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George Orwell und die Zerstörung einer anarchistischen Utopie

von Dirk Jürgensen ...

Wir brauchen Utopien – Teil 5

– Wer sich mit utopischen Zukunftsmodellen beschäftigt, kommt am Anarchismus vorbei und sollte unbedingt nach Spanien blicken.

Als Thomas Morus im Jahr 1516 sein „Utopia“ schrieb, waren die Begriffe Sozialismus und Kommunismus noch in keinem Wortschatz zu finden. Im 16. Jahrhundert mit seinen aus dem Elend erwachsenen Bauernaufständen und den Ideen eines entstehenden Humanismus, der sich an den Bürger-(Polis-) Gedanken und anderen frühen demokratischen Vorstellungen orientierte, war „Utopia“ ein Gegenentwurf zum Feudalismus. Gemeinsames Arbeiten an und mit gemeinsamen Produktionsmitteln in allgemeiner Freiheit, kein Ausufern privaten Eigentums, das waren revolutionäre Vorstellungen und sind bis heute ein nicht realisiertes Sinnbild einer idealen und gerechten Gesellschaftsordnung – ein Wunschbild, eben eine Utopie – geblieben.

Das 17. und 18. Jahrhundert, die Zeit der Aufklärung in Verbund mit dem Fortschreiten der wissenschaftlichen und technischen Entwicklung, das Entstehen industrieller Massenproduktion und die Anfänge der Globalisierung, veränderte die Lebensumstände der Menschen enorm. Der Feudalismus wurde von einer neuen Klassengesellschaft abgelöst. Der neue Adel bestand aus den wenigen Industriekapitänen jener Zeit. Und wenn auch der Humanismus als Teil aufklärerischen Gedankenguts verstanden werden kann, war angesichts der Kategorisierung des Menschen als Produktionsfaktor Arbeit – wir würden heute vielleicht Humankapital sagen – und den damaligen Zuständen zwischen Verarmung der Landbevölkerung und der Kinderarbeit in den wachsenden Städten nichts zu spüren. Einzelne Revolten, frühsozialistische Versuche, wie beispielsweise die eines Robert Owen, konnten dem herrschenden rücksichtslosen Kapitalismus in seiner Gesamtheit nichts anhaben und zeigten, wie weit das Ziel einer gerechten Gesellschaft von der gelebten Realität der Unterschicht entfernt war.

So fand Karl Marx für die Bestrebungen der Frühsozialisten nach Demokratie und Gleichheit den Begriff des „utopischen Sozialismus“, in dem zwar ein lobenswertes Ziel, nicht jedoch der Weg dahin bestimmt wurde. Marx lehnte es sogar ab, das Ziel zu definieren und den Menschen das unwissenschaftliche Bild einer Idealgesellschaft zu erfinden. Er beschränkte sich bewusst darauf, historisch-systematisch die notwendigen Handlungsschritte zu entwickeln, um die gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen über den Kampf der Klassen zu verbessern.

Der Gedanke liegt nahe, dass die seit Marx betriebene negative Besetzung des Utopiebegriffs letzthin dafür gesorgt hat, das eigentliche Ziel aus den Augen zu verlieren. Somit bewirkte dieses Bilderverbot zwangsläufig das Umschlagen sozialistischer und kommunistischer Revolutionen hin zum zentralistischen Totalitarismus einer Einheitspartei oder eines Komitees, der auf dem ziellosen Weg in eine undefinierten Idealgesellschaft jedes Vergehen als Mittel zum Zweck des Machterhalts rechtfertigte.

Einen anderen, einen keineswegs zentralistischen Weg schlugen zum Ziel einer gerechten Gesellschaftsordnung schlugen die Anarchisten ein, deren früher Hauptvertreter Pierre-Joseph Proudhon war. Er gilt als Begründer des Syndikalismus, Mutualismus und Förderalismus. Proudhons gerne zitierter Satz aus dem Jahr 1840 „Eigentum ist Diebstahl!“ sollte übrigens relativiert betrachtet werden, denn lehnte nicht das Privateigentum an sich ab, sondern er forderte die Abschaffung des Privatbesitzes an Produktionsmitteln.

In der Folge Proudhons hielten Michail Bakunin und Pjotr Alexejewitsch Kropotkin ähnlich wie Marx und Engels eine soziale Revolution für erforderlich, um die Besitzverhältnisse entscheidend verändern zu können. Im Gegensatz zu den Marxisten wurde die Führung durch eine elitäre Kaderpartei wie auch eine staatliche Hierarchie abgelehnt. Marx sah den Staat mit der fortschreitenden Revolution absterben, die Anarchisten trauten dieser undeutlichen Entwicklung nicht, sie wollten ihn direkt abschaffen, verfolgten einen antiautoritären Sozialismus.

Von 1864 bis 1872 kamen die Vertreter verschiedenster Gruppierungen, die sich zur Arbeiterbewegung zählten, in der IAA (Internationale Arbeiterassoziation) zusammen. Nachdem Karl Marx aufgrund unüberbrückbarer Unterschiede zwischen den Lagern erfolgreich dafür gesorgt hatte, dass Bakunin 1872 ausgeschlossen wurde, zerbrach die Erste Internationale, die dann 1876 vollständig aufgelöst wurde.

Dies war der Beginn eines bis in die heutige Zeit währenden Konflikts zwischen den Marxisten und den Anarchisten, eines Konflikts in dem es viel um Meinungshoheiten und um Macht, in dem die Marxisten fast immer die Oberhand gewannen. Obgleich eigentlich beide Gruppierungen ein nahezu gleiches Ziel verfolgen, kam es in der Geschichte immer wieder zu

Bis heute scheint der Begriff des Anarchisten ein Synonym für einen Bombenleger zu sein, dabei waren diese Zeiten schon vor 100 Jahren längst vorbei.
, zur Zensur, zu Mord und Verfolgung.

Die Zeitung der Escuela Moderna, einem anarchistischen Bildungsprojekt von Francisco Ferrer

Die Zeitung der Escuela Moderna, einem anarchistischen Bildungsprojekt von Francisco Ferrer – Quelle: Wikipedia

Ein Land, in dem der Marxismus im Gegensatz zum Anarchismus verhältnismäßig wenig Fuß fassen konnte, ist Spanien. Besonders das industriell geprägte Katalonien und das landwirtschaftlich dominierte Andalusien sind hier zu nennen. Selbst der Spanische Bürgerkrieg, aus dem das faschistische Franco-Regime als Sieger hervorging, konnte nicht verhindern, dass es in Spanien noch heute zahlreiche Beispiele anarchistisch geprägter kommunaler Kooperationen gibt.

Auch der Verlauf des Bürgerkriegs selbst, an dem zuerst Marxisten und Anarchisten auf Seiten der Republikaner gegen den Faschismus kämpften, war vom eben beschriebenen Konflikt geprägt – vielleicht sogar entscheidend. George Orwell, der in seinem Bericht „Mein Katalonien“ als Mitkämpfer im Spanischen Bürgerkrieg berichtet, lässt das mit seinen Beobachtungen und dem entstandenen Nebenkriegsschauplatz vermuten:

„Der allgemeine Umschwung nach rechts begann ungefähr im Oktober und November 1936, als die UdSSR anfing, die Zentralregierung mit Waffen zu versorgen, und als die Macht von den Anarchisten auf die Kommunisten überging. Außer Russland und Mexiko besaß kein anderes Land den Anstand, der Zentralregierung zu Hilfe zu kommen, und Mexiko konnte aus einleuchtenden Gründen Waffen nicht in großen Mengen liefern. So waren also die Russen in der Lage, die Bedingungen zu diktieren. Es besteht kaum ein Zweifel daran, dass diese Bedingungen vor allem lauteten: »Verhindert die Revolution, oder ihr bekommt keine Waffen.« So wurde die erste Maßnahme gegen die revolutionären Elemente, nämlich die Verdrängung der P.O.U.M. aus der katalanischen Generalidad, nach Befehlen der UdSSR durchgeführt. Man hat abgeleugnet, dass die russische Regierung irgendeinen direkten Druck ausgeübt habe. Aber diese Tatsache ist nicht von großer Bedeutung, denn man kann annehmen, dass die kommunistischen Parteien aller Länder die russische Politik ausführen. Es wird aber nicht geleugnet, dass die kommunistische Partei die hauptsächliche Triebkraft zunächst gegen die P.O.U.M., später gegen die Anarchisten, den von Caballero geführten Flügel der Sozialisten und allgemein gegen eine revolutionäre Politik war. Nachdem sich die UdSSR einmal eingemischt hatte, war der Triumph der kommunistischen Partei gesichert.

Zunächst wurde das kommunistische Prestige dadurch enorm gehoben, dass man Russland gegenüber dankbar war für die Waffen und die Tatsache, dass die kommunistische Partei besonders nach Ankunft der Internationalen Brigade den Anschein erweckte, als könnte sie den Krieg gewinnen.

Zweitens wurden die russischen Waffen durch die kommunistische Partei oder die mit ihr verbündeten Parteien ausgeliefert, und sie achteten darauf, dass ihre politischen Gegner sowenig wie möglich davon erhielten (Anm.: Das war der Grund dafür, dass es an der aragonischen Front so wenig russische Waffen gab, da die Truppen dort hauptsächlich Anarchisten waren. Bis zum April 1937 sah ich als einzige russische Waffe – mit Ausnahme einiger Flugzeuge, die vielleicht russisch waren, vielleicht aber auch nicht – nur eine einzelne Maschinenpistole.).

Drittens gelang es den Kommunisten durch die Verkündung einer nichtrevolutionären Politik, alle diejenigen um sich zu scharen, die von Extremisten verscheucht worden waren. Es war beispielsweise leicht, die wohlhabenderen Bauern gegen die Kollektivierungspolitik der Anarchisten zu sammeln. Die Mitgliedschaft der Partei wuchs gewaltig an, der Zufluss speiste sich hauptsächlich aus dem Mittelstand: Ladenbesitzer, Beamte, Armeeoffiziere, wohlhabende Bauern und so weiter, und so weiter.

Im Grunde genommen war der Krieg ein Dreieckskampf. Das Ringen mit Franco musste fortgesetzt werden, aber gleichzeitig war es das Ziel der Zentralregierung, alle Macht zurückzugewinnen, die noch in den Händen der Gewerkschaften verblieben war. Dies geschah durch eine Reihe kleiner Manöver, es war eine Politik der Nadelstiche, wie es jemand genannt hat, und man tat es, im ganzen gesehen, sehr klug. Es gab keine allgemeine, offene Gegenrevolution, und bis zum Mai 1937 war es nicht einmal nötig, Gewalt anzuwenden. Man konnte die Arbeiter immer durch ein Argument zur Räson bringen, das fast zu augenfällig ist, um es zu nennen: »Wenn ihr dieses oder jenes nicht tut, werden wir den Krieg verlieren.« In jedem Fall natürlich verlangte anscheinend die militärische Notwendigkeit, etwas aufzugeben, das die Arbeiter 1936 für sich errungen hatten. Aber dieses Argument war immer stichhaltig, denn das letzte, was die Revolutionsparteien wünschten, war, den Krieg zu verlieren. Verlor man den Krieg, würden Demokratie und Revolution, Sozialismus und Anarchismus zu bedeutungslosen Worten. Die Anarchisten, die einzige Revolutionspartei, deren Größe von Bedeutung war, wurden gezwungen, Stück für Stück nachzugeben. Das Fortschreiten der Kollektivierung wurde angehalten, die örtlichen Ausschüsse wurden entfernt, die Arbeiterpatrouillen wurden aufgelöst, die Polizeikräfte der Vorkriegszeit wurden, weitgehend verstärkt und schwer bewaffnet, wieder eingesetzt, und verschiedene Schlüsselindustrien, die unter der Kontrolle der Gewerkschaften gestanden hatten, wurden von der Regierung übernommen. (Die Übernahme des Telefonamtes von Barcelona, die zu den Maikämpfen geführt hatte, war ein Beispiel dieser Entwicklung.)

Schließlich, und das war das allerwichtigste, wurden die Milizeinheiten der Arbeiter, die sich auf die Gewerkschaften gründeten, allmählich auseinandergebrochen und in die neue Volksarmee aufgeteilt. Das war eine ‚unpolitische‘ Armee, sie hatte einen halben Bourgeoischarakter. Es gab unterschiedlichen Sold, eine privilegierte Offizierskaste und so weiter, und so weiter. Unter den besonderen Umständen war das tatsächlich ein entscheidender Schritt. In Katalonien vollzog man ihn allerdings später als an anderen Orten, denn hier waren die Revolutionsparteien am stärksten. Offensichtlich bestand die einzige Garantie für die Arbeiter, ihre Errungenschaften zu festigen, nur darin, einen Teil ihrer Streitkräfte unter ihrer eigenen Kontrolle zu haben. Wie gewöhnlich wurde auch das Auseinanderbrechen der Miliz im Namen militärischer Leistungsfähigkeit vollzogen, und niemand leugnete, dass eine gründliche militärische Reorganisation notwendig war. Es wäre aber durchaus möglich gewesen, die Miliz zu reorganisieren und leistungsfähiger zu machen und sie gleichzeitig unter der direkten Kontrolle der Gewerkschaften zu belassen. Der Hauptzweck des Wechsels lag darin, dafür zu sorgen, dass die Anarchisten keine eigenen Waffen mehr besaßen. Außerdem war der demokratische Geist der Miliz ein Brutnest für revolutionäre Ideen. Die Kommunisten wussten das sehr genau und schimpften ohne Unterlass und erbittert über die P.O.U.M. und das anarchistische Prinzip des gleichen Lohns für alle Ränge. Es fand eine allgemeine ‚Verbürgerlichung‘ statt, eine absichtliche Zerstörung des Gleichheitsgeistes aus den ersten Monaten der Revolution. Alles ereignete sich so geschwind, dass Leute, die Spanien innerhalb von wenigen Monaten mehrmals besucht hatten, erklärten, dass sie anscheinend kaum das gleiche Land besuchten. Was an der Oberfläche und für eine kurze Weile ein Arbeiterstaat zu sein schien, verwandelte sich vor den eigenen Augen in eine herkömmliche Bourgeoisrepublik mit der normalen Unterscheidung von reich und arm. Im Herbst 1937 erklärte der ‚Sozialist‘ Negrin in öffentlichen Ansprachen, dass »wir privates Eigentum respektieren«, und Mitglieder des Cortes, die zu Beginn des Krieges aus dem Land fliehen mussten, da man sie faschistischer Sympathien verdächtigte, kehrten nach Spanien zurück.“

Dass die beschriebene Einflussnahme der UdSSR im absoluten Widerspruch zur in Teilen Spaniens gelebten Utopie Spaniens stand, wird durch dieses Zitat Orwells deutlich:

„Die Arbeitermiliz, die auf den Gewerkschaften aufbaute und sich aus Leuten von ungefähr der gleichen politischen Meinung zusammensetzte, bewirkte, dass an einer Stelle die intensivsten revolutionären Gefühle des ganzen Landes zusammenkamen.

Ich war mehr oder weniger durch Zufall in die einzige Gemeinschaft von nennenswerter Größe in Westeuropa gekommen, wo politisches Bewusstsein und Zweifel am Kapitalismus normaler waren als das Gegenteil. Hier in Aragonien lebte man unter Zehntausenden von Menschen, die hauptsächlich, wenn auch nicht vollständig, aus der Arbeiterklasse stammten. Sie lebten alle auf dem gleichen Niveau unter den Bedingungen der Gleichheit. Theoretisch herrschte vollkommene Gleichheit, und selbst in der Praxis war man nicht weit davon entfernt. In gewisser Weise ließe sich wahrhaftig sagen, dass man hier einen Vorgeschmack des Sozialismus erlebte. Damit meine ich, dass die geistige Atmosphäre des Sozialismus vorherrschte. Viele normale Motive des zivilisierten Lebens – Snobismus, Geldschinderei, Furcht vor dem Boss und so weiter – hatten einfach aufgehört zu existieren. Die normale Klasseneinteilung der Gesellschaft war in einem Umfang verschwunden, wie man es sich in der geldgeschwängerten Luft Englands fast nicht vorstellen kann. Niemand lebte dort außer den Bauern und uns selbst, und niemand hatte einen Herrn über sich.

Natürlich konnte dieser Zustand nicht andauern. Es war einfach ein zeitlich und örtlich begrenzter Abschnitt in einem gewaltigen Spiel, das augenblicklich auf der ganzen Erdoberfläche gespielt wird. Aber es dauerte lange genug, um jeden, der es erlebte, zu beeindrucken. Wie sehr damals auch geflucht wurde, später erkannte jeder, dass er mit etwas Fremdem und Wertvollem in Berührung gewesen war.

Man hatte in einer Gemeinschaft gelebt, in der die Hoffnung normaler war als die Gleichgültigkeit oder der Zynismus, wo das Wort Kamerad für Kameradschaft stand und nicht, wie in den meisten Ländern, für Schwindel. Man hatte die Luft der Gleichheit eingeatmet. Ich weiß sehr genau, wie es heute zum guten Ton gehört zu verleugnen, dass der Sozialismus etwas mit Gleichheit zu tun hat.

In jedem Land der Welt ist ein ungeheurer Schwarm Parteibonzen und schlauer, kleiner Professoren beschäftigt zu ‚beweisen‘, dass Sozialismus nichts anderes bedeutet als planwirtschaftlichen Staatskapitalismus, in dem das Motiv des Raffens erhalten bleibt. Aber zum Glück gibt es daneben auch eine Vision des Sozialismus, die sich hiervon gewaltig unterscheidet.

Die Idee der Gleichheit zieht den normalen Menschen zum Sozialismus hin. Diese ‚Mystik‘ des Sozialismus lässt ihn sogar seine Haut dafür riskieren.

Für die große Mehrheit der Menschen bedeutet der Sozialismus die klassenlose Gesellschaft, oder er bedeutet ihnen überhaupt nichts. Unter diesem Gesichtspunkt aber waren die wenigen Monate in der Miliz wertvoll für mich. Denn solange die spanischen Milizen sich hielten, waren sie gewissermaßen der Mikrokosmos einer klassenlosen Gesellschaft. In dieser Gemeinschaft, in der keiner hinter dem Geld herrannte, wo alles knapp war, es aber keine Privilegien und kein Speichellecken mehr gab, fand man vielleicht in groben Umrissen eine Vorschau davon, wie die ersten Schritte des Sozialismus aussehen könnten. Statt mir meine Illusionen zu rauben, fesselte mich dieser Zustand. Die Folge war, dass ich noch viel stärker als vorher wünschte, der Sozialismus möge verwirklicht werden. Teilweise kam das daher, weil ich das Glück gehabt hatte, unter Spaniern zu leben. Mit ihrer angeborenen Anständigkeit und ihrem immer gegenwärtigen anarchistischen Gefühl würden sie selbst die ersten Stadien des Sozialismus erträglicher machen, wenn man ihnen nur eine Chance gäbe.“ Wieviel  anders wird Orwell in seiner Dystopie „1984“ ein totalitäris Sytem beschreiben.

Als Orwell seinen Bericht verfasste, war der Spanische Bürgerkrieg noch im vollen Gange. Die gelebte Utopie, deren Ende auch Hans Magnus Enzensberger in seinem dokumentarischen Roman „Der kurze Sommer der Anarchie“ über Buenaventura Durruti beschrieb, wurde zum Teil einer gemeinsamen Erinnerung der Beteiligten. Es scheint, dass die aktuellen Krisen dieser Welt eine Rückbesinnung auf die Utopie als Zukunftsziel notwendig machen.

Meine Lesetipps zum Thema:

George Orwell – Mein Katalonien

Hans Magnus Ezensberger – Der kurze Sommer der Anarchie

Buch und Film von Isamelle Fremeaux und John Jordan – Pfade durch Utopia

Achim von Borries/Ingeborg Weber-Brandies (HG.) – Anarchismus Theorie Kritik Utopie

Der Film „Die Utopie leben! Der Anarchismus in Spanien„, den der Sender arte vor einigen Jahren ausstrahlte, sollte unbedingt auf DVD erscheinen oder wenigstens wiederholt werden!

Selbstverständlich sind die Amazon-Links nur im Notfall zu verwenden. Viel ratsamer ist die Unterstützung des lokalen Buchhandels.

Die Reihe wird fortgesetzt.




Kapitalverbrechen und Raubzug

von Dirk Jürgensen ...

Prof. H. Lesch über die Finanzkrise und den sonstigen Irrsinn des Lebens in der ökonomisch dominierten Welt.

Dieser Beitrag aus der Serie „Pelzig hält sich“ ist im Sinne unserer schnelllebigen Zeit zwar schon alt, er stammt vom 03.07.2012, er bleibt dennoch aktuell und sehenswert. Damals war die Finanzkrise ein uns alle beschäftigendes Thema, doch scheint all das, was unbedingt geändert werden sollte und auch die Krise selbst, längst vergessen. Dabei wird die nächste Finanzkrise ganz sicher wieder kommen. Vielleicht ist sie aber auch gar nicht beendet, sondern aufgrund all der Kriege, Flüchtlichgsdramen und Seuchen nur nicht mehr ausreichend Schlagzeilen gerecht?




Düsseldorfer Schafe

von Dirk Jürgensen ...

Schafe am Rhein- Foto: © Jürgensen - Düsseldorf

Am Rhein in Düsseldorf, direkt dem Landtag von NRW gegenüber, ist das Gras besonders schmackhaft. Wer sollte sich da noch um Politik scheren? Zudem noch bei diesem herrlichen Frühherbstwetter?

 




Welche Alternative eigentlich? Da verlierste hinterher immer.

von Dirk Jürgensen ...

Ein Thekengespräch über die AfD

– – –

Mann 1: Jupp, mach mal ganz schnell zwei Bier.

Mann 2: Aber auf meinen Deckel. Mein Kumpel macht ja ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. Was ist denn los?

Mann 1: Ach, waren doch wieder Wahlen im Osten. Mittlerweile machen die mir mit ihren Wahlerfolgen richtig Angst.

Mann 2: Wer?

Mann 1: Die von der AfD.

Mann 2: Von wem?

Mann 1: Von der AfD, Alternative für Deutschland, diese irgendwie Rechten und irgendwie radikal neoliberalen Marktverherrlicher.

Mann 2: Ach die. Das Neoliberale hat auch die FDP sterben lassen. Das will niemand mehr. Hat auf Dauer keine Chance. Und was das Rechte bei denen angeht, … Ich glaube, so schlimm sind die gar nicht.

Mann 1: Wie kommst Du denn da drauf?

Mann 2: Ist doch ganz einfach. Die können sich doch nicht Alternative für Deutschland nennen, wenn sie hintenrum nur Deutschland, Deutschland über alles wollen. Mit dem Namen können die keine Nazis sein.

Mann 1: Versteh‘ ich nicht.

Mann 2: Ist doch ganz einfach. Die wollen oder versprechen uns eine Alternative für Deutschland. Und das kann dann logischerweise nicht Deutschland sein. Sondern ein anders Land.

Mann 1:  Häh, wie jetzt?

Mann 2:  Denk‘ mal an deinen Urlaub. Fährste da immer in Deutschland rum?

Mann 1:  Natürlich nicht. Bei dem unsicheren Sommerwetter.

Mann 2:  Eben. Du findest eine Alternative und die ist …?

Mann 1:  Meistens Mallorca, also Spanien. Da scheint immer die Sonne, die Leute sind viel entspannter als bei uns und überhaupt, … Wenn ich in zehn Jahren so weit bin, lass ich mir die Rente da hinschicken. Ich war auch schon mal in der Türkei, aber da habe ich das Essen nicht vertragen.

Spanien, eine Alternative für Deutschland? - Foto: © Jürgensen - Düssseldorf

Spanien (Mallorca), eine Alternative für Deutschland?
Foto: © Jürgensen – Düssseldorf

Mann 2:  Siehste.

Mann 1:  Was sehe ich?

Mann 2:  Dass Du ne Altenative für Deutschland kennst. Und die heißt in Deinem Fall Spanien.

Mann 1:  Und so eine Alternative für Deutschland will uns auch die AfD bieten?

Mann 2:  Vermutlich. Ich habe deren Parteiprogramm nicht gelesen, aber dem Namen nach wollen die uns immerhin eine Alternative bieten. Und die sollte doch vermutlich nicht schlechter als Deutschland sein. Wäre dann ja keine Alternative.

Mann 1:  Vielleicht Holland?

Mann 2:  Wieso Holland?

Mann 1:  Die machen bessere Pommes als der Jupp und haben super Strände. Wir fahren auch immer nach Venlo und kaufen Kaffee. Der ist da billiger. Holland wäre auch schon eine Alternative. Außerdem haben die tolle Radwege. Meine Frau und ich fahren doch in der letzten Zeit mehr mit dem Rad. Will die AfD die Radwege ausbauen. Wäre doch ein Anfang?

Mann 2:  Weiß ich nicht. Aber wenn man bedenkt, wie viele Deutsche ständig ins Ausland reisen, gibt es eine Menge Vorstellungen, wie eine Alternative zu dem aussehen könnte, das wir hier ständig erleben. Frankreich, Wein, savoir-vivre, gutes Essen, schöne Frauen. Italien, Pizza, Pasta, Amore. Einmal mit dem Finger durch den Atlas und man hat tausend Alternativen für Deutschland.

Mann 1:  Ist ja gut, aber kommen die denn mit ihren Vorstellungen überhaupt durch? Demnächst kommt es sicher zur ersten Koalition mit der CDU.

Mann 2:  Sicher nicht.

Mann 1:  Und warum?

Mann 2:  Die Merkel gibt denen einen unbedeutenden Ministerposten und sagt dann ganz einfach: Deutschland ist alternativlos. Und Ende mit der AfD.

Mann 1:  Ist vielleicht auch besser so, denn die wollen auch den Euro abschaffen. Dann wird das bestimmt hinterher schwieriger mit meiner Rente.

Mann 2:  Schwieriger?

Mann 1:  Ja, denk doch mal an die elende Umrechnerei in Peseten. Da verlierste hinterher immer.

Mann 2:  Jupp, noch zwei Bier!




Chin Meyer erklärt den Finanzmarkt

von Dirk Jürgensen ...

Die Stärke der Vergoldung eines Zeitalters zeigt sich nicht während des Funktionierens, sondern erst nach dem Zusammenbrechen der Finanzmärkte. Aber nur ganz kurz, dann wird wieder einen neue Goldschicht aufgetragen, denn da die gehandelten Werte nur in Ausnahmefällen tatsächlich greifbare sind, liegt der Zusammenbruch immer in nächster Nähe und ist nicht zu verhindern. Besser als manch ein Fachaufsatz erklärt der Kabarettist Chin Meyer die Logik der Derivate, den Wahnsinn der Glücksritter mit ihren Scheingeschäften zwischen der genialen Geschäftsidee und dem staatlichen Schutzschirm. Sein witzigies Beispiel ist überraschend einfach und stimmig. Bei allem Lachen über den Irrsinn der sich immer wieder aufpumpenden Finanzblasen bleibt die eine Frage offen: Wieso und warum fallen die Menschen, die Gesellschaften, die politischen Systeme immer wieder auf diesen Unsinn herein?

Kaum ein Netzfundstück der letzten Monate passte so gut wie dieses zum Ursprungsthema dieser Seite. Die Verwendung war nicht zu vermeiden.

 

Bildquelle (Startseite): www.chin-meyer.de




Der große Pan ist tot!

von Dirk Jürgensen ...

Düsseldorf zwischen Machiavelli, Pan, Joachim Erwin, Dirk Elbers und Thomas Geisel

 – Der Tod des Düsseldorfer Oberbürgermeisters Joachim Erwin (CDU), den ich in meinem Artikel für das Online-Magazin Einseitig.info vom 27. Oktober 2007 trotz seiner damals bereits bekannten Erkrankung nicht vorhersehen konnte, macht seinen Titel „Der große Pan ist tot!“, besonders in Verbindung mit dem damals geführten Untertitel „Düsseldorf zwischen Machiavelli, Pan und Joachim Erwin“ heute missverständlich. Er bedarf einer Erklärung, wenngleich im Zusammenhang des Textes deutlich werden dürfte, dass ich OB Erwin keinesfalls als einen Pan, vielmehr als dessen Gegenspieler verstand und verstehe. Um diesem Missverständnis vorzubeugen, habe ich den Untertitel nun durch die Namen der ihm folgenden Stadtoberhäupter ergänzt, wenngleich sie im Text zu kurz kommen. Ihnen seien noch zu verfassende Betrachtung ihrer Amtszeiten gegönnt.

Gänse als Vorboten Pans am Köbogen - Foto: © Jürgensen - Düsseldorf

Gänse als Vorboten Pans am Köbogen – Foto: © Jürgensen – Düsseldorf

Am 20. Mai 2008 starb Joachim Erwin nach schwerer Krankheit. Bei aller und in meinen Augen berechtigter Kritik an seiner Interpretation politischer Tätigkeit starb er viel zu früh. Zu früh für einen Menschen, für seine Angehörigen, Freunde, für alle, die sich mit ihm verbunden fühlten, keine Frage. Er starb aber auch zu früh, um eine seriöse Aufarbeitung der Ergebnisse seiner Bürgermeisterschaft in der erforderlichen Härte durchführen zu können. Die in Kapitel I zu lesende Geschichte seiner Karriere, ist aus der Sichtweise eines (nicht seines) Wählers verfasst, zutiefst subjektiv. Natürlich werden Erwins Parteifreunde ein ganz anderen Blickwinkel einnehmen. Beobachtet man zudem die Foren und Leserbeiträge der örtlichen Presse aus den letzten Jahren, hat sich eine gewisse Verklärung breitgemacht. Seine während der Amtszeit oft angeprangerte Gutsherrenart wurde durch Charisma ersetzt, was kaum argumentativ zu korrigieren ist und natürlich auch damit zu tun hat, dass sein Nachfolger, der inzwischen abgewählte Dirk Elbers (CDU) Erwins Politik eher ungeschickt, wenngleich ebenso auf bloße Zufriedenstellung von Investoren fortführte.

Mit der diesjährigen Abwahl Dirk Elbers‘ und der Wahl von Thomas Geisel (SPD) regen sich leise Hoffnungen, dass sich der im Rathaus vorherrschende Politik- und Führungsstil und das mutigere Beachten von Bürgerinteressen endlich ändern könnte. Eine Hoffnung, die ich im Kapitel IV des Textes bereits hatte, jedoch aufgrund der unsere Demokratie so belastenden Lethargie der Wählerschaft, längst begraben musste. Das am Ende angesprochene Bürgerbegehren, für das die Initiatoren tatsächlich genug Unterschriften sammeln konnte, fand statt, war jedoch aufgrund mangelnder Beteiligung nicht von Erfolg gekrönt.

Die erhoffte Wiedergeburt Pans musste also auf einen unbestimmten Zeitpunkt verschoben werden. Angesichts der traurigen und teilweise auch wütenden Reaktionen vieler Düsseldorfer, wenn sie an den nun unter üblichen Umständen wohl nicht mehr zu verhindernden Abriss des ehemaligen Derendorfer Güterbahnhofgebäudes denken, hat sich daran auch heute noch nichts geändert. Dieses firmierte lange Jahre unter dem Namen „Les Halles“, beherbergte ein beliebtes, innen einem verwunschenen Schloss gleichendes Restaurant, das sich abends in eine Diskothek verwandelte und draußen einen lauschigen Biergaten bot (und bis zum Jahresende bietet). Es stand einst unter Denkmalschutz und diente den Immobilienvermarktern als Lockvogel für solvente Wohnungssuchende. So entstanden um das „Les Halles“ herum neue Luxus-Wohnblöcke, allesamt mit ebenfalls französisch klingenden

Von „Le Flair“ über „Pandion d’Or“ und „Pandion Le Grand“ bis hin zu „Ciel et Terre“ reichen die mehr oder weniger schicken Bezeichnungen für die recht biederen, aber noblen Wohnsilos. Es sei darauf hinzuweisen, dass „Pandion“ nur phonetisch mit Pan verwandt ist. Ob die zwei attischen Könige gleichen Namens dafür Pate gestanden haben, darf vermutet werden. Man kann sich eine entsprechende Recherche allerdings sparen. Vermutlich geht es nur um den hübschen und bedeutungsschwangeren Klang des Wortes, der der Leitung einer Immobilienfirma aus Köln dazu gebracht hat, ihn als Firma zu führen.
. Die Bewohner werden bald nicht mehr wissen, warum das so ist. Obwohl. Was noch nicht abgerissen ist, kann noch erhalten werden. Man muss den Investoren nur den Appetit verderben, dann kann jeder Vertrag rückgängig gemacht werden. Gesichtsverlust ist kein gültiges Kriterium.

Mein Artikel aus dem Jahr 2007 hat also seine Aktualität bewahrt:

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(Düsseldorf Arcaden from Magnus Jürgensen on Vimeo.)




Tourist aus der Zukunft

von Dirk Jürgensen ...

Anmerkungen zum Kurzfilmexperiment Tourist aus der Zukunft  von Magnus Jürgensen und Johannes Menzel

– Ein Zeitreisender erlebt unsere Gegenwart oder das, was wir gemeinhin dafür halten.

Tourist aus der Zukunft - Kurzfilm von Magnus Jürgensen und Johannes MenzelZukunft darf geplant, kalkuliert, gewünscht oder befürchtet, erträumt und in stimmungsvollen Farben ausgemalt, Unwägbarkeiten ausgelassen werden.

Vergangenheit wurde von uns oder anderen Menschen erfahren, erlebt, erzählt, nachgelesen, betrachtet, dabei gerne verherrlicht oder von Schicksalsschägen und Fehlentscheidungen dominiert.

Bilder von Zukunft und Vergangenheit verlieren mit größerem Abstand an schärfe, verschimmen zum Teil bis zur Unkenntlichkeit, doch sie bleiben in unserer individuellen Wahrheit immer vorstellbar.

Wie verhält es sich mit der erst auf dem zweiten Blick seltsamen Gegenwart, jenem flüchtigsten aller Zustände von Zeit? Kann es so etwas wie Gegenwart überhaupt geben, wenn sie im Augenblick der Wahrnehmung bereits zur Vergangenheit geworden ist? Die Reaktion auf ein vor uns bremsendes Fahrzeug bezieht sich auf ein Ereignis aus der Vergangenheit und richtet sich auf die Zukunft einer hoffentlich noch zu vermeidenden Kollision. Irgendwo dazwischen war Gegenwart. Nur wo?

Der Tourist aus der Zukunft beobachtet die Zeit, nimmt sie und ihre Anzeichen wahr. Er schießt mit einer Kamera, die selbst das Souvenir einer Reise in eine noch weitere Vergangenheit ist, Erinnerungsfotos aus seiner mit dem Klick vergangenen Gegenwart. Mutmaßungen über die Zufälligkeit seiner Aufenthaltsorte, all die Windungen, Haken, Sprünge und Lücken im Ablauf seiner Reise, lassen an der Qualität des verwendeten Reiseführers zweifeln. Das ist nicht verwunderlich, denn selbst der beste Reiseführer vermag nicht verlässlich in die Zukunft zu schauen. So taumeln wir ohne Anleitung mit all den anderen Touristen zwischen Vergangenheit und Zukunft hin und her.

Der experimentelle Kurzfilm ist unter mjuer.de im Netz anzusehen.




Rote Blaupausen. Ein Wegweiser zu alten und neuen Utopien

von Dirk Jürgensen ...

Wir brauchen Utopien – Teil 4

Wolfgang Both - Rote Blaupausen. Eine kurze Geschichte der sozialistischen Utopien

Wolfgang Both – Rote Blaupausen

– Spätestens seit dem durchaus verdienten Zusammenbruch der sozialistischen Systeme und der darauf folgenden konkurrenzlosen Allmacht kapitalistisch geprägter Gesellschaften scheinen Sozialutopien keinen Platz mehr in unserer Vorstellungswelt zu haben. Das ist verständlich, denn der Kapitalismus lebt von der Hoffnung auf Besserung, auf ein grenzenloses Wachstum ohne Ziel. Das Erreichen eines Ziels, ein Idealzustand passt nicht in dieses Denken, denn nach dem Zieleinlauf, nach dem Eintreten von Zufriedenheit, würde Stillstand eintreten. Das wäre fatal für den Kapitalismus und ist aber eine vielleicht etwas zu kurz formulierte, nach meinem Verständnis jedoch zutreffende Erklärung dafür, warum es Utopien derzeit so schwer haben.

Die Ideen der frühen Sozialisten und Kommunisten werden sogar von innigsten Vertretern des Kapitalismus mit einem Lächeln als gut gemeint, als Idealistisch anerkannt, jedoch für undurchführbar gehalten. Utopien eben, die mit Hirngespinsten, unerreichbaren Wunschvorstellungen seltsamer

Ein Begriff, den ich aufgrund seiner meistens von konservativen bis sehr rechtsgerichteten Kritikern in seiner negativen Belegung ablehne. Was will man denn sein, wenn es kein „Gutmensch“ sein darf, ein „Schlechtmensch“?
gleichgesetzt werden, die das nicht auszutreibende Machtstreben und die Raffgier des bewiesenermaßen unverbesserlichen Menschen leugnen. Diese immer wieder durchscheinenden miesen Eigenschaften des Menschen, so ist es einhellig zu hören, treiben die Wirtschaft an, sind Motor des Fortschritts und haben letzthin auch die auf Gerechtigkeit und Gemeineigentum fußenden Ideen der Sozialisten verraten.

Ich vermute, dass die von vielen Sozialisten seit Marx und Engels ausgesprochene Ablehnung der Utopie einen Teil zum Scheitern ihres Projekts beigetragen hat. Dieses „Bilderverbot“ hat den Menschen ihr Ziel, ihre Vorstellung einer besseren Zukunft genommen und dem Abweichen vom Weg dorthin nicht entgegensetzen können. Der Mensch braucht Bilder, wenn diese auch wissenschaftlichen Methoden nicht standhalten können. Wer sagt denn, dass sie es müssen?

Einen aufschlussreichen Beitrag (nicht nur) zur Beantwortung dieser Frage leistet Wolfgang Both in seinem Buch „Rote Blaupausen – Eine kurze Geschichte der sozialistischen Utopien“. Neben Edward Bellamy und Mack Reynolds werden darin zahlreiche bekannte und unbekannte Schriftsteller aus verschiedenen Ländern vorgestellt, die es wert sind, wieder einmal aufgelegt, gelesen und besprochen zu werden. Auch macht „Rote Blaupausen“ Appetit auf eine Fortführung utopischer Entwürfe der Vergangenheit, denn Both schreibt:

„Die Anzahl der Weltentwürfe mag geringer geworden sein. Aber die Auseinandersetzung über die Gestaltung einer freien und gleichen Gesellschaft, über die gerechte Verteilung von Gütern und den Reichtum der Welt geht in vielen Kreisen weiter. Die wachsende Komplexität unserer Welt und unser Bewusstsein davon erfordern noch gewagtere Entwürfe als die hier besprochenen. “ (Rote Blaupausen S. 206)

Ja, wir brauchen Utopien.

Ein empfehlenswerter Wegweiser zu alten und neuen Utopien, wenngleich leider recht kostspielig:

Wolfgang Both

Rote Blaupausen. Eine kurze Geschichte der sozialistischen Utopien

Utopisch-Phantastische Bibliothek, Sonderband

Auf 222 Exemplare limitierte und nummerierte Ausgabe

Leinen mit Schutzumschlag | 238 Seiten | Euro 49,00

ISBN 978-3-926126-83-2

Bei Ihrem örtlichen Buchhändler zu bestellen!




Vom Vorwurf der Parteinahme in Kriegszeiten

von Dirk Jürgensen ...

Oder: Wem nützt die ständige Vereinfachung und Zuweisung vorgeblicher Parteinahme?

Foto: ©Jürgensen - Düssseldorf

Foto: ©Jürgensen – Düssseldorf

Ich halte Putin für einen gefährlichen Macho mit sehr fragwürdiger Geheimdienstvergangenheit und den russischen Kapitalismus für mindestens so menschenverachtend wie den us-amerikanischen. Merkels Ergebenheit gegenüber Bush und Obama widert mich an. Ich kritisiere die Politik der israelischen Regierung und hasse keinen Juden, wie ich auch die Russen nicht hasse, obwohl ich nicht verstehen mag, warum sie mehrheitlich so einen wie Putin wählen. Muss man Homophobie und die Unterdrückung von Opposition in seine Kritik einbeziehen, wenn man viel zu liberale Waffengesetze und das noch immer nicht geschlossene Gefangenenlager in Guantanamo anprangert? Sind amerikanische Fundamentalisten christlicher Art schlimmere oder bessere Menschen als liberale, aber Steuern hinterziehende Bankvorstände? Wenn ich die demokratisch gewählte Regierung Israels kritisiere, weil sie mit ihrem Verhalten den radikalen Islamismus fördert, will ich übrigens nicht automatisch die mindestens ebenso bekloppten radikalen Kämpfer auf der anderen Seite vergessen zu kritisieren. Das klappt nur nicht immer im gleichen Satz. Man mag mir in diesem Sinne übrigens gerne vorwerfen, das gerechtfertigte Beschimpfen der Faschisten unter den Ukrainern unterlassen zu haben, als ich meine Ansicht über Putin und die von ihm zumindest geduldeten Separatisten erwähnte. Wie, ich hatte Letztere gar nicht erwähnt? Dann eben jetzt.

Immer, wenn ich der einen Seite eine verbale Ohrfeige verpasse, verschone ich die andere unbedingt abzuwatschende Seite. Oft weiß ich noch nicht einmal mehr, wer den jeweiligen Konflikt einst ausgelöste, doch habe ich vor vielen Jahren lernen müssen, dass das Nachsitzen nach einer Schulhofkeilerei beide Kontrahenten gleichermaßen und ohne Klärung der Schuldfrage trifft. Denn die Keilerei selbst war das Vergehen und von der Beteiligung daran konnte sich keine Seite freisprechen. Das könnte beruhigen.

Sicher ist das Verhältnis zwischen pubertär aufgeheizten weniger komplex und schon gar nicht so historisch aufgeladen als jenes zwischen Staaten oder ethnischen Mehr- und Minderheiten, aber eine Sache ist unbedingt festzuhalten:

In den meisten Kriegen kämpfen Arschlöcher gegen Arschlöcher. Das ist in der Ukraine so, in Syrien und anderswo im gleichen Maße.

Auch Deutschland ist noch lange keine arschlochfreie Zone. Im Gegenteil – und ich will noch nicht einmal ausschließen, dass ich in den Augen mancher Mitbürger selber eines bin. Wie auch immer ihr/Ihr Urteil ausfällt, bin ich überzeugt ein viel kleineres Arschloch zu sein, als es der Handelsvertreter eines Rüstungskonzerns ist, der sein Geld damit verdient. den kriegführenden Arschlöchern das gegenseitig massenhafte Unterdrücken und Mordenzu  ermöglichen. Letzthin ist es sogar fast egal, ob es besoffene Separatisten mit oder ohne Beteiligung russischer Söldner, ob überforderte oder ebenfalls besoffene Soldaten der ukrainischen Armee waren, die MH-17 abschossen, wer den Befehl dazu gab, wenn nicht geklärt wird, wer diesen Idioten die Raketen geliefert hat. Klären wir das, wenn wir wissen, dass tatsächlich ein Abschuss vorlag.

Trotz aller Offenheit und massenhaften Meinungsverbreitung dieser Tage, leben Kritiker in ihren weltweiten Foren und Blogs in einer schweren Zeit. Wer seine Kritik als Denkanstoß versteht, kann angesichts der schnellen und oft übermäßigen Reaktionen schnell den Mut verlieren. Ob die Kritik vollständig gelesen oder gar verstanden wurde, bleibt ungeklärt und das Denken verkommt zur Nebensache. Neben einem „like“ wird ihm in zunehmendem Maße und unabhängig von der Argumentationskette Ignoranz, Parteinahme und Blindheit auf dem ganz selbstverständlich falschen Auge vorgeworfen. Russenhass und Amerikahörigkeit lautet die Anklage der einen Seite, Ignorieren der Nazis in der Ukraine und bezahlte oder verblendete Putinversteherschaft die der anderen. Im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt wird ihm entweder das Einknicken vor dem sich ausbreitenden Islam oder andererseits Antisemitismus vorgeworfen. Wer achtet schon darauf, dass auch Araber und Palästinenser als Semiten gelten und darauf, dass diese Bezeichnung eine sprachgeschichtliche Bedeutung und keinesfalls eine religiöse hat. Meinung, Ansicht, Glaube, Vorurteil und Wissen. Manchmal wünscht man sich einen globalen Klassenlehrer, der alle Seiten nachsitzen lässt.

Die Ausgewogenheit eines Beobachters mindert keinen kriegerischen Konflikt, da die Fronten verhärtet sind. Ausgewogenheit ist dennoch ein wichtiger Aspekt. Besonders dann, wenn man seine Kritik mit einer Recherche an möglichst unterschiedlichen Quellen untermauert. Vollständig kann Ausgewogenheit niemals sein, denn kein Mensch und kein Prozess der Meinungsbildung ist perfekt und als endgültig richtig anzusehen. Der Irrtum liegt immer im Bereich des menschlich Wahrscheinlichen, wenn man ihn auch nach bestem Wissen und Gewissen zu vermeiden sucht. Hingegen ist eine gehörige Portion Einseitigkeit nötig, um eine Kritik griffig und genügend schmerzhaft zu gestalten. Einseitigkeit macht die andere Seite für Konter anfällig. Das sollte man hinnehmen. Diese Konter kommen mit Glück in sachlich stimmiger Form und ansonsten, so ist es aktuell in allen Foren zu beobachten, als simple Zuweisung vorgeblicher Parteinahme für die andere, für die „dunkle Seite der Macht“. Um es also mit einer Antwort auf die einleitende Frage zu versuchen:

Wer keine Diskussion will, wer eine Meinung nur duldet, wenn sie der eigenen entspricht, wer seinen Starrsinn oder seine indoktrinierte Sichtweise für unumstößlich und sogar für das Ergebnis eigener Erfahrungen hält, wer keine Argumente vorzubringen hat, nutzt es zur Schaffung seines Selbstwertgefühls, den anders Denkenden als parteilich zu bezeichnen.

Wer dem Glauben verfallen ist, dass der Feind eines Arschlochs automatisch keines ist, hat ein großes Problem.

In den meisten Fällen merkt er es aber nicht und ist somit unser aller Problem.




Mein Opa traute den Amis nicht

von Dirk Jürgensen ...

Wo waren Sie, als vor 45 Jahren der erste Mensch den Mond betrat?

Kampf um den Weltraum

Das Sammelalbum „Kampf um den Weltraum“ erschien bei der Heinerle Hugo Hein KG, Bamberg – Die vollständige Bildersammlung kann beim Autor eingesehen werden.

– Ich kann diese Frage mit Leichtigkeit beantworten, denn es waren Sommerferien und glücklicherweise besaßen meine Großeltern einen Fernseher. So konnte mir eines der größten medialen Ereignisse aller Zeiten auch an der Ostsee nicht entgehen. Als elfjähriger Junge war man von der Raumfahrt ohne Einschränkung begeistert, kannte alle Raketentypen, alle Astronauten und sogar manche Kosmonauten. Man bastelte das Modell einer Saturn V, sammelte Bilder und klebte sie in sein Album. Mein Album gibt es noch heute, wie auch die Fußabdrücke der Astronauten auf der Mondoberfläche nicht verschwunden sein dürften. Nur mein Opa, der traute den Amis nicht, hielt die ganze Veranstaltung für den Filmtrick eines Hollywood-Studios. Erst viel später erfuhr ich, dass er mit dieser Ansicht gar nicht so alleine stand.

Lesen Sie mein Protokoll der ersten Mondlandung an der Ostsee




Karstadt und das Ende der Warenhäuser

von Dirk Jürgensen ...

Tausendfach, alles unter einem Dach – Das war einmal

Warenhaus in Schieflage – Ältere mögen sich erinnern. An jene Errungenschaft der modernen Welt, für einen Artikel nicht mehr von Geschäft zu Geschäft laufen zu müssen, weil es doch in jeder größeren Stadt mindestens einen Kaufhof, Wertheim, Horten, Hertie oder Karstadt gab. Eines dieser Warenhäuser genügte, um sich vollständig einzukleiden und ganz nebenbei auch noch Lebensmittel, Kosmetik, Uhren und Schmuck oder Haushaltartikel in riesigen Tüten nach Hause zu schleppen. Kleine Geschäfte mögen geflucht haben, aber als Kunde liebte man, endlich „tausendfach, alles unter einem Dach“.

Heute sind Warenhäuser nur noch das Abbild der Fußgängerzonen mit ihren Marken-Stores. Wer ein T-Shirt kaufen möchte und keine spezielle Marke präferiert, muss teils sogar auf mehreren Etagen verstreute Shop-in-Stores-Inseln aufsuchen, um endlich das richtige zu finden. Das sind Läden im Laden, die es mit der gleichen Auswahl auch noch einmal als Laden in der Fußgängerzone gibt, was Vielfalt allenfalls vortäuscht.

Früher waren viele Dinge schlechter, aber gesuchte Artikel waren wenigstens schneller in speziellen Abteilungen zu finden. Die Rückkehr zu dieser alten Warenhaustugend würde den Markenvertrieblern zwischen Esprit, S.Oliver, Tom Tailor, Superdry oder sonstigen gerade einmal angesagten Brands nicht gefallen – und vielen Kiddies, die es nicht mehr anders kennen auch nicht – aber ich werde das Gefühl nicht los, dass genau dieses Problem ein Grund für den Niedergang der Warenhäuser gilt. Nicht umsonst schließt in Düsseldorf gerade das einstige Horten-Stammhaus an der Berliner Allee (mit seiner leider noch immer nicht unter Denkmalschutz stehenden Eiermann-Fassade) und bangen die Karstadt-Mitarbeiter der ganzen Republik um ihre Arbeitsplätze, weil ihr Eigentümer Nicolas Berggruen höchstwahrscheinlich einen Verkauf anstrebt.

Neu ist das Thema nicht und außer der Verwendung der neudeutschen Bezeichnung als Department Store ist dem Management im Sinne einer Abgrenzung vom kleinteiligen Einzelhandel und einer Eigenständigkeit des eigenen Profils nichts eingefallen, wie der Rückblick auf eine Geschichte belegt, die ich bereits vor zehn Jahren schrieb:

Die Hose – Von der Krise im Einzelhandel




Hoffnung und Lust setzen Ziele

von Dirk Jürgensen ...

Wir brauchen Utopien – Teil 3

William Morris und seine „Kunde von Nirgendwo“

William

William Morris, * 24. März 1834 in Walthamstow; † 3. Oktober 1896 in London
Morris war ein Multitalent, ein Maler, Herausgeber, Architekt, Dichter, Drucker, nach heutiger Begrifflichkeit Designer und gilt als einer der ersten Vertreter der britischen sozialistischen Bewegung.

William Morris - Kunde von Nirgendwo - Golkonda-Verlag

William Morris – Kunde von Nirgendwo – Golkonda-Verlag

Als Mitgründer des Arts and Crafts Movement empfand Morris die Produkte der Massenproduktion der damals aufstrebenden Industrie als

Bezüglich des Arbeitsprozesses selbst zeigt sich dieses Seelenlose im Sinne eines Karl Marx in der Entfremdung.
und forderte eine
Ein Ansatz, den wir auch und grade heute angesichts von Billigimporten aus Fernost und rücksichtsloser Massentierhaltung gut nachvollziehen können. Leider kann sich der aktuell zu beobachtende Trend, mehr auf die Qualität der Produkte und auf faire, ökologisch unbedenkliche Fertigung zu achten, nur bei jenen Verbrauchern durchsetzen, die es sich finanziell leisten können – und wollen. Im Textilbereich dominieren Ketten wie Primark oder H&M, die die Argumente Morris‘ leider noch immer bestätigen.
auf die höhere Qualität handwerklicher Arbeiten. Genau diesen Ansatz verfolgte er in seinem als Gegenentwurf zu Edward Bellamys „Rückblick aus dem Jahre 2000“ verstandenen Utopie „Kunde von Nirgendwo“, die 1890 veröffentlicht wurde.

In seiner Zeitung „The Commenweal“ veröffentlichte Morris zuvor (1890) eine vielbeachtete Kritik des „Rückblicks“, in der er deutlich macht, wie fundamental die Unterschiede in der Sichtweise auf einen idealen, auf einen ebenfalls gerecht angesehenen Staat sein können:

Die einzige sichere Art, eine Utopie zu lesen, ist, sie als Ausdruck der Gesinnung ihres Autors zu betrachten.So gesehen ist Mr. Bellamys Utopie immer noch als sehr interessant zu bezeichnen, da sie mit reichlich ökonomischem Sachverstand und großem Geschick aufgebaut ist. Und natürlich ist sein Temperament das zahlreicher Menschen. Diese Temperament könnte man als unverfälscht, als modern, als ahistorisch und unkünstlerisch bezeichnen; es hat zur Folge, dass jemand (falls er denn Sozialist ist) mit der modernen Zivilisation völlig zufrieden wäre, wenn es nur gelänge, Ungerechtigkeit, Elend und die Sinnlosigkeit der Klassengesellschaft abzuschaffen;solche halbherzigen Veränderungen scheinen ihm machbar. Das einzige Lebensideal, das solch ein Mensch zu sehen vermag, ist das eines fleißigen Angestellten aus der Mittelschicht von heute, geläutert vom Verbrechen der Komplizenschaft mit der Monopolistenklasse und unabhängig anstatt, wie jetzt, parasitär. Es ist nicht zu bestreiten, dass ein solches Ideal, falls es denn verwirklicht werden könnte, im Vergleich mit den derzeitigen gesellschaftlichen Verhältnissen ein großer Fortschritt wäre. Aber kann es überhaupt verwirklicht werden? […]

Aus der Zufriedenheit des Autors mit den besten Bestandteilen des modernen Lebens folgt naturgemäß, dass er den Wandel hin zum Sozialismus als eine Vorgang betrachtet, der ohne den Zusammenbruch dieser Lebensweise vonstattengeht oder jedenfalls ohne größere Störungen, und zwar vermittels der finalen Entwicklung der großen privaten Monopole, die so charakteristisch für die heutige Zeit sind. Er unterstellt, dass sie zwangsläufig in einem einzigen großen Monopol aufgehen müssen, welches das ganze Volk einschließt und und vom ganzen Volk zu seinem Vorteil betrieben wird.

Dieses Zitat stammt wie das folgende aus dem „Rückblick aus dem Jahre 2000“, wie er im Golkonda-Verlag erschien. An dieser Stelle handelt sich um die vom Herausgeber Wolfgang Both in Zusammenarbeit mit Andreas Fliedner und Hannes Riffel übertragene Rezension Morris‘.[/title]

Morris charakterisierte Bellamys Zukunftsentwurf als stark national zentralisierten Staatskommunismus, als gesellschaftliche Maschinerie zwischen Arbeitszwang und Verpflichtung zur Aufgabe der Arbeit mit 45 Jahren. Zudem hielt er die urban geprägten Lebensräume angesichts der realen Wohnverhältnisse in den Ballungszentren, für nicht erstrebenswert und lehnte den vermehrten Einsatz von Maschinen zur Verringerung der menschlichen Arbeitszeit sinnlos ab. Morris glaubte, dass das Ideal der Zukunft nicht in einer Verringerung der menschlichen Anstrengungen durch die Reduzierung des Arbeitsumfangs auf ein Minimum bestehen wird, sondern in einer Reduzierung der „Mühen“ der Arbeit auf ein Minimum, das so klein ist, das sie aufhören,Mühen zu sein; in einem Gewinn an Menschlichkeit, von dem nur geträumt werden kann, bis die Menschen noch gleichberechtigter geworden sind, als es ihnen Mr. Bellamys Utopie gestattet,[…].

Mit der „Kunde von Nirgendwo“ formulierte William Morris seinen in der Rezension angedeuteten Gegenentwurf zum „Rückblick“.

Sein in London lebender Ich-Erzähler William

Die namentliche Ähnlichkeit mit Bellamys Julian West ist ganz sicher kein Zufall. Außerdem weist der Name gleichzeitig auf den Autor selbst und die Gastrolle des Protagonisten in Morris‘ Utopie hin.

schläft nach einer hitzigen Debatte über einen der Revolution folgenden Zukunftsstaat schlecht und wacht am frühen Morgen des vermeintlich folgenden Tages auf und macht sich auf einen Spaziergang an die Themse. Zu seiner Überraschung ist das Wasser des Flusses sauber, es schwimmen sogar Lachse darin. E sieht keine Industrieschornsteine mehr und die bisherige moderne (vermutlich Stahlbau-)Brücke wurde durch eine im alten Stil aus Stein errichtete ersetzt. Guest trifft am Ufer einen Fährmann, dem er sich als jemand vorstellt, der lange auf Reisen gewesen ist und die Verhältnisse fremd geworden seien. Mit den als Bezahlung angebotenen Münzen, die Guest in seiner Tasche findet, kann der Fährmann nichts anfangen und so beginnt eine Reihe von Fragen und Antworten, in der dem Gast die Vorzüge des Lebens im 20. Jahrhundert im Laufe einer Reise auf der Themse von verschiedenen Menschen gezeigt werden.

Die Lebensverhältnisse in Morris‘ Idealstaat, dessen Struktur aufgrund seiner radikalen Dezentralisierung dem Anarchismus nicht fern ist, sind von einem romantischen „Zurück zur Natur“ geprägt, aus von einer starken Bewunderung des Mittelalters spricht.. Die großen Städte, die rußigen Industriezentren des 19. Jahrhunderts wurden längst zurückgebaut,die Slums niedergerissen.Das neue London ist von Wäldern und Wiesen durchzogen, die Landflucht der Industrialisierung konnte umgekehrt werden. Nur Reste alter großer Gebäude sind noch zu finden. So wird das Parlamentsgebäude in London übergangsweise noch als Düngerlager verwendet. Heutigen Lesern kommt es oftmals befremdlich vor, dass Morris Gebäude, die wir als schön und alt ansehen, als unerträglich modernistisch und

Vollkommen unfreiwillig – mit entgegengesetzter Intention sogar – gibt uns Morris damit einen Hinweis darauf, mit der Kritik an zeitgenössischer Architektur sorgsam umzugehen. Was uns heute als hässlich erschreckt, kann morgen als schön und stilbildend gelten.
beschrieb.

Die Ästhetik der Natur, der dörflichen Strukturen, der Häuser, der Gebrauchsgegenstände und das Entstehen dieser Dinge stellen ein grundlegendes Thema in Morris‘ Utopie. Die Menschen seines Zukunftsentwurfs haben das Handwerk, Kunsthandwerk, die Kunst, die aufgrund maschineller Massenproduktion vergessenen Fähigkeiten zurückgewonnen und entwickeln diese von Generation zu Generation weiter, werden perfektioniert. Es gibt keine Fabriken mehr, man trifft sich gegebenenfalls in vereinigten Werkstätten zur gemeinschaftlichen Arbeit. Arbeit, Kreativität und dadurch entstehende Befriedigung und Identifikation mit dem Hergestellten oder Geleisteten haben die Gedanken an einen monetären Gegenwert verdrängt. Da es aufgrund des Fehlens von Geld oder eines auf Tauschbasis funktionierenden Marktes keine monetäre oder vergleichsbedingte Wertigkeit der Güter mehr gibt, ist das durch die sinnvolle, befriedigende Arbeit erfüllte Leben selbst Belohnung genug. Güter werden an die Menschen verschenkt,die sie benötigen und sich an ihnen erfreuen können.

Gegenseitige Hilfe, besonders in landwirtschaftlichen Saisonzeiten ist obligat, doch immer auch freiwillig und kommt als fröhliche Freizeit auf dem Lande daher.

Die Schönheit der Lebensumstände hat sich auch auf die jugendliche Schönheit der Menschen übertragen, da sie alle aus einer durch Freiheit, (eine für das 19. Jahrhundert erstaunlich freie und gleichberechtigte) Liebe und Vernunft bestimmten Beziehung entstanden sind. Frauen sind selbstbestimmt, selbstbewusst und gleichberechtigt, wenngleich die Aufteilung der Arbeiten der Erwachsenen eher einem klassischen Modell der Geschlechterrollen zu entsprechen scheint.

Kinder wachsen in einem antiautoritärem Umfeld auf und das Wort „Erziehung“ hat sich in ein Fremdwort verwandelt. Somit sind auch Schulen obsolet. Der Begleiter Guests, Dick, formuliert es, nachdem er augenzwinkernd nachfragte, warum denn nicht auch alte Leute erzogen würden, so:

Aber ich kann Ihnen immerhin versichern, dass unsere Kinder etwas lernen, ohne dass sie durch eine Lehr- oder Unterweisungssystem zu gehen haben. Ei, nicht eines dieser Kinder sollten Sie finden, Junge oder Mädchen, das nicht schwimmen, nicht eines, das sich nicht auf kleinen Waldponys zu tummeln verstände […]! Kochen können sie durch die Bank, die größeren Jungen können nähen, viele können Dachdecken und verrichten allerhand Tischlerarbeit oder sie verstehen sich auf sonst einen Hantierung. […]Allein ich begreife wohl, dass Sie von Büchergelehrsamkeit reden, und die ist doch eine einfache Sache. Die meisten Kinder, welche Bücher umherliegen sehen, bekommen es schon mit vier Jahren fertig zu lesen […]

Dieses und die noch folgenden kursiv gesetzten Zitate stammen aus der von Andreas Fliedner herausgegebenen und bei Golkonda erschienenen Fassung der „Kunde von Nirgendwo“.
Fremdsprachen werden über den zahlreichen Kontakt mit ausländischen Gästen gelernt und bezüglich historischen Wissens heißt es, […]viele forschen nach dem Urspung der Dinge, nach den Gesetzen und der Verkettung von Ursache und Wirkung, – sodass Wissen und Kenntnisse unter uns zunehmen[…]. Andere wiederum […] verbringen ihre Zeit mit Mathematik. Es ist ja doch unnütz, die Neigungen der Menschen zwingen zu wollen.

So friedlich und harmonisch es in dieser Utopie zugeht, so konnte sich William Morris deren Entstehen keinesfalls in einem langsamen, evolutionärem Prozess vorstellen. Wie er ausführlich beschreibt, musste es ein harter, über mehrere Jahre viele Opfer fordernder Bürgerkrieg sein, der andauerte, bis Hoffnung und Lust ihm ein Ziel setzten führte zur Revolution im eigentlichen Sinne. Ohne den totale Zusammenbruch des alten Systems und seiner partiellen Privilegien und scheinbar allgemeinen Vorzüge der kapitalistischen Ordnung sieht Morris demnach aufgrund des Fehlens eines gemeinsamen Zieles Aller keine Chance auf einen Wandel zum idealen Staat. Mit dieser Überzeugung steht er nicht allein, wie neuere Utopien – und leider auch Dystopien, die beispielsweise eine nach einem nuklearen Fallout entstandene Gesellschaftsordnung (oder Unordnung) beschreiben. Immerhin erwacht William Guest am Ende des Romans – zwar etwas traurig, weil sich neben der angenehmen neuen Gesellschaftsordnung gerade eine Liebesgeschichte andeutete – wieder in seiner gewohnten Umgebung, um seinen Zeitgenossen in zukünftigen revolutionären Diskussionen das Bild und die Hoffnung auf einen idealen Zukunftsstaat vermitteln zu können.

Wir dürfen uns heute entscheiden, ob wir Ballemys oder Morris‘ Utopie näher stehen. Beide geben uns – so konträr sie sich gegenseitig verstanden – die Möglichkeit, eigene Variationen einer gerechten, friedlichen und zufriedenen Welt zu entwickeln, die einen wirklichen Fortschritt jenseits unseres neoliberalen Alltags bedeutet, in dem uns Zufriedenheit als Stillstand „verkauft“ wird. Der Ansatz, dass nur Hoffnung und Lust Ziele setzen, ist kein schlechter. Aber funktioniert das wirklich erst nach dem totalen Zusammenbruch?

Um der Antwort auf diese und andere Fragen näher zu kommen, empfehle ich nicht zuletzt aufgrund der dort enthaltenen Zusatzinformationen die im Golkona-Verlag erschienene Ausgabe der „Kunde von Nirgendwo“ von William Morris, die Sie bei jedem lokalen Buchhändler erwerben können.




Irritiertes Winkewinke

von Dirk Jürgensen ...

Verhaltensforschung anlässlich der WM

– Fußballfreie Abende geben dem Geist Raum, sich endlich einmal um andere Dinge zu kümmern und das aktuell uns alle so stark beschäftigende Problem des Runden mit dem Eckigen kurz zu vernachlässigen. Das Menschliche jenseits des Wettkampfes darf und sollte uns an fußballfreien Abenden bewegen.

Anzeigetafeln sollten wieder die wirklich wichtigen Dinge anzeigen.

Foto: ©complize / photocase.de

Erinnern Sie sich beispielsweise an jene schwarzweißen Zeiten, als Anzeigetafeln nur über den derzeitigen Spielstand Auskunft gaben, als Luxusvarianten höchstens noch die Uhrzeit mitteilen konnten? Wer die Mannschaftsaufstellungen erfahren wollte und und keine Mark für die Stadionzeitung opfern mochte, hatte dem Stadionsprecher zuzuhören. Damals konnte man den Torschuss in seiner Wiederholung mit Glück frühestens in der Sportschau am heimischen Fernseher bewundern. Anzeigetafeln sind erst in der Neuzeit zu hochauflösenden Displays geworden.

So komme ich auf ein Phänomen, das vor einigen Jahren aufgetaucht ist und intensiv bei den Übertragungen der laufenden Weltmeisterschaft zu beobachten ist. Eines, das vermuten lässt, dass die Verfahren medialer Technik noch nicht perfekt in die humanen Kommunikationsmuster integriert wurde:

Menschen, die sich auf der Anzeigetafel des Stadions entdecken, winken immer in Richtung ihres Konterfeis und nicht in die Kamera.

Lediglich eine in kurzem Abstand vor die Nase gesetzte Kamera gibt den meist in ihren Landesfarben angestrichenen, teilweise auch liebreizend knapp bekleideten Fans die Chance, ihr Winken in die richtige Richtung zu winken. Doch das bleibt die Ausnahme. In den allermeisten Fällen wird meine Beobachtung bestätigt.

Die Geschichte einer Irritation

Die Evolution hat uns lange vor unserem Entschluss zum aufrechten Gang gelehrt, dass der per Mimik oder Gliedmaßenbewegung geäußerte Gruß ohne Empfangsperson unsinnig ist. Wenn wir einen uns bekannten Menschen erkennen, wenn wir ihm zudem wohlgesonnen sind, oder aus anderen Gründen nicht vor ihm verbergen möchten, winken wir, lächeln oder rufen ihm sogar etwas zu, wenn uns die nonverbale Kommunikation als nicht ausreichend erscheint. So auch in einer WM-Arena, in der das folgende Schema immer wieder abläuft:

  1. Auf der Anzeigetafel erkennen wir eine uns sehr bekannte und hoffentlich auch liebgewonnene Person, der wir unbedingt einen Gruß schicken wollen.

  1. Dass es sich dabei um das Abbild der zerknitterten Gestalt aus dem morgendlichen Badezimmerspiegel handelt und uns unser Verhalten irgendwie auf eine Stufe mit einem in Gefangenschaft gehaltenen Wellensittich stellt, ist dabei nicht schlimm. Denn bevor wir

  2. zu dieser schmerzhaften Erkenntnis gelangen, kann sich unser durch viele Jahre TV-Konsum geschultes Hirn mit der Information durchsetzen, dass das rezipierte Bild in dieser noch laufenden Sekunde ebenfalls auf allen mit TV-Empfängern ausgestatteten Kontinenten und der Raumstation ISS im Orbit wahrgenommen wird. Da es die Oma

  3. ganz sicher freuen wird, winken wir ihr nun umso wilder ins Bild. Eigentlich. Denn tatsächlich grüßen wir, wie oben bereits erwähnt, nur unser eigenes Spiegelbild.

  4. Mit leichtem Entsetzen stellen plötzlich wir fest, dass uns unser Konterfei aus einem zunächst unerfindlichen Grund die kalte Schulter zeigt und wild nach links oder rechts, jedenfalls an völlig Unbekannte sendet. Die unweigerliche Enttäuschung gibt

  5. dem Besinnen auf unser technisches Verständnis und der Logik eine Chance. Die Kamera wird gesucht, oft auch gefunden und setzen erneut und hoffnungsvoll zum Winkewinke in die Kamera an. Was nun folgt, ist eine große Gemeinheit, die totale Ernüchterung.

  6. Die Regie wechselt im Moment, da wir die Kamera ausmachen, im Bruchteil einer Sekunde auf eine andere Kamera im weiten Rund und lässt uns, meist für immer und ewig, von der Mattscheibe verschwinden.

  7. Oma wird uns in der Kürze der Zeit nicht erkannt haben und wir konnten ihr noch nicht einmal ein Lebenszeichen vom Amazonas abgeben. Was bleibt, sollten wir uns einst wieder auf einer Anzeigetafel erkennen, ist die Hoffnung auf eine reaktionsschwache Bildregie.

Fazit

Das Mediengeschäft ist ein hartes. Es kennt keine Sentimantalitäten. Offensichtlich halten die Bildregisseure die Winkerei für ebenso bescheuert wie ich. So kann ich verstehen, warum sie die Menschen der Irritation aussetzen, Hohn und Spott aussetzen. Aber muss das sein? Spüren sie nicht wie ich die Einsamkeit jener Zeitgenossen, die so gerne einen Gruß in die Welt schicken wollten und nicht durften? Anzeigetafeln sollten wieder die wirklich wichtigen Dinge anzeigen.

Bin ich froh, dass morgen wieder Fußball gespielt wird.




Brot und Spiele ohne Brot

von Dirk Jürgensen ...

Friedlicher Nationalismus?

Ich gebe es ja zu: Auch ich habe Spaß an der Fußball-WM.

Nationales Nervensägen - Überall SRGDoch manchmal überfällt mich eine Angst. Immer dann, wenn vor dem Spiel von Mal zu Mal inbrünstiger die Hymne eines Landes gesungen wird, wie es mir beim spielerisch begeisternden Achtelfinalspiel zwischen Brasilien und Uruguay besonders aufgefallen ist. Ja, es herrscht in den Stadien dieser WM ein friedliches Gemisch verschiedenster (oder doch immer wieder gleichartiger?) Nationalismen. Diese WM bietet uns ein klassisches und immer deutlicher werdendes Bild, dass ein Volk mit Spiel und Nationalstolz erfolgreich davon abgehalten kann, nach Brot zu schreien. Brasilien – nur ein Beispiel – ist ein stolzes Land mit stolzen Menschen.

Aber was bedeutet dieser Stolz?

Worauf beruht sich dieser Stolz und was macht ihn zum Opiat? Die Fähigkeiten einiger Fußballspieler können eigentlich nicht ausreichend sein, um ihn zu begründen. Sie sind es aber, wie es scheint. Wo sind all die Proteste gegen die Regierung, gegen die Korruption, gegen die Machenschaften der Fifa, den Bau ungemein teurer Stadien und das gleichzeitige Vertreiben der Ärmsten aus ihren Favelas geblieben? Kann erst ein Ausscheiden der Mannschaft Brasiliens, sagen wir aufgrund eines offensichtlichen Versagens des Heilbringers Neymar, den Betrug aufdecken, das Aufbegehren aufflammen lassen? Was sollen wir hoffen? Menschen, die unter der Einwirkung von Opium stehen sind friedlich, doch wir wissen nicht, wie lange die Wirkung der Droge anhält und ihnen auffällt, dass Nationalstolz auf Dauer kein Brot ersetzen kann.

Der bei der WM gezeigte Nationalismus ist ein friedlicher. Die Fans aus allen Ländern feiern mehr oder weniger gemeinsam in ihren Trikots. Doch immer ist Nationalismus ein Tanz auf der Rasierklinge, kann schnell umschlagen. Ein kleiner Fehltritt aus Angst, Überheblichkeit oder individueller Dummheit ist tödlich und niemand ist in der Lage seine Art und seinen Zeitpunkt vorherzusagen. Das begründet meine Angst, wenn ich die Inbrunst erlebe, in der die nationalen Hymnen vorgetragen werden. Dazu muss ich noch nicht einmal an all das erinnern, was der Nationalismus zwischen Sarajevo 1914 und der Ukraine 2014 angerichtet hat.

Die Fifa lässt Banner der Fans abhängen. Sei es, um teuer bezahlte Werbebanner sichtbar zu halten, sei es aus dem verständlichen Geist heraus, nationale Symbole aus der (vorgeblich?) unpolitischen Veranstaltung herauszuhalten. Sie lässt auch Banner entfernen, die sich gegen Rassismus und politische Unterdrückung richten. Aber sie lässt vor jedem Spiel eine Nationalhymne spielen, die immmer ein politisches Symbol darstellt und oftmals sehr martialisch und die Nation verherrlichend daherkommt. Ich halte das für einen Widerspruch.

Ich träume von einer Fußball-Weltmeisterschaft ohne Nationalhymnen im Russland des Jahres 2018 und weiß, dass Träume gar keinen Sarkasmus kennen.

 

Lesen Sie weiter, wie mich dieses Thema bereits 2006 anlässlich des beginnenden „Sommermärchens“ beschäftigte: Nationales Nervensägen




Die Fußball-WM nach der Vorrunde

von Dirk Jürgensen ...

Gedanken vor dem Achtelfinale der Fußball-WM

– Nach den Protesten im Vorfeld ist nun auch Gruppenphase der WM in Brasilien beendet und wir wissen, welche Favoriten (oder wenigstens Vertreter der klassischen Fußballwelt) sterben mussten. Die Antwortfloskel auf die Frage, wen sich denn die deutsche Mannschaft im Finale wünscht – „egal, nur nicht Italien“ – bleibt ungesprochen. Es wird kein gewonnenes Elfmeterschießen gegen England mehr geben. Die seit Epochen unbesiegbaren Spanier überlegen längst, ob man das Spiel vielleicht mit „kick and rush“ modernisieren könnte und die Mannschaft um den Weltfußballer Christian Ronaldo, darf weiter einer goldenen Generation Portugals nachtrauern, die ebenfalls nichts gewann, aber ungemein gut aussah.

Fußball-WM - Foto: © Dirk Jürgensen - DüsseldorfBrasilien, meistgenannter Favorit, ist ohne große spielerische Begeisterung noch im Rennen. Aber wann haben die zuletzt eigentlich so richtig begeistert und ihre Legende von der landestypischen Spielkunst gefestigt? Pelé, Rivelino und Zico und spielen schon länger nicht mehr und es steht zu befürchten, dass es im Laufe des Turniers einer Mannschaft gelingt, Neymar sicher zu bewachen.

Auch Argentinien hat außer Messi (und in Ansätzen Di Maria) kaum etwas zu bieten, wenngleich das in vielen Fällen schon genug ist, um zu gewinnen.

Der Deutschen Mannschaft ist wieder einmal alles zuzutrauen. Die jugendliche Unbekümmertheit eines Sommermärchens ist zwar dahin, aber man scheint die richtige Mischung aus spielerischer Brillianz, langweiligen Tiki-Taka (gerne auch Tiqui-taca) und Unberechenbarkeit gefunden zu haben, um bei einem Ausscheiden im Achtelfinale und einem Sieg im Finale ein allgemeines „Wir haben es ja gewusst!“ provozieren zu können.

Insgesamt – obgleich die Fifa angesichts ihrer Machenschaften verboten (noch besser: hoch besteuert) und der unnötige Bau von Sportpalästen in Ländern, deren Bevölkerung unter tiefster Armut leidet untersagt gehört – ist diese Fußball-Weltmeisterschaft ein unterhaltsames Ereignis. Doch wie langweilig wäre es gewesen, wenn sich all die gestürzten ständigen Verdächtigen durchgemogelt hätten, wenn sich Costa Rica, das vermeintlich sichere Opfer der Todesgruppe D mit Uruguay, Italien und England nicht so verdient für das Achtelfinale qualifiziert hätte?

Wie nicht nur Costa Rica gezeigt hat, sind die Außenseiter das Salz in der WM-Suppe:

Iran, das einen Sieg gegen Argentinien und vermutlich damit auch gegen verknöcherte Mullahs im eigenen Land verdient gehabt und beinahe errungen hätte.

Griechenland, das 2004 mit einem damals schon sympathisch-veralteten Fußball-Stil Europameister wurde, steht auch diesmal klassisch verwurzelt in Achtelfinale. Die Elfenbeinküste hatte man stärker eingeschätzt, wenngleich die afrikanischen Teams bei Weltmeisterschaften leider fast immer enttäuschen. Aber es gibt ja noch Algerien. Das ist immerhin auch Afrika und hat noch eine Rechnung mit der Deutschen Mannschaft offen, die zu Lasten der Algerier 1982 in Gijon eine Absprache mit den Österreichern traf. Zudem hat die Länderspielbilanz mit dem größten Land Afrikas beinahe italienische Dimensionen. Bisher wurden alle Spiele von der DFB-Elf verloren. Gut, es waren nur

1964 war es ein Freundschaftsspiel, das Algerien 2:1 gewann und bei der eben erwähnten WM 1982 in Spanien gewannen die spielerisch starken Algerier sogar 2:0 und hätten sich für die nächste Runde qualifiziert, wenn es nicht zum „Nichtangriffspakt von Gijon“ gekommen wäre, der immer wieder auch als „Schande von Gijon“ bezeichnet wird.
. Warnung genug und Grund eine Serie zu brechen.

Eine dieser Serien bezieht sich beispielsweise auf das Gesetz der Unfähigkeit europäischer Mannschaften, in Südamerika einen Titel holen zu können. Aufgrund des Ausscheidens der Spanier und der Italiener (weniger der Engländer) ist man schnell geneigt, dieses Gesetz der Serie auch jetzt wieder hinzunehmen. Doch obacht!

Es könnte sein, dass sich im Viertelfinale von den acht möglichen Plätzen sechs europäische Teams breitmachen. Das könnten Frankreich, Deutschland, Niederlande, Griechenland, Schweiz und Belgien sein. Eine Neuauflage des Finales von 1974 Deutschland (damals noch BRD) gegen die Niederlande wäre möglich und könnte die so oft erwähnte Serie ins Archiv verbannen. Alles Spekulation und vermutlich in wenigen Tagen Makulatur.

Zum Schluss möchte ich eine weitere Spekulation wagen und die Frage nach dem Spieler des Turniers beantworten, indem ich all die Ronaldos, Messis und Müllers unbeachtet lasse:

Es ist, wenn sich kein Überraschungskanditat mehr zeigt, Luis Suárez aus Uruguay.

Als Torschützenkönig der obersten englischen Liga wurde er dort mehrfach zum Spieler des Jahres gewählt und schoss ausgerechnet England beinahe im Alleingang auf die Insel zurück.

Dies hätte ihm bereits ein paar Zeilen in den Geschichtsbüchern des Fußballs gesichert. Doch es wäre längst nicht genug für den Titel des Spielers der WM gewesen, denn er ist einer jener „Bekloppten“, die der internationale Fußball unbedingt braucht. Würde man sich noch an Èric Cantona erinnern, wenn er stets die Ruhe selbst geblieben wäre? Sicher nicht.

Obwohl bereits einschlägig

2010 biss Suárez in einem Spiel zwischen Ajax Amsterdam und dem PSV Eindhoven seinen Gegenspieler OtmanBakkal nach einem Wortgefecht in die vordere rechte Schulter. 2013 biss er bei einem Spiel des FC Liverpool den Spieler BranislavIvanović des FC Chelsea
konnte er sich nicht beherrschen und biss seinem italienischen Gegenspieler Giorgio Chiellini ohne offensichtliche spielerische Not in die Schulter. Der Schiedsrichter hatte den kannibalistischen Vorfall zwar nicht bemerkt, aber Suárez konnte nicht damit rechnen, dass heutzutage unzählige Kameras jeden Zentimeter Rasens einfangen und aufzeichnen lassen. Luis Suárez ist ein begnadeter Fußballer, der seine Emotionen und nicht allein einen seltsamen Hang zum Einsatz seiner Schneidezähne nicht in den Griff bekommt. So könnte man ihn bezeichnen. Seine Eskapaden sind stets zu bestrafen, doch wollen wir einmal ehrlich sein: Wäre Fußball noch ein solches Kultprodukt, wenn die Spieler alle einem Philipp Lahm entsprächen?

Schon bei der Fußball-WM 2010 in Südafrika verpasste er das Halbfinale aufgrund einer Spielsperre, die er sich mit einem absichtlichen Handspiel auf der Torlinie im Viertelfinale gegen Ghana redlich verdient hatte. Nun wurde er für vier Monate von allen fußballerischen Aktivitäten suspendiert, muss neun Länderspiele verpassen und 100.000 Schweizer Franken Strafe bezahlen. In der Heimat gilt er nun als ein zu unrecht bestrafter Held, hält die Mannschaft Uruguays für unverdient benachteiligt und auch sein bislang letztes Bissopfer soll die Bestrafung inzwischen für übertrieben halten. Der Ruhm, wenn auch der zweifelhafte, ist ihm sicher.

Wer wird Weltmeister? Wir werden sehen. Jedenfalls nicht Italien.

Würde der Protest erst bei einem Ausscheiden Brasiliens wieder erwachen?

Es bleibt spannend.

2018 steht wieder eine WM ins Haus. Hat sich Putin eigentlich von der Duma schon ermächtigen lassen, den WM-Titel für Russland zu beanspruchen?




Rückblick auf Edward Bellamy

von Dirk Jürgensen ...

Wir brauchen Utopien – Teil 2

– Meine Lese- und Gedankenreise auf der Suche nach noch zu entwickelnden Utopien, die uns Heutigen eine Weiterentwicklung der „idealen“ Gesellschaft eines Thomas Morus glaubhaft und Hoffnung stiftend vorführt, bringt mich in das Boston des Jahres 1887.

Edward Bellamy - Rückblick aus dem Jahre 2000 - bei Golkonda

Edward Bellamy – Rückblick aus dem Jahre 2000 – bei Golkonda

Damals erschien in den USA mit „Looking Backward: 2000-1887“ von Eward Bellamy einer der erfolgreichsten utopischen Romane und damit gleichzeitig einer der ersten

Allein in Deutschland kursierten schnell sechs Übersetzungen gleichzeitig.
. Dieser „Rückblick aus dem Jahre 2000“ ist vor einiger Zeit in einer empfehlenswerten Neuausgabe der Übersetzung von Clara Zetkin im Golkonda-Verlag erschienen.

Der Roman entstand in einer Zeit, in der die Industrialisierung rasante Fortschritte und gemeinsam mit der wachsenden Zahl von Einwanderern Arbeit immer billiger machte. Feudale Strukturen waren längst durch einen ungezügelten Kapitalismus ersetzt, der mit seinen wiederkehrenden Krisen immer und ausgerechnet die Ärmsten leiden ließ. So kamen mit dem Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit vermehrt auch sozialistische Ideen ins Land der vermeintlich unbegrenzten Möglichkeiten.

Angesichts der Arbeitskämpfe mit Streiks und Aussperrungen, die mit dem „Haymarket Riot“ von Chicago ihren tragischen Höhepunkt fanden, sah sich der Journalist und Zeitungsherausgeber Edward Bellamy gezwungen, sich konkret mit den drängenden sozialen Problemen zu befassen. So entwarf er den Gerechtigkeitsgedanken der ersten amerikanischer Einwanderer aufgreifend in Romanform das Bild eines zukünftigen (Welt-)Staates, in dem ökonomische und politische Gleichberechtigung herrschen, eine gerechte Güterverteilung keine Armut mehr kennt. Dies gelang ihm mit „Looking Backward: 2000-1887“ derart überzeugend, dass sich schnell zahlreiche „

Um dem kaum zu vermeidenden Widerspruch zu begegnen: es ging den Beteiligten nicht um unseren heutigen Begriff von Nationalismus, sondern darum, Großunternehmen zu „nationalisieren“, also zu verstaatlichen oder zu sozialisieren.
“ gründeten, die sich später auf seinen Wunsch hin in „Nationalist Clubs“ umbenannten. Auch eine Diskussionsplattform in Form einer Zeitung – „The Nationalist Monthly“ – wurde herausgegeben.

Bellamy hielt die Verwendung der Begriffe „Sozialismus“ und „Kommunismus“ in seiner Heimat für übel beleumdet, somit für kontraproduktiv und nicht verwendbar. (Einen umfangreichen Überblick zur Zeit und zu den Umständen des Erscheinens des „Rückblicks“, auf die Wirkungen des Romans und die Argumente seiner Kritiker von William Morris bis Ernst Bloch gibt das Vorwort des Herausgebers Wolfgang

Der Herausgeber Wolfgang Both (Jahrgang 1950) studierte in Ilmenau Informationstechnik und arbeitete dann über 20 Jahre in der Industrieforschung. Heute ist er Referent in einer Berliner Senatsverwaltung. Gemeinsam mit Hans-Peter Neumann & Klaus Scheffler trug er die Geschichte des DDR-Fandoms Berichte aus der Parallelwelt (1998) zusammen. Als ausgewiesener Kenner sozialistischer Utopien hat er 2008 das Standardwerk Rote Blaupausen vorgelegt. (Quelle: Golkonda-Verlag) – Auf Rote Blaupausen werde ich in späteren Folgen an dieser Stelle sicher einmal ausführlicher eingehen.
der oben angegebenen Ausgabe.)

Julian West, Bellamys Ich-Erzähler, 30 Jahre alt, ein eher gelangweiltes Mitglied der privilegierten Schicht Bostons, lässt sich aufgrund von Schlaflosigkeit von einem „Magnetiseur“ in einen künstlichen Schlaf versetzen, aus dem er zu seiner großen Überraschung nicht am 31. Mai 1887, sondern erst am 10. September 2000 erwacht. Ohne weiter auf die Einzelheiten der Geschichte einzugehen, möchte ich an dieser Stelle verraten, dass Julian West in eine Welt enormen technischen Fortschritts geraten ist. Die Industrie wurde in den Nutzen der Allgemeinheit gestellt, verwendet saubere Technologien, die die rauchenden Schlote der 19. Jahrhunderts überflüssig machen.

Schnell kamen mir beim Lesen Zukunftsentwürfe in den Sinn, die in meiner Jugend nicht selten waren. Mir wurde bewusst, warum mir ausgerechnet Bellamy so nahe ist:

Eine Nutzung des industriellen Fortschritts im Sinne einer gerechten Wohlstandsverteilung des „Rückblicks“ hallte noch in den Siebzigern des 20. Jahrhunderts als Ideal nach. Viele gingen auch damals davon aus, dass aufgrund des zu beobachtenden und stetig größer werdenden Anwachsens der Produktivität aufgrund des vermehrten Computer-Einsatzes, fortschrittlicher Maschinentechnik und

Ein Begriff, der schnell eine negative Wendung erfuhr, weil Ratio (Vernunft) nur Gewinnmaximierung für Shareholder bedeutete und eben nicht den Weg zu mehr Gerechtigkeit bahnte.
der Arbeitsabläufe weniger menschliche Arbeit nötig würde. Ich kann mich noch gut erinnern, wie man sich damals das Arbeitsleben im Jahr 2000 vorgestellte, in dem Frauen und Männer täglich mehr Zeit mit ihren Familien verbringen könnten, Arbeitsplätze auf mehrere Arbeitnehmer verteilt würden (was später unter dem Begriff des Job-Sharings bekannt wurde), die dann mit ungefähr 45 Jahren in den aktiven Ruhestand wechseln könnten. Eine Diskussion um die Erhöhung des Renteneintrittsalters wäre uns damals absurd vorgekommen, da doch schließlich die Automatisierung menschliche Arbeit zu großem Teil überflüssig mache. Die Parallelen zwischen den Vorstellungen unserer jüngeren Vergangenheit zu Bellamys Jahr 2000 sind enorm und der gesellschaftliche Fortschritt wäre hinsichtlich der tatsächlichen technischen Innovation durchaus realisierbar gewesen. Wenn man denn gewollt und die Kraft gehabt hätte, gegen die reine Kapital- und Marktorientierung anzusteuern.

Arbeitnehmer, zu denen Vater gehörte, hatten in den Siebzigern noch das Gefühl, dass es stetig aufwärts ginge. Die Arbeitsbedingungen verbesserten sich an den meisten Industriearbeitsplätzen, Löhne und Gehälter stiegen in für uns unvorstellbar großen Schritten, für das Ersparte gab es gute Zinsen und immer mehr Menschen durften sich einen Urlaub leisten, wie ihn früher nur Wohlhabende kannten. vermutlich fehlte es gerade deswegen an revolutionärem Geist, der einen nächsten Schritt möglich gemacht hätte. Gewissermaßen tappte man in eine utopistische Falle, die den Blick auf mögliche Utopien (besser: Ziele) verdunkelte. Zwischen Ölkrise, Globalisierung und der in jüngerer Vergangenheit dramatisch ausgeweiteten Finanzkrise wurde den Menschen immer wieder begreifbar gemacht, dass der Wohlstandsfortschritt zumindest Pausen einzulegen hatte, man „Lohnzurückhaltung“ üben und längere Arbeitszeiten hinnehmen müsse. Quer durch fast alle Parteien und Presseorgane geht diese Parole im Dienste eines in seiner scheinbaren Unumstößlichkeit ominösen Wachstumsbegriffs, der in die Unendlichkeit strebt. Der heutige, neoliberal dominierte Kapitalismus duldet kein Ziel, kein Utopia, sondern versucht mit großem Erfolg Zufriedenheit zu einem Schimpfwort zu machen, indem sie in unanständiger Weise mit Stillstand gleichgesetzt wird. Einer der Religion des ewigen wirtschaftlichen Wachstums scheut Zufriedenheit wie der Teufel das Weihwasser. Neid hingegen, gepaart mit der Erziehung zum

Dies sind wichtige Grundsätze neoliberalen Lebens: Jeder soll an seine Chance glauben, Solidarität ist ein Hindernis für die Karriere und für die Altersversorgung und eventuelle Krankheit muss mehr „Eigenverantwortung her.
ist der Motor der Wirtschaft.

In Belamys idealem Weltstaat wurde der Zustand der Zufriedenheit erreicht. Kein Marktschachern, kein Neid schürendes Streben Gewinn oder höherem Einkommen stört die allgemeine Friedlichkeit des genossenschaftlichen Gemeinwesens, in dem grundsätzliche Gleichheit in Rechten und Pflichten herrscht. Zwar stößt es etwas unangenehm auf, dass nur verdiente Männer in Führungspositionen des Staates gelangen, Frauen hiervon ausgeschlossen scheinen, doch sollten wir diesen leicht zu behebenden Mangel der Entstehungszeit des Romans schulden. Auch erschreckt die Wortwahl, wenn davon die Rede ist, dass die Menschen (allerdings nur bis zum 45. Lebensjahr und immer unter Berücksichtigung ihrer Neigungen und Fähigkeiten) in den Dienst einer militärisch organisierten Industriearmee gerufen werden. Doch man sollte bedenken, dass klare Organisationsstrukturen früher einzig aus dem militärischen Bereich bekannt waren, weshalb zum Beispiel die heute noch so bezeichnete Logistik militärischen Ursprungs ist. Da die Güterproduktion und -Verteilung dem Gemeinwohl zu dienen hat, keine Über- oder Unterversorgung entstehen soll, ist die Anforderung an die Organisation der Arbeit ebenso anspruchsvoll wie im Geiste der Profitmaximierung. So gibt es ein ausgeklügeltes Ausbildungssystem, das die Fähigkeiten und Neigungen der Einzelnen stets berücksichtigt.

Da Bellamy in seinem idealen Wirtschaftssystem das

Zitat von Seite 112/Kapitel 9: „Das Geld blieb stets gleich viel wert, mochte es durch Diebstahl, Mord oder durch fleißige Arbeit erworben sein, mochte es sich in den Händen eines Schurken oder eines ehrlichen Mannes befinden.“
abgeschafft hat, gilt es nicht mehr als Motivations- und auch nicht als Druckmittel in der Arbeitswelt. Vielmehr kann man sich über seine Leistung und dem Nachweis der Qualifizierung für angenehmere Arbeiten empfehlen. Eine „Bezahlung“ erfolgt in Form einer
Ganz nebenbei gilt Edward Bellamy als Erfinder der Kreditkarte. In seinem Fall ist sie eine Anrechtskarte, die Bezahlung damit entspricht keinem Geldwert, sondern einem Tauschwert. Sie ist also kaum mit der erstmals 1924 von Western Union angebotenen Kreditkarte zu vergleichen.
nicht für geleistete Arbeit, sondern dafür, dass man ein Mensch ist. Die Nähe zum derzeit immer wieder geforderten bedingungslosen Grundeinkommen ist unverkennbar.

Werbung ist aufgrund fehlenden Konkurrenzdenkens überflüssig geworden. Die Warenproduktion erfolgt aufgrund intensiver statistischer Erhebungen streng nachfrageorientiert. Bellamy verurteilt die in seinen Augen kapitalismustypische Produktion überflüssiger Güter zur Gewinnmaximierung, die nur mittels Werbung, also durch künstlich erweckten Bedarf an die Kunden gebracht werden können, damit überflüssig Arbeitskraft bindet und Unredlichkeit fördert. Eingekauft wird in von allen Bürgern schnell erreichbaren, sehr gut sortierten und luxuriös ausgestatteten Warenhäusern, die Muster aller verfügbaren Güter bereit halten. Bestellungen werden von dort via Rohrpost an ein Zentrallager gesandt. So können auch abseits der Metropolen alle möglichen Produkte angeboten werden. Kaum auszudenken, wie gut Bellamy unser Internet gefallen hätte! Es dürfte sich nicht nur in diesem Punkt lohnen, den „Rückblick“ Bellamys mit unseren Erfahrungen anzureichern und anzupassen, eine Fortsetzung zu finden.

Aufgrund all der eingesparten Arbeitszeit und des Wohlstands sind kulturelle Genüsse ein wichtiger Aspekt in Bellamys Utopie. So befindet sich in jedem Haus ein Musikzimmer, in das mittels

Als Ballamys seinen Roman verfasste, war die Telefonie eine ganz junge Technik und hatte noch keine Verbreitung gefunden. Mehr unter Wikipedia
zu jeder Tageszeit Livekonzerte in hervorragender Tonqualität übertragen werden. Music on Demand würden wir es heute wohl nennen.Mit weiteren technischen Errungenschaften des 20, Jahrhunderts geht Bellamy recht sparsam um. Im liegt es mehr an der Ausgestaltung der neuen Gesellschaftsordnung und nicht an Science Fiction.

So zeigt sich der Geist seiner Utopie besonders auch in den Bereichen Bildung und Erziehung, wo es als Devise gilt, dass die mit weniger natürlichen Gaben Versehenen eine intensivere Förderung benötigen als die Begabten, da Intelligente nach Ansicht Bellamys von sich aus nach Bildung streben. Im Staat des Jahres 2000 ist allgemeine Bildung ein Ziel, das im Interesse Aller liegt. Wer mag ihm da widersprechen?

Leider gibt uns Bellamy nur vage Hinweise auf eine größtenteils friedliche, evolutionäre Entwicklung, die diese neue Gesellschaftsform entstehen ließ. Da uns mit einem Utopia ein zu erreichendes Idealziel geboten wird, halte ich es für legitim, wenn der Autor den Weg von uns Lesern definieren lässt, wenn sie mit seinem Ideal einverstanden sind.

Vorher sei die Lektüre von Edward Bellamys „Rückblick aus dem Jahre 2000“ unbedingt angeraten.