflegekräfte müssen ihrer gesellschaftlichen Relevanz
in einer alternden Gesellschaft entsprechend gut bis sehr gut bezahlt
werden. Dass jede Altenpflegerin gesellschaftlich bedeutender als
eine ganze Clique von Börsenmaklern ist, ist schließlich eine
Binsenweisheit. Die aktuell im Netz verabredeten Applausaktionen sind
nett gemeint, helfen jedoch nur, wenn sie ein Zeichen für einen
ausdauernden Sinneswandel sind. Der Bereich der Alten- und
Krankenversorgung muss zum Leuchtturmprojekt für die notwendige
Neuordnung des Wirtschaftssystems werden. Hier wie übermall muss die
Gemeinwohlorientierung als ökonomisches Prinzip vorangestellt
werden. Wachstum ist nur im Sinne eines Zugewinns an Lebensqualität
zu verstehen. Zufriedenheit darf nicht länger als Wachstumsbremse,
sie muss als Abbild von Lebensqualität zum Ziel des Handelns erklärt
werden. Wie gesagt, Corona ist eine im positiven Sinn linke Bazille.
Doch nicht nur das.

Corona ist Klimaaktivist

Ganz nebenbei beweist Corona, dass die
Gesundung des Klimas und das Erreichen der gesteckten Klimaziele
möglich ist, dass es ein grünes Virus ist. Sollte die Pandemie noch
einige Monate andauern, könnte das Jahr 2020 als echtes Jahr des
Fortschritts für die Umwelt in die Geschichte eingehen. Kein
Klimastreik, kein öffentlicher Auftritt Greta Thunbergs, keine
monatelangen Verhandlungen zwischen Klimaaktivistinnen und
Wirtschaftsbossen hätte das jemals erreichen können. So wichtig die
Bewegung der Fridays for Future war und bleiben wird, so beweist erst
die Zeit der Seuche, woran es in der globalen Umweltpolitik hapert.
Es fehlt die Bereitschaft des Menschen, sich in seinem Konsum zu
mäßigen. Plötzlich bleiben die meisten Flugzeuge am Boden,
Urlaubsreisen mit kleinerem CO2-Fußabdruck oder der
Ersatz von Geschäftsreisen durch Vidokonferenzen werden interessant,
der globale Handel mit eher überflüssigen Gütern wird ein bisschen
infrage gestellt, die Vorteile einer lokalen Produktion wichtiger
Güter – Europa ist in diesem Sinne schon als lokal zu betrachten –
werden erkannt. Erst wenn die Pandemie überstanden ist, werden
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre nicht nur negativen
Auswirkungen nachweisen können. Ich bin gespannt, ob wir mit den
Ergebnissen der entsprechenden Untersuchungen etwas anzufangen
wissen.

Corona lässt Blasen platzen

Der Kapitalismus, das wissen wir noch von der Bankenkrise vor ein paar Jahren, neigt zur Bildung von Blasen, die irgendwann platzen. Kommen wir in diesem Zusammenhang zum Fußball und damit zu einem griffigen Sinnbild für eine dieser Blasen, die Corona zum Platzen bringen kann. Der allein von vermeintlich rettungslosen Romantikern gescholtene »moderne« Fußball, so stellen wir gegenwärtig fest, ist auf die Fernsehübertragungen reduziert tatsächlich bedeutungslos. Die ins Aberwitzige gestiegenen Spielergehälter und Ablösesummen werden nicht mehr zu bezahlen sein, wenn die ebenso jedem Vernunftsgedanken widersprechenden Beträge für die Übertragungsrechte ausbleiben. Wie lange es mit der Pandemie noch dauert, ist nicht abzusehen. Abzusehen ist jedoch der mögliche Ablauf einer Katastrophe, wie sie den Romantikern unter uns sogar Hoffnung schenken kann:

Der moderne Fußball im Zeichen von Corona - Foto: © Dirk Jürgensen - Düsseldorf

Die Pandemie verhindert Spiele –
Geisterspiele, also Spiele ohne Publikum in den Stadien, sind
aufgrund fehlender Stimmung weniger attraktiv – Bezahlsender wie
Sky verlieren ohne Fußballübertragung ihren Zweck und damit ihre
Abonnenten – Bezahlsender ohne Abonnenten können nichts mehr für
die Übertragungsrechte bieten – Vereine und Ligen müssen ihre
Etats kürzen – überzogene Ablösesummen werden einfach nicht mehr
gezahlt und die Spielergehälter gleichen sich an – eine Liga wird
ohne Solidarität der Vereine untereinander nicht bestehen können,
da sie ohne Gegner sinnlos ist – reine Kommerzprodukte, die dem
Solidaritätsgedanken widersprechen, dürften ihre Geldgeber
verlieren oder sie gründen eine eigene kleine, vielleicht
internationale Liga – die verbliebenen nationalen Ligen werden
ausgeglichener und damit spannender – die Romantiker haben
gewonnen. Das ist doch utopisch, werden die Anhänger (noch)
finanzkräftiger Vereine einwenden. Ja, das ist es.

Von Corona lernen

So hat mich das Beispiel des ruhenden Fußballs in der Corona-Krise endlich wieder auf das Thema der so notwendigen Utopien zurückgebracht, das mich seit Jahren umtreibt. Es darf natürlich nicht bei diesem Beispiel bleiben, denn Utopien – Modelle für eine bessere Gesellschaft, für ein besseres Wirtschaftssystem, für mehr Zusammenhalt und Toleranz – haben wir in allen Lebensbereichen und Weltgegenden bitter nötig.

Aktuell sollen wir zur Vermeidung
weiterer Ansteckungen möglichst zuhause bleiben. Jenseits der hart
arbeitenden Menschen in den Krankenhäusern, Arztpraxen und
Supermärkten fährt die Gesellschaft um einige Stufen herunter. Die
lange geforderte Entschleunigung ist endlich da. Wer in diesen Tagen
aus dem Fenster blickt, kann aufgrund der freiwilligen oder
erzwungenen Ausgangssperren und des »Social Distancings« selbst in
einer sonst hektischen Großstadt eine zunehmende Gelassenheit
wahrnehmen. Es ist kurzum die beste Zeit, Post-Corona-Utopien zu
entwickeln, die wir möglichst bald unseren politischen
Vertreterinnen und Vertretern beibringen sollten, wenn diese es denn
angesichts des Drucks der Lobbyisten zulassen. Ansonsten müssen wir
also selber ran. Falsch wäre es jedenfalls, nach überstandener
Pandemie in die alten Verhaltensmuster und die von fragwürdigen
Zeitgenossen erzeugten Ängste vor Fremdem und Neuem zurückzufallen.

Nach den Terroranschlägen vom 9. September 2001 hieß es angesichts des großen Entsetzens in wiederkehrender Tonspur, nichts würde mehr so wie vorher sein. Eine Aussage, die schnell zur Plattitüde wurde. Nichts Entscheidendes hat sich seitdem wirklich geändert – zumindest nicht im Positiven. Sollte dieser Spruch nach dem Besiegen des Corona-Erregers wieder im Mediengewirr auftauchen, müssen wir sehr wachsam sein. Corona als Zäsur zu verstehen, wäre ein Zeichen der Hoffnung und des Aufbruchs.




Besser leben mit dem Rücken zur Wand

Gedanken über den Rücktritt und
andere Schritte

 von Dirk Jürgensen …

Wer mit dem Rücken zur Wand steht,
kann nicht zurücktreten. Diesen Satz sollten nicht nur
Politikerinnen und Politiker einen Moment wirken lassen.

Denn er ist in seiner bildhaften Bedeutung überraschend richtig, nur verstehen wir ihn in seiner alltäglichen Verwendung anders.

Wer mit dem Rücken zur Wand steht, hat
die wohl sicherste Position inne, muss nicht allein auf sein
Vertrauen bauen.

Wand © Dirk Jürgensen

Wie bitte?

Ich stehe immer hinter dir, kann eine
Drohung sein.

Nur wer mit dem Rücken zur Wand steht,
hat einen Dolch im Rücken nicht zu fürchten. Gefahr kann allein von
vorne kommen. Nicht einmal ein Absturz in hinter uns lauernde
gefährliche Tiefen – nicht Untiefen, schließlich wären diese gar
nicht tief – ist möglich.

Gut, wer mit dem Rücken zur Wand
steht, kann nur die Flucht nach vorne oder zur Seite antreten. Das
mag zunächst ein Nachteil im Sinnes eines gerne im Mittelpunkt
Stehenden sein, der die jederzeit mögliche ausweichende Bewegung in
alle Richtungen als Sinnbild der Freiheit versteht und für den die
Sicht auf die Dinge eine notgedrungen kurzfristige ist. Eine Freiheit
bis zur Beliebigkeit. Das Fähnchen im Wind. Liberal im liberalen
Sinne, ist, in Erinnerung an den großen Loriot, eben nicht nur
liberal. Der Standpunkt in der Mitte ist recht instabil und erfordert
eine immer schneller werdende Rotation. Aus allen Richtungen droht
ein Hinterhalt, und die aus Überforderung wachsende Sehnsucht nach
einer sicheren Wand im Rücken, einem Rückhalt, wird verständlich.

Früher wurden Kinder zur strafenden
Demütigung in die Ecke gestellt. Eine Ecke besteht sogar aus zwei
Wänden. Dabei hat man schon mit dem Gesicht zu nur einer Wand
stehend Freund wie Feind unsichtbar in seinem Rücken – sieht nur
die Wand, die selten transparent oder ein Spiegel ist, spürt
Unsicherheit. Außer ihr hat dieser bedauernswerte Mensch nichts und
niemanden, der sich schützen vor ihm aufstellt. Jeder Schritt zurück
führt tiefer ins Ungewisse, was im vorangestellten Beispiel der
Rohrstock des Lehrers die Häme der ganzen Klasse war.

Ein Zurücktreten wäre mit dem Gesicht
zur Wand zwar möglich, doch an einen Gewinn an Gewissheit, an
Sicherheit und das Verhindern eines für beide Seiten schmerzhaften
Anrempels ist nur nach einer Drehung zu denken. Hoffnung böte
höchstens ein offenes Hintertürchen. Das fehlt meistens. Der
Fortschritt bei einem zur Wand gerichteten Blick bedeutet ohne
vorherige Drehung kostet bestenfalls eine platte Nase. Da ist sie
wieder, die beruhigende Wirkung eines Rückens zur Wand. Wer wünscht
sich schon am Ende seines Lebens, dass die einzige hinterlassene Spur
ein blutiger Abdruck der Nase an einer Wand ist?

Wer mit dem Rücken zur Wand steht,
kann nicht zurücktreten. Und, das möchte ich den letzten
Zweiflerinnen und Zweiflern ans Herz legen, ist wirklich für alle
Seiten von Vorteil. Unsere anonyme Musterperson kann beim Versuch
seines physikalisch eigentlich unmöglichen Rücktritts – also
nicht einmal aus Versehen – niemandem auf die Füße treten.

Wer mit dem Rücken zur Wand steht, hat
die ganz große Zukunft vor sich.

Wer zurücktritt, wer nach hinten
ausweicht, hofft möglichst bald die Wand im Rücken zu spüren, sein
Gesicht weiterhin in Würde zeigen zu können, sein Gesicht nicht zu
verlieren. Wer zurücktritt, hofft damit bestenfalls dem Doch
entgangen zu sein. Julius Cäsar hätte einst wohl besser mit dem
Rücken zur Wand gestanden.




Zurück zum Eisbein?

Wieviel Deutschland gehört zu Deutschland?

 von Dirk Jürgensen …

Angst vor dem Minarett?

»Alle Religionen seindt gleich und guht, wan nuhr die Leute, so sie profesieren, erliche Leute seindt, und wen Türken und Heiden kähmen und wolten das Land pöbplieren, so wollen wier sie Mosqueen und Kirchen bauen.«

Der Fußball gehört nicht zu Deutschland, der ist in England zuhaus.

Die Gotik gehört nicht zu Deutschland, sie ist in Frankreich entstanden.

Die Nudel gehört nicht zu Deutschland, vielleicht noch nicht einmal zu Italien, denn sie wurde in China erfunden.

Die Kartoffel, das weiß jeder, gehört keinesfalls zu Deutschland, denn die kommt aus Südamerika.

Der Wein gehört auch nicht zu Deutschland, der stammt aus dem Kaukasus.

Das Christentum gehört nicht zu Deutschland, das entwickelte sich aus dem Judentum im römisch beherrschten Israel.

Der Mensch gehört nicht zu Deutschland, der kommt aus Afrika. Es könnte sogar sein, dass nicht einmal die Bayern nicht zu Bayern gehören, denn die stammen vermutlich von den Elbgermanen ab. Die lebten vorher entlang der Elbe bis hinunter nach Böhmen und Mähren. Da wird also ein gehöriger Anteil auch nicht zu Deutschland gehören.

Ja, wieviel Deutschland gehört eigentlich zu Deutschland? Wollen wir angesichts dieser »Problematik« in letzter Konsequenz wirklich auf Sushi, Döner und Pizza verzichten und wieder regelmäßig zum Eisbein greifen – ohne zu wissen, ob das Spenderschwein überhaupt aus Deutschland stammt?

Immer, wenn wir etwas genauer hinschauen, gehört kaum etwas zu Deutschland, das sich heute in innerhalb der Landesgrenzen befindet. Aber trotz dieser Zugehörigkeitsverwirrung gibt es dieses Land noch und es leben Menschen darin. Manche sogar einigermaßen gerne und ohne ständing danach gefragt zu werden, ob sie dazugehören, dazugehören wollen oder nicht. Dabei ist es ganz einfach:

Wenn auch nur einer der hier Lebenden an die Wiederauferstehung des Großen Kürbisses glaubt, dann gehört auch sein Glaube zu Deutschland, wie auch der Spott der Übrigen dazugehört.

Große Geister der Geschichte, Kunst und Technik gehören zu Deutschland, wie ein schreckliches historisches Erbe mit seinem vegetarischen Despoten, eine Reihe kaum verständlicher Dialekte und Sprachen, eine Zeit des Friedens und der Aussöhnung mit den ehemaligen Feinden zu Deutschland gehört. German Angst, german Zuverlässigkeit, made in germany und leider – ich sage das nur schweren Herzens – gehört sogar Pegida zu Deutschland.

Sicher würden wir uns freuen, wenn nur positive, jedem Einzelnen genehme Dinge zu Deutschland gehörten, aber das kriegen wir doch nicht einmal mit unseren ganz eigenen, persönlichen Eigenschaften zwischen Fett- und Magersucht hin. Wie soll das denn mit Deutschland klappen?

Im Geiste der Aufklärung und Toleranz waren wir schon einmal viel weiter, als es unser aus seiner eigenen Heimat Bayern vertriebene Heimatminister Seehofer vermuten lässt.So wurde in Preußen einst die Frage aufgeworfen, ob römisch-katholische Schulen aufgrund ihrer Unverträglichkeit abgeschafft werden sollten. Die dazugehörige Eingabe kommentierte Friedrich der Große:

»Die Religionen Müsen alle Tolleriret werden und Mus der Fiscal nuhr das Auge darauf haben, das keine der andern abrug Tuhe, den hier mus ein jeder nach seiner Fasson Selich werden.«

Ob es nun richtig war und ist, als Staat überhaupt religiös ausgerichtete Schulen und eine derart seltsame Orthographie zu dulden, sei dahingestellt, aber dieser Grundsatz der Toleranz, nach dem »jeder nach seiner Fasson glücklich« werden soll, bietet uns eine angenehm allgemeinverständliche Kurzfassung des kathegorischen Imperativ Kants, dessen Ethik ganz sicher zu Deutschland gehört. Und als im Jahr 1740 auch noch Vertreter der Stadt Frankfurt am Main in Potsdam anfragten, ob denn gar ein Katholik in einer evangelischen Stadt Bürgerrechte erhalten dürfe, erhielten sie vom Alten Fritz die passende und von großer Entspanntheit geprägte Antwort:

»Alle Religionen seindt gleich und guht, wan nuhr die Leute, so sie profesieren (= ausüben), erliche Leute seindt, und wen Türken und Heiden kähmen und wolten das Land pöbplieren (= bevölkern), so wollen wier sie Mosqueen und Kirchen bauen.«

Bekanntlich war Friedrich der Große Preuße. Ist es damit logisch, dass eine derart fortschrittliche Einstellung auch heute noch nicht zu Bayern gehört? Zu Deutschland – zum von den Deutschen bei jeder Gelegenheit so gern herbeizitierten »gesunden Menschenverstand« – sollte sie jedoch unbedingt gehören. Aber gehört Bayern – siehe oben – zu Deutschland? Es kommt immer drauf an.

Ich habe übrigens in meiner Heimatstadt Düsseldorf noch niemanden fragen hören, ob denn der Buddhismus und der in Japan hauptsächlich ausgeübte Shintoismus zu Düsseldorf gehören. Hoffentlich liegt es nicht allein daran, dass die hier lebenden Japaner – die sogar immer wieder mit Stolz als Bereicherung der Landeshauptstadt erwähnt werden – einfach nur viel wohlhabender sind, als die meisten zugereisten Moslems. An der engen Verbindung des Shintoismus zum ultrarechten Nationalismus Japans, der viele seiner Anhänger noch immer die »Heldentaten« aus dem Zweiten Weltkrieg verherrlichen lässt, liegt es wohl nicht. Geld, ja diese Religion gehört zu Deutschland.

Eine Placebodiskussion

Doch genug davon. Ich tappe selber immer wieder in diese Falle, obwohl ich mir darin sicher bin: Wir sollten uns besser darüber klar werden, dass dieses ständige Fragen danach, ob irgendwelche Dinge, Glaubensrichtungen, Ideen oder sexuelle Praktiken zu Deutschland gehören, nur dazu da ist, Placeboprobleme zu schaffen, die von der Behebung tatsächlicher Missstände ablenken. Wer sich mit der Diskussion darüber, ob der Islam zu Deutschland gehört, die Zeit vertreibt, wird in all der Ausgrenzung von Realität kaum noch in der Lage sein, unsere sterbenden Sozialsysteme zu reformieren, sie zu neuem Leben zu erwecken.
Erst wenn alle etwas von ihnen haben und nicht nur Versicherungen und deren Anteilseigner, wenn beispielsweise ein Gesundheitsminister Spahn seine Politik nicht nach seinen gewinnorientierten Freunden in der Lobby ausrichtet, wenn Konzerne sich über Steuerzahlungen am Gemeinwohl beteiligen, haben wir in Deutschland endlich mehr Kraft und Muße, unsere Toleranz und die Integration von Minderheiten und schweigenden oder schimpfenden gefühlen wie tatsächlichen Mehrheiten in ein solidarisches Leben etwas intensiver zu pflegen. Denn sie gehört zu Deutschland, weil ich es so will, weil ich zu Deutschland gehöre, obwohl es mir manchmal verdammt schwerfällt.




2016 – Ein Jahr für Egomanen

Demokratie im Selbstzerstörungsprozess

 von Dirk Jürgensen ...

Der Autor dieser Zeilen hat sich entschieden, das Jahr 2016 nicht mit einem Rückblick zu versehen. Zu oft müsste er seinen recht deprimierten Rückblick auf das Jahr 2015 zitieren und noch ein paar weitere dunkle Töne beimischen. 2016 war ein Erfolgsjahr für Egomanen, der Nationalismus greift weiter und immer stärker um sich – sogar bei uns in Deutschland, wo wir es doch wirklich besser wissen müssten. Zuletzt hat dann auch die Präsidentschaftswahl in den USA bewiesen, dass es immer auch noch schlimmer kommen kann und der Begriff der Schwarmintelligenz zumindest im Politischen ein sehr fragwürdiger ist.

Der Schwarm ist es, der den weltweiten Selbstzerstörungsprozess der Demokratien beschleunigt. Zerstörung und Zurückentwicklung statt Verbesserung und Fortschritt heißt die Devise, die mit diffusen Ängsten legitimiert wird, die man uns viel zu lange hieß ernst zu nehmen. Dabei hat das Umtätscheln der höchst informationsresistenten besorgten Bürger sie zum Schwarm werden lassen. „Postfaktisch“ wurde auch in diesem Zusammenhang zum würdigen Wort des Jahres 2016. Es scheint so, dass die jahrelange Lektüre der Bildzeitung und das Zurückziehen in eine ganz eigene kleine Welt des ach so einflusslosen „kleinen Mannes“ zu einer Überforderung angesichts der heutigen Informationsvielfalt geführt hat. Erschwerend kommt hinzu, dass das die Presse längst ablösende Medium Facebook immer nur die eigene Meinung stärkt, anstatt das Weltbild zu entfalten. Sogar dumme und falsche „Fakten“ dienen dem Jeweiligen Status quo. Nebenbei sei die Frage erlaubt, ob die derzeit aufkeimenden Debatte um die Verhinderung von „Fake News“ auch in der Redaktion der Bildzeitung als Drohung empfunden wird?

Establishment? Welches Establishment?

Der Autor, der in den Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts politisch sozialisiert wurde, der dem Establishment als Klasse einer reichen Machtelite durchaus immer kritisch begegnete, fragt sich, was die heutigen Kritiker des Establishments überhaupt unter diesem recht englischen Wort verstehen. Was ist das für ein Establishment, das überall und jetzt bekämpft werden soll, wenn man einen Donald Trump zum Präsidenten wählt? Einen, der genau jener Clique angehört, die man zu bekämpfen vorgibt. Wählt man ihn nur, weil er sich einer Ausdrucksweise bedient, die außer Dummschwätzerei und gröbster Beleidigung kaum Alternativen kennt, weil er ein so herrlich unerzogener und gemeiner Egomane ist, wie man es nie sein durfte? Political correctness ist zum Schimpfwort mutiert und niemand stellt die Frage, ob diese neue incorrectness hilft, wenn sie größtenteils aus Lügen und Blendereien besteht?

Protestwahl dient keinem Selbstzweck

Immerhin zeigt Trump schon jetzt ganz deutlich, wozu es führt, wenn man politisch ahnungslos allein aus Protest irgendjemanden, den lautesten und frechsten Kandidaten wählt. Protestwahl dient niemals einem Selbstzweck, hinterher kommt es genau anders herum, als man es wollte. Trump holt einen Außenminister aus der Ölindustrie, der sich herrlich mit dem anderen Egomanen in Russland versteht. Trump holt einen Finanzminister aus dem Umfeld genau jener Bank, die eine der Hauptrollen in der Krisenauslösung gespielt hat, die so viele seiner Wähler in die Armut trieb. Ein Kabinett reinen Establishments. Noch jubeln seine Anhänger, er würde die Regierung endlich wie eine Firma führen wollen. Eine Firma, das wird nur zu gerne übersehen, die auch pleitegehen kann, wie es auch Trump mit einigen seiner Firmen erlebt erlebt und erfolgreich verdrängen konnte.

Trump ist das Sinnbild für den absoluten Sieg des Kapitalismus, wenn man will, auch des Ablegers mit dem Namen Neoliberalismus. Der sogenannte Amerikanische Traum, in dem unzählige Tellerwäscher zu Millionären wurden, soll wieder im ganzen Land geträumt werden. Wohlgemerkt, geträumt soll er werden. Gelebt wurde er noch nie, denn dass der Kapitalismus immer nur temporär zu einem breit angelegten Wohlstand führt, wenn man ihn nicht mit ganz engen Zügeln fasst, dass er immer ein Spiel von wenigen Gewinnern und vielen Verlierern ist, gelangt immer erst in das Bewusstsein seiner Jünger, wenn die nächste Krise auch sie erreicht. Ewiges Wachstum ist auch so ein Wunschtraum, der nicht Realität werden kann, der uns aber von jenen wenigen Gewinnern als Realität „verkauft“ wird, die in einer Krise nicht wieder bei Null beginnen müssen.

Kein Meister rettet den Zauberlehrling

Wir in Europa sollten uns einfach wieder an die paar Jahre Geschichtsunterricht in der Schule erinnern und daran denken, dass lauter Protest immer dann angemessen ist, wenn er der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Toleranz dient. Der Ruf nach einem starken Mann als Äußerung des Protests ist fatal. Die demokratisch gewählten Trump, Putin und Erdogan (es sind die markantesten Beispiele und die Liste könnte durchaus viel länger sein) sollten Mahnung genug sein.

Vielleicht ist der Wahlerfolg Trumps zumindest einigen Europäern eine Lehre, eine, die einen Wilders in den Niederlanden, eine Le Pen in Frankreich oder die unsäglichen Nein-ich-bin-kein-Nazi-aber-Verharmloser der AfD verhindern.

Political correctness heißt nicht, dass man sich in großen Koalitionen bis zum Tode kompromissbereit zeigt. Im Sinne der Grundrechte – der Menschenrechte – darf es keine Kompromisse geben. Das sollten auch jene Parteienvertreter und Kommentatoren wissen, die derzeit hoffen, dem Rechtsrutsch und den Rufen der „besorgten“ Bürger mit Thesen aus dem braunen Umfeld begegnen zu müssen. Mischt man einem Eimer mit roter oder schwarzer Farbe Braun hinzu, kann das Rot oder Schwarz hinterher nur schmutziger aussehen – eine nachträgliche Korrektur ist schwierig.

Ach, da kommt der Meister!
Herr, die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister
werd ich nun nicht los.

Das ist ein oft verwendetes und passendes Zitat, doch wir sollten nicht zu fest damit rechnen, dass den politischen Zauberlehrlingen im Parlament und auf der Straße mitten im größten Schlamassel Goethes Meister zu Hilfe kommt.

Populisten verbreiten keinen Spaß

Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass „Die Zeit“ kurz vor dem Jahresende in ihrer 52. Ausgabe an ein Jubiläum erinnert hat, das mir sehr am Herzen liegt. Zugegebenermaßen etwas uninspiriert – aber immerhin – erinnert die Wochenzeitung in ihrem Feuilleton an das vor 500 Jahren erschienene Werk „Utopia“ des Thomas Morus. Nun ist es sicher keine Binsenweisheit, dass „Die Zeit“ unter den „Lügenpresse“ skandierenden „besorgten“ Bürgern kaum Käufer findet, doch halte ich es für ein gutes Zeichen, dass überhaupt eine Zeitung an dieses Thema erinnert. Die Gegenwart verlangt angesichts der von den Populisten unterstützten und in ihrem Sinne verwendeten Schreckensbildern nach einer Wiederkehr der Utopie, der Vorstellung davon, wie Gesellschaft besser, gerechter und friedlicher funktionieren kann. Populisten nutzen die Ziel- und Bilderlosigkeit einer Gesellschaft rücksichtslos und leider sehr erfolgreich aus.

Wer meine hier zu findenden Beiträge zum Utopie-Thema kennt, der weiß, dass ich eine Utopie für ein Mittel halte, ein verständliches Bild von einer besseren Welt zu zeichnen, das sich anzustreben lohnt. Und um den üblichen Einwänden zu entgegnen: Niemals sollte davon ausgegangen werden, dass eine Utopie eins zu eins umgesetzt werden kann. Zu kompliziert ist diese Welt. Aber was nützt der Weg, wenn es kein Ziel gibt, das zu erreichen Spaß macht? Haben sie schon festgestellt, wie wenig Spaß die rechten Populisten verbreiten? Ihr Hass und der Wunsch nach Herrschaft und Abgrenzung ist kein wünschenswertes Bild einer friedlichen und freien Zukunft! Utopien können hingegen Optimismus und positives Handeln fördern. Sie erzählen nicht von einem religiös begründeten Totenreich, von keinem Paradies, für das man sterben muss, um hinein zu gelangen und für das bislang niemand eine wirklich nachweisbar gültige Eintrittkarte vorliegen konnte.

Der Geist der Utopie gehört in den Politik- und in den Wirschaftsteil der Zeitung

Wir müssen die Utopie nur wieder in unser Leben holen und darüber sprechen, ob die Menschen tatsächlich immer nur schlecht und korrupt sind, eine Idee von Gerechtigkeit zur Dystopie kippen. Dabei sieht man sich selbst doch immer auf der Seite der Guten. Was hindert uns „Gutmenschen“ also daran, die Utopien der historischen Autoren – nicht die Dystopien, mit denen sie oft verwechselt oder gleichgesetzt werden – zur Hand zu nehmen und selbst an einer neuen Utopie zu bauen? Mit etwas Engagement könnte der Geist der Utopien dann aus dem Feuilleton heraus sogar die Seiten der Politik und der Wirtschaft inspirieren, denn da gehört er hin.

Dieser Gedanke soll mein – wenn auch nur eine winzig kleiner – Hoffnungsschimmer auf ein besseres 2017 sein. Ein Schimmer, der auch auf dieser Internetpräsenz einst sichtbar werden soll. Spätestens dann wird die Facebook-Präsenz darunter leiden.

Hoffnung Utopie - Bild: ©Dirk Jürgensen - Düsseldorf

Bild: ©Dirk Jürgensen – Düsseldorf




Wieder ein Jahresrückblick

von Dirk Jürgensen ...

Zwei MondeMeine Jahresrückblicke im leider nicht mehr existierenden Online-Magazin einseitig.info hatten Tradition. Zwar möchte ich sie (wie vermutlich alle meine Kollegen) stets etwas von den üblichen Rückblicken und Sichtweisen abweichen lassen, aber dennoch magich nicht übersehen, was in unserer verrücken Welt als Nachricht verarbeitet und verbreitet wird. Dieser Jahresrückblick ist aus dem Blickwinkel eines wieder einmal überstandenen Weltuntergangs entstanden. Wie es nach Fertigstellung so ist, fehlen ganz viele und ungemein wichtige Vorfälle, Personen und Katastrophen. So hätte meine persönliche Abrechnung des Jahres ohne Probleme 100 Seiten oder mehr ausmachen können. Dennoch denke ich, dass wir bekloppten Menschen eine Apokalypse sogar ohne den ewigen – von mir einfach übergangenen – Wiedergänger Berlusconi längst verdient hätten.

Oder kriegen wir 2013 doch endlich eine bessere Welt hin? Sie wäre einen weiteren Versuch wert, denn wir haben keine andere.

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Post von Brüderle – Das Versprechen goldener Zeiten?

von Dirk Jürgensen ...

In meinem Briefkasten fand ich kürzlich neben anderer Post einen Umschlag, der nicht an mich persönlich, sondern „an die Bürgerinnen und Bürger des Hauses“ gerichtet war. Als Absender prangte auf dem Umschlag ein Bundesadler mit dem Namen Rainer Büderle, dessen Funktion als Mitglied des Deutschen Bundestages und Amtsadresse in Berlin darunter. Frankiert war das Schreiben als „POSTWURFSPEZIAL“ einem Service der Deutschen Post. Entgegen meiner sonstigen Gewohnheit bezüglich des Umgangs mit unaufgefordert eingetroffener Werbepost warf ich den Brief nicht in den eigens dafür unter den Briefkästen aufgestellten Papierkorb, sondern nahm ihn mit und legte ihn mit all der anderen Post auf den Küchentisch.

Ich machte mir eine Kaffee, öffnete den Umschlag und fand neben einem Anschreiben eine Antwortkarte, mit der ich von der FDP-Bundestagsfraktion Informationsmaterial anfordern konnte oder gar sollte. Ja, war mein erster Gedanke, der Wahlkampf läuft ein ganzes Jahr vor der Bundestagswahl zumindest bei der FDP schon auf Hochtouren und diese Partei scheint sich aufgrund mieser Umfragewerte ganz sicher nicht davor zu scheuen, Steuergelder für ihren Kampf zu missbrauchen. Noch kann sie es, schließlich ist sie Teil der Regierung. Warum bin ich eigentlich immer so skeptisch?

Ich widmete mich wichtigerer Post und nun, ein paar Tage später, schaue ich mir die Sache intensiver an.

Eine Seite der Antwortkarte zieren zwei kleine blonde Kinder hinter einer weißen Tischkante, die sie gerade mit ihren Nasen erreichen können. Zwischen ihnen schaut uns ein Sparschwein an. Darüber steht der blaugelb gestaltete und etwas holprige Satz „Freiheit bewegt SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT“. Gerade frage ich mich noch, wessen Freiheit das so gerne und populär verschönernd missverstandene politische Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft besonders gut bewegt, lese ich, dass unter dem Sparschwein „stabiles Geld für die Zukunft unserer Kinder“ gefordert wird. Dieser Appell wird von einem künstlich verschmierten, wohl individuelle Bearbeitung vortäuschenden Stempelaufdruck unterstützt. Ein blaues Herz wird darin von der Aussage „FDP-Fraktion. Wir lieben die Soziale Marktwirtschaft“ umkränzt.

Tja, denke ich, wo die Liebe halt hinfällt…

Die andere Seite der Karte soll ich ausfüllen und per Fax oder Post an die FDP-Bundestagsfraktion zurücksenden. „Dialog Partner“ soll ich über die Anforderung von Informationen werden. Einen Dialogpartner hätte ich mir noch vorstellen können. Aber egal, hier haben wohl bloß wieder Grafiker vom Auftraggeber eine zu große Sprachfreiheit erhalten. Der heute unvermeidliche QR-Code darf auch nicht fehlen. Er weist sicher nur auf eine Reklameseite der FDP und interessiert mich nicht. Auch nicht der Hinweis, dass man meine Daten nicht an Dritte weitergeben will. Das Porto zahlt der Empfänger, oder, wie zu vermuten ist, doch wieder ich als Steuerzahler.

Nun zum eigentlichen Schreiben. Zuerst bedankt sich Herr Brüderle bei mir, weil Deutschland aufgrund „vor allem“ meiner Arbeit wirtschaftlich besser als viele andere Länder dasteht. Ja, möchte ich ihm zustimmen, an der Arbeit der derzeitigen Regierung kann es nicht liegen.

Der zweite Absatz überrascht mich und sicher auch viele Opelaner, Nokia-Subventinonsopfer und ehmalige Schleckermitarbeiterinnen mit der Aussage, dass es in Deutschland keinen Raubtierkapitalismus gäbe, sondern eine Soziale Marktwirtschaft, die „wir“, damit ist wohl die FDP-Fraktion gemeint, „aktiv gestalten“. Mir wäre seitens der FDP, deren Ansatz zur Sozialen Marktwirtschaft auch mit dem des Neoliberalismus gleichzusetzen ist, gerne etwas mehr Passivität beim Gestalten lieber gewesen. Die immer so gern von ihr geforderte Freiheit der Marktteilnehmer schließt immer auch die Raubtiere ein.

Nun folgen vier Schlagworte, die verdeutlichen sollen, wofür die FDP im Bundestag steht und ich möchte, sollte Herr Brüderle mein Schreiben lesen, entgegensetzen, wofür ich stehe.

„Wir stehen für Wachstum.“

Bürgerinnen und Bürger wurden anhand des Wachstumsbeschleunigungsgesetz um 24 Mrd. Euro entlastet, um eben das Wirtschaftswachstum zu beschleunigen. – Herr Brüderle, ich kenne zwar niemanden persönlich, der diese Entlastung gespürt hat, aber selbst wenn das angesprochene Gesetz tatsächlich gegriffen haben sollte, so geht es doch vollkommen am eigentlichen Problem vorbei. Unendliches Wachstum ist in einem Wirtschaftskreislauf gar nicht möglich, es handelt sich um eine Illusion. Laufen Sie los, Herr Brüderle, sie kommen bei einem Kreislauf immer wieder zum Startpunkt zurück. Wenn man bei einem Wachstum kein Ziel vereinbart, handelt es sich als Denkmodell um eine unendliche Spirale und die ist schon aufgrund begrenzter Ressourcen langfristig kaum erklärbar.

„Wir stehen für neue Arbeitsplätze und Rekordbeschäftigung“

Wenn es so wäre, dass es der FDP um die Herausbildung sozial dienlicher, qualitativ statt quantitativ ausgerichteter Arbeitsplätze ginge, die jenseits des Wachstumsstrebens alter Manier anzusiedeln sind, wenn es Ihnen um den Ausbau regenerativer Energieerzeugung, einer Dezentralisierung der Energienetze, wenn es um einen echten fortschrittlichen Wandel ginge, könnte ich an dieser Stelle unterschreiben. Brüderle verweist stattdessen auf „die höchste Beschäftigung seit zwanzig Jahren“, darauf, dass die „Reallöhne seit 2010 stetig gestiegen“ seien und es verbesserte Aufstiegschancen durch „gezielte Weiterbildung“ gäbe. Beinhaltet die Zahl der Beschäftigten auch die, die unbedingt einer Mindestlohnregelung bedürfen? Täuscht mein Eindruck, dass nur jene Branchen einigermaßen kräftige Lohnzuwächse zu verzeichnen haben, in denen die Arbeitnehmer ihre Forderungen per Streik durchsetzten? In meinem Umfeld ist wohl kaum jemand zu finden, der angesichts der Preissteigerungen der letzten Jahre einen realen Lohnzuwachs oder den zunehmenden Eingang von Weiterbildungsangeboten zu verzeichnen hat. Die Volkshochschulen streichen aufgrund von Geldmangel allgemein ihr Angebot zusammen.

„Wir stehen für Verantwortung.“

Verantwortung ist immer gut und wenn es darum geht, die Vergemeinschaftung von Schulden aus dieser Verantwortung heraus zu verhindern, kann ich nur zustimmen. Doch leider sind die Schulden der Staaten und die der kriselnden Banken längst vergesellschaftet. Gewinne wurden hingegen aufgrund immer geringer ausfallender Besteuerung immer weniger vergesellschaftet und ich fürchte, mit der FDP wird kein Eingrenzen des unkontrollierten Finanzverkehrs und keine erhebliche Besteuerung von Kapitalerträgen möglich sein. Wenn Banken aufgrund ihrer Systemimmanenz gerettet werden, dann ist zu fragen, ob es richtig ist, dass Banken überhaupt systemimmanent werden können. Die angeführte Diskussion um Eurobonds umgeht einmal mehr das eigentliche Problem einer übertriebenen Freiheit des Geldes und dessen Spekulanten, die letzthin der Freiheit der Menschen zuwider läuft. Wenn die einzige Verantwortung der FDP in der Verhinderung der Eurobonds hinausläuft, ist es verdammt traurig um diese Partei bestellt.

„Wir stehen für die Stabilität des Geldes.“

Dieser letzte Standpunkt wird prägnant mit der Aussage „Geldwert ist stille Sozialpolitik“ untermauert. Allerdings ist auch Umverteilung stille Sozialpolitik. Im Positiven, wie im Negativen – je  nach der Richtung der jeweiligen Umverteilung. Da wir in den letzten Jahren eine immer weiter auseinanderstrebend Wohlstandsschere beobachten mussten, kann man die bisher erfolgte „stille Sozialpolitik“ nur als gescheitert erklären oder verurteilen. Je nach dem, was als Ziel der Politik gesetzt war. Der als Rettungsschirm bekannte Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) ist als Versuch zur Rettung einer europäischen Gemeinschaftsidee lobenswert, doch letzthin wieder nur zur Rettung einer neoliberalen Ideologie und ihrer staatstragenden Vertreter geeignet. Einem Fortschritt steht sie wohl eher im Wege, wenngleich ich nicht die pauschale Europakritik ihrer Gegner unterstützen mag.

Auf der zweiten Seite des Schreibens versichert Rainer Brüderle, dass „wir wissen, was Inflation bedeutet. … Inflation vernichtet Werte. Hier müssen wir einen Riegel vorschieben. Etwa bei hohen Energiepreisen.“ Es folgt eine Erklärung zum von Rot-Grün einst erlassenen Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG), das zu einer Verteuerung des Stroms geführt habe und eine mit gewissem Stolz vorgetragene Verkündung, „die FDP-Fraktion [habe] daher eine erste Reduzierung der Überförderung beim EEG erreicht. [Sie wolle] die übermäßige Subventionierung weiter absenken und damit den Anstieg der Stromkosten beschränken.“ Die Sache mit den Subventionen musste wohl erwähnt werden, schließlich leidet die FDP sehr unter ihrem Ruf einer klientelgesteuerten Subventionsneigung. Ich vermute, die vom EEG profitierenden Firmen haben mindestens eine Partei beim Spenden übersehen. Wie gesagt, eine Vermutung.

Brüderle verliert kein Wort zur teuren aber notwendigen Modernisierung des Stromnetzes, zur Endlichkeit und somit unvermeidlichen Verteuerung der Ressourcen, zur ganz sicher noch anstehenden Vergesellschaftung der Folgekosten der unverantwortlichen Atomenergie, die sicher kein Stromkonzern über Jahrtausende tragen will oder gar kann. Den trotz Abschaltung zahlreicher Atomkraftwerke zunehmende Stromexport in die Nachbarländer, der ganz sich ganz sicher nicht preismindernd auswirkt, hat Herr Brüderle nicht bemerkt. Es folgt auch kein Hinweis zu den stetig fließenden Gewinnen dieser Stromkonzerne, zu den Vergünstigungen die zahlreiche Unternehmen erhalten, während private Kunden aufgrund einer wenig sozialen Tarifstruktur für ihren geringen Verbrauch bestraft werden. Hier regelnd einzugreifen widerspricht vermutlich dem marktorientierten Freiheitsdenken der aktuellen FDP.

Könnte man sich nicht auch die Frage stellen, wozu eigentlich Stromkonzerne existieren, wo es doch um eine Grundversorgung der Bevölkerung geht, mit der man aus moralischen Gründen schon keine über den Investitionsbedarf liegende Gewinne machen sollte? Das wäre mal eine FDP, die mir gefallen könnte. Wenn sich diese Partei Ziele dieser Art setzte, könnte ich fast zum Liberalen werden und diesen Teil des Schreibens unterzeichnen:

„Probleme müssen angepackt und dürfen nicht verschleppt werden. Das gilt für ganz Europa. Es geht um die richtigen Entscheidungen.“

Bislang bleibt die FDP für mich unwählbar. Auch das hat mich der Brief Rainer Brüderles gelehrt. Manchmal ist die Verschwendung von Staatsfinanzen also sogar positiv zu bewerten.