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Libertalia – Von Piraten lernen

Wir brauchen Utopien – Teil 6

von Dirk Jürgensen ...

Vermischen wir das Bild gesetzloser Halunken mit etwas Seefahrerromantik und wildem Abenteuer, stellen wir der brutalen Truppe einen herzlosen, von Grund auf bösen oder einen unfreiwillig in Ungnade des Königs geratenen Kapitän voran, ist unsere tradierte Vorstellung von Piraten zwischen Captain Blood, Captain Flint, dem Roten Korsar und Jack Sparrow vollständig. Wir übersehen dabei, dass das Piratentum durchaus auch eine bis in die heutige Zeit wirkende politisch-philosophische Komponente besitzt, die in der sich entwickelnden Globalisierung des 17. und 18. Jahrhunderts zu begründen ist und uns heute alternative Ideen zum aktuellen Demokratieverständnis im so dominanten Kapitalismus aufzeigen kann. Ein im Januar 2015 erschienenes Buch bietet uns eine wichtige Ergänzung zu unserem bisherigen Piratenbild:

Libertalia - Die utopische Piratenrepublik - bei Matthes & Seitz

Libertalia – Die utopische Piratenrepublik – Link zu Amazon

Es handelt von der Geschichte des auf Madagaskar gegründeten Seeräuberstaates „Libertalia“, es beschreibt die Legende von einer wohl tatsächlich gelebten Utopie, die früh Vorbild für Basisdemokratie, einen freiheitlichen – also libertären – Kommunismus werden sollte und einige Parallelen mit den spanischen Anarchisten der Dreißigerjahre des letzten Jahrhunderts aufweist. Sie dürfte lange vor der französischen Revolution und der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung eine enorme Brisanz besessen haben, da in einem Gemisch aus Tatsachenberichten, journalistischem Material, Fiktion und politischer Idee sogar Vorgriffe auf die Aufklärung gewagt wurden und der Text die Bewunderung der vorgetragenen Ideen mit einigen eher alibihaft  daherkommenden Bemerkungen zu überspielen versucht.

1728 erschien unter dem Namen Charles Johnson der bis heute meist Daniel Defoe zugeschriebene zweite Band der „Allgemeinen Geschichte der Piraten“, der ein Bericht über die Piratenrepublik und ihre Gründer enthalten ist. Dass die Urheberschaft weiterhin umstritten ist, dazu ein niederländischer Buchdrucker und eine anonyme Autorschaft ins Spiel gekommen ist, soll hier nur am Rande erwähnt werden. Viel interessanter ist, dass der Text fast dreihundert Jahre warten musste, um endlich unter der Herausgabe von Helge Meves von David Meienreis erstmalig in die deutsche Sprache übersetzt zu erscheinen. Dass man sich beim Berliner Verlag Matthes & Seitz für Daniel Defoe als auf dem Cover zu vermerkenden Verfasser entschieden hat, sei der Einfachheit oder auch der besseren Vermarktung geschuldet. Dass man den schmucken Band um eine von Arne Braun übersetzte „Beschreibung der Regierung, Gewohnheiten und Lebensart der Seeräuber auf Madagaskar“ von Jacob de Bucqouy und um eine Vielzahl ergänzender Beiträge vervollständigte, macht ihn umso wertvoller.

„Libertalia“ erzählt vom aus wohlhabenen Hause stammenden Misson, der eher zufällig an die Führung eines Schiffs gerät und seinem Freund, dem von der geld- und karrieresüchtigen Kirche enttäuschten ehemaligen Priester Caraccioli, der ihm die theoretischen Grundlagen für seinen revolutionären Führungsstil schafft und die Mannschaft in aufklärerischem Geist religionskritisch und antimonarchistisch belehrt.

Caracciolis Rat folgend lässt sich Misson von der Mannschaft zum Kapitän wählen und ebenso demokratisch über den weiteren Kurs abstimmen. Bei der Diskussion um die zu hissende Flagge schlägt der Bootsmann eine schwarze vor, doch Caraccioli entgegnet:

Sie seien keine Piraten, sondern Männer, entschlossen, die Freiheit zu behaupten, die Gott und die Natur ihnen geschenkt hätten; sie würden sich keinen anderen Regeln unterwerfen als denen, die für das Wohlergehen aller nötig seien.

Weiterhin führt er aus, dass Gehorsam gegenüber Vorgesetzten notwendig sei,

wenn diese die Pflichten ihres Amtes kennten und danach handelten; wenn diese beflissene Wächter der Rechte und Freiheiten der Menschen seien; wenn sie dafür sorgten, dass Gerechtigkeit walte; wenn sie sich gegen die Reichen und Mächtigen stemmten, sobald diese versuchten, die Schwächeren zu unterdrücken.

Nach weiteren Ausführungen kommt er zum Schluss, dass ihre Sache

mutig, gerecht, unschuldig und ehrenhaft und die Sache der Freiheit sei und plädiert für eine weiße Flagge mit der Göttin der Freiheit, Libertas, darauf […]

Das auf dem Schiff vorhandene Geld wird in einer Schatztruhe verwahrt und von Misson zum Gemeineigentum erklärt. Er mahnt, dass

wenn die Gleichheit untergehe, folgten Elend, Verwirrung und gegenseitiges Misstrauen wie die Ebbe der Flut.

Auch ruft er auf,

Gefangenen eine humane zu großzügige Behandlung zuteilwerden zu lassen,

obwohl ihnen selbst vermutlich nicht so ergehen würde.

Auf nun folgenden Kreuzfahrten wird reichlich Beute gemacht und zahlreiche Sklaven können befreit werden, die sich in einem recht modernen Sinne meist in die eigene Schiffsbesatzung integrieren lassen, denn sie werden eingekleidet und auf die Messen der Mannschaft aufgeteilt, um unter anderem schneller die Sprache zu erlernen und sie zu überzeugten Verteidigern der Freiheit zu machen. Hier zeigt sich der wirklich zeitgemäße humanistischer Aspekt der Geschichte, der uns in Zeiten einer bis zum Hass zunehmenden Angst vor einer gesellschaftlichen Überfremdung zu denken geben müsste, schließlich ist die lebensnotwendige Interaktion auf einem Schiff der damaligen Zeit ein gutes Laborumfeld zur Erprobung des Funktionierens einer Gesellschaft.

Nach einigen weiteren Abenteuern wird irgendwo auf Madagaskar die freie Kolonie Libertalia – die Bewohner bezeichnen sich als Liberti – gegründet und der recht bekannte Piratenkapitän Thomas Tew schließt sich an. Tew erhält den Auftrag zur Eroberung von Sklavenschiffen, um durch deren Befreiung die Kolonie auszubauen, was überaus erfolgreich gelingt. Erbeutetes Geld wird

dem kollektiven Schatz zugeführt,

da in einer Gesellschaft ohne Eigentumsschranken

Geld keinen Nutzen

hat.

Nachdem es in der Kolonie zu Streitigkeiten zwischen Missons und Tews Mannschaften gekommen ist, fordert Caraccioli die friedliche Beilegung und regt für zukünftige Fälle der Allgemeinheit dienende Gesetze und eine Regierung an. So wird eine demokratische Staatsform beschlossen, in der ein für drei Jahre gewählter Conservator als höchste Gewalt eingesetzt wird. Danach wird innerhalb von zehn Tagen die Verteilung eines gerechten Anteils von Privateigentum, wie auch ein allgemeines Gesetzbuch beschlossen, gedruckt und verteilt.

Leider endet kurz nach der Konstitution Libertalias aufgrund einiger dramatischer Schicksalsschläge und eines Angriffs auf die Kolonie – keinesfalls aufgrund interner gesellschaftlicher Probleme – die Utopie der ersten libertären Republik. Doch hält uns das hier besprochene Buch noch einige sehr aufschlussreiche Piratensatzungen bereit, die durchaus nachweisen können, dass die auf Gerechtigkeit basierenden Ideen der Liberti höchstwahrscheinlich unbewusst in ähnlicher Form auch von ganz anderen Piraten geteilt wurden. Neben allgemeinen Verhaltensregeln werden in diesen Satzungen die Verteilungsschlüssel für den Umgang mit erbeuteten Gütern und sogar die soziale Absicherung bei Verwundung festgelegt.

Nicht nur einmal erwähnt darf die „nähere Beschreibung der Regierung, Gewohnheiten und Lebensart der Seeräuberdes Niederländers Jacob de Bucquoy bleiben, der aufgrund seiner Gefangenschaft in der Hand von Piraten interessante Hinweise auf die erstaunlich unabhängige und vernunftorientierte piratische Gerichtsbarkeit und eine Art Muster-Piratensatzung vorlegt. Danach – vermutlich angesichts der multikulturellen Zusammensetzung der Mannschaften – ist es unter Androhung von Strafe beispielsweise untersagt, über die Religion zu streiten. Ein Ansatz, der uns heute sehr gut gefallen sollte.

„Libertalia – Die utopische Piratenrepublik“ ist ein überraschend aktuelles Werk, das zwar sehr spät, aber irgendwie genau zur richtigen Zeit in deutscher Sprache erschienen ist. An Tagen, an denen Pegida und deren Derivate jenseits von Dresden einen bedenklichen Konservativismus mit dem Vehikel einer hervorgelockten latenten Fremdenangst propagieren und wirkliche Ideen eines gesellschaftlichen Fortschritts in Form von größerer Gerechtigkeit als „Gutmenschentum“ abtun. Wer hätte je gedacht, dass man Piraten in dieser seltsamen Wortverdrehung als „Gutmenschen“ bezeichnen könnte?

Die Idee eines libertären Kommunismus, der nichts mit dem bekannten totalitären Kommunismus gemein hat, die Hinweise darauf, dass multikulturelle Gesellschaften doch funktionieren, sogar von ihrer Vielfalt profitieren, das Integration auch bedeutet, den zu Integrierenden an den eigenen Tisch einzuladen, dass unsere auf Zins aufgebaute Geldwirtschaft und die ungerechte Verteilung von Reichtum auf Kosten einer armen Mehrheit mehr als einer Reform bedürfen, findet in dieser früh gelebten Utopie von Libertalia Unterstützung und ist ein wichtiger Kontrapunkt in einer aktuell so abgelenkten Diskussion. Ja, wir können von 300 Jahre alten Piraten lernen, wie wichtig Utopien sind.

Ganz nebenbei, dieser wichtige recht unpolitische Punkt sei nicht vergessen, sollte der mit schöner Goldprägung ausgestatte „Libertalia“-Band samt seines reichen Schatzes an ergänzender Information in keinem Bücherregal mit einer abenteuerlich ausgerichteten Sammlung von Piratengeschichten fehlen.


Daniel Defoe: Libertalia – Die utopische Piratenrepublik

Im Verlag Matthes & Seitz, Berlin

Herausgegeben von Helge Meves, übersetzt von David Meienreis und Arne Braun

ISBN 978-3957570000 – 22,90 € (D) – Fragen Sie Ihren lokalen Buchhändler!


Surfziele zum Thema:

Ein Interview von Tobias Lehmkuhl mit Helge Meves beim SWR2 am 5.1.2015

Wikipedia zum „Goldenen Zeitalter der Piraterie“

Informationen zu Thomas Tew




Düsseldorf traut sich was

von Dirk Jürgensen ...

Bilder vom Rosenmontagszug 2015

Rosenmontagszug Düsseldorf 2015 - © Dirk Jürgensen - Düsseldorf

All den Xxgidas wird klar gesagt, worin der tatsächliche Untergang des Abendlands liegt. – © Dirk Jürgensen – Düsseldorf

Rosenmontagszug 2015 - Düsseldorf ist Charlie! - © Dirk Jürgensen - Düsseldorf

Düsseldorf ist Charlie! Denn Satire ist ein wesentlicher Bestandteil des Karnevals und Angst kein guter Ratgeber. – © Dirk Jürgensen – Düsseldorf

Das unsägliche Freihandelsabkommen TTIP. Dieser Wagen zeigt die Gefahren, über die viel zu wenig gesprochen wird. - © Dirk Jürgensen - Düsseldorf

Das unsägliche Freihandelsabkommen TTIP. Dieser Wagen zeigt die Gefahren, über die viel zu wenig gesprochen wird. – © Dirk Jürgensen – Düsseldorf

Ob es Griechenland schafft, sich gegen den Zyklop Merkel durchsetzen kann? - © Dirk Jürgensen - Düsseldorf

Ob es Griechenland schafft, sich gegen den Zyklop Merkel durchsetzen kann? – © Dirk Jürgensen – Düsseldorf

Der Terrormarkt ist ein hart umkämpfter. Selbst als Tod kommt man ins Schwitzen. © Dirk Jürgensen - Düsseldorf

Der Terrormarkt ist ein hart umkämpfter. Selbst als Tod kommt man ins Schwitzen. © Dirk Jürgensen – Düsseldorf

Die Friedensmerkel stellt sich dem Ukraine-Krieg entgegen. Nicht, dass es ihren Schmabel stutzt. © Dirk Jürgensen - Düsseldorf

Die Friedensmerkel stellt sich dem Ukraine-Krieg entgegen. Nicht, dass es ihren Schnabel stutzt. © Dirk Jürgensen – Düsseldorf

Terror hat nichts mit Religion zu tun. Sie - egal, welche - wird nur gerne vom Terror instrumentalisiert, könnte man hinzufügen. © Dirk Jürgensen - Düsseldorf

Terror hat nichts mit Religion zu tun. Sie – egal, welche – wird nur gerne vom Terror instrumentalisiert, könnte man hinzufügen. © Dirk Jürgensen – Düsseldorf

Und wer es noch immer nicht verstanden hat, den verprügelt der Papst - mit würdevollen Schlägen. © Dirk Jürgensen - Düsseldorf

Und wer es noch immer nicht verstanden hat, den verprügelt der so christliche Papst – mit seinen würdevollen Schlägen. © Dirk Jürgensen – Düsseldorf

– Wie schon so oft treffen die mutigen von Jaques Tilly gestalteten Wagen des Düsseldorfer Rosenmontagszugs auch 2015 wieder den richtigen Nerv. Es gibt so viele Dinge, gegen die man auf die Straße gehen kann. Fremdenfeindlichkeit gehört nicht dazu. Verstehen wir den Rosenmontagszug, den sich vermutlich wieder um die 1 Million Menschen auf den Straßen Düsseldorfs anschauten, als größte Demonstration, die all die Dügida-, Pegida-, Kögida- und Legida-Originale und deren Derivate in die Bedeutungslosigkeit drängt!




Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden!

von Dirk Jürgensen ...

Je suis Charlie

Wir sollten uns gerade anlässlich des schlimmen Mordanschlags gegen die Pressefreiheit und gegen den Humanismus einmal kurz daran erinnern, dass die meisten Opfer islamistischer Gewalt selber Moslems sind. Ist das nicht ein Grund, sich an die Seite der Opfer zu stellen, gleichgültig, welcher Religion man sich zugehörig fühlt oder ob man Atheist ist?

Ich habe keine Angst vor dem Islam, wie ich auch keine Angst vor dem Christentum habe. Ich habe Angst vor durchgeknallten Gewalttätern und Verbrechern, die mir aus Missverständnis oder einer bestimmten Auslegung altertümlicher oder mittelalterlicher Schriften oder politischer Theorien heraus nach dem Leben trachten. Da gibt es zwischen Brevik, NSU und IS auf unserem kleinen Planeten verdammt viele Zeitgenossen, die mir Angst bereiten.
Und ich habe – mehr noch, als vor den Initiatoren – Angst vor den tumben Mitläufern der Pegida, Dügida, Vokuhila oder Köhida, die sich in den Dienst einer Ideologie begeben, die unser Land schon einmal nach Strich und Faden ruiniert hat.

Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden!

Charlie Hebdo - Le Pen

Quelle: https://charliehebdo.files.wordpress.com/2012/01/affiche-lepen.jpg

Das Einhalten dieses Grundsatzes kann sehr anstrengend sein, bedeutet manchmal persönliches Beleidigtsein, Ärger, Streit und auch juristische Auseinandersetzung – aber es ist all das wert. Das sollten auch die Pegida-Anhänger aus dieser ominösen Mitte der Gesellschaft wissen, schließlich lesen sie doch ganz bestimmt mehr als nur die Bildzeitung, jenem Fanal des Widerstands gegen die allgegenwärtige Lügenpresse? Dass einige Bekloppte und Fanatiker jedweder Couleur mit der eigenen Freiheit oder der des Nachbarn nichts anfangen können, sollte uns klar sein, aber gegen die hilft keine Pauschalverurteilung.
In den meisten Kriegen kämpfen Arschlöcher gegen Arschlöcher. Arschlöcher hat es immer gegeben und wird es immer geben. In jeder Religion, in jeder Partei, in jeder Stadt und in jedem Land, vielleicht sogar in jeder Familie. Das ist kein Grund dafür, diejenigen, die keine Arschlöcher sind, mit ihnen in einen Topf zu werfen! Vielmehr sollten wir die Arschlöcher der Lächerlich preisgeben. Dafür müssen wir Satire immer aushalten können, auch wenn sie uns persönlich nicht gefällt.

PS: Frau Le Pen fordert inzwischen die Einführung der Todesstrafe für islamistische Terroristen. Tja, die Frau weiß eben, wie man religiös verblendete Mörder belohnen kann, indem man sie zu Märtyren macht. Sogar so unterstützen Rechtsradikale den Islamismus. Die sind also gar nicht so weit voneinander entfernt und sicher fühlt sich der eine oder andere Pegida-Aktivist oder AfD-Parteigänger schon wie in einer deutschen Front National. Schlimm.




Der große Pan ist tot!

von Dirk Jürgensen ...

Düsseldorf zwischen Machiavelli, Pan, Joachim Erwin, Dirk Elbers und Thomas Geisel

 – Der Tod des Düsseldorfer Oberbürgermeisters Joachim Erwin (CDU), den ich in meinem Artikel für das Online-Magazin Einseitig.info vom 27. Oktober 2007 trotz seiner damals bereits bekannten Erkrankung nicht vorhersehen konnte, macht seinen Titel „Der große Pan ist tot!“, besonders in Verbindung mit dem damals geführten Untertitel „Düsseldorf zwischen Machiavelli, Pan und Joachim Erwin“ heute missverständlich. Er bedarf einer Erklärung, wenngleich im Zusammenhang des Textes deutlich werden dürfte, dass ich OB Erwin keinesfalls als einen Pan, vielmehr als dessen Gegenspieler verstand und verstehe. Um diesem Missverständnis vorzubeugen, habe ich den Untertitel nun durch die Namen der ihm folgenden Stadtoberhäupter ergänzt, wenngleich sie im Text zu kurz kommen. Ihnen seien noch zu verfassende Betrachtung ihrer Amtszeiten gegönnt.

Gänse als Vorboten Pans am Köbogen - Foto: © Jürgensen - Düsseldorf

Gänse als Vorboten Pans am Köbogen – Foto: © Jürgensen – Düsseldorf

Am 20. Mai 2008 starb Joachim Erwin nach schwerer Krankheit. Bei aller und in meinen Augen berechtigter Kritik an seiner Interpretation politischer Tätigkeit starb er viel zu früh. Zu früh für einen Menschen, für seine Angehörigen, Freunde, für alle, die sich mit ihm verbunden fühlten, keine Frage. Er starb aber auch zu früh, um eine seriöse Aufarbeitung der Ergebnisse seiner Bürgermeisterschaft in der erforderlichen Härte durchführen zu können. Die in Kapitel I zu lesende Geschichte seiner Karriere, ist aus der Sichtweise eines (nicht seines) Wählers verfasst, zutiefst subjektiv. Natürlich werden Erwins Parteifreunde ein ganz anderen Blickwinkel einnehmen. Beobachtet man zudem die Foren und Leserbeiträge der örtlichen Presse aus den letzten Jahren, hat sich eine gewisse Verklärung breitgemacht. Seine während der Amtszeit oft angeprangerte Gutsherrenart wurde durch Charisma ersetzt, was kaum argumentativ zu korrigieren ist und natürlich auch damit zu tun hat, dass sein Nachfolger, der inzwischen abgewählte Dirk Elbers (CDU) Erwins Politik eher ungeschickt, wenngleich ebenso auf bloße Zufriedenstellung von Investoren fortführte.

Mit der diesjährigen Abwahl Dirk Elbers‘ und der Wahl von Thomas Geisel (SPD) regen sich leise Hoffnungen, dass sich der im Rathaus vorherrschende Politik- und Führungsstil und das mutigere Beachten von Bürgerinteressen endlich ändern könnte. Eine Hoffnung, die ich im Kapitel IV des Textes bereits hatte, jedoch aufgrund der unsere Demokratie so belastenden Lethargie der Wählerschaft, längst begraben musste. Das am Ende angesprochene Bürgerbegehren, für das die Initiatoren tatsächlich genug Unterschriften sammeln konnte, fand statt, war jedoch aufgrund mangelnder Beteiligung nicht von Erfolg gekrönt.

Die erhoffte Wiedergeburt Pans musste also auf einen unbestimmten Zeitpunkt verschoben werden. Angesichts der traurigen und teilweise auch wütenden Reaktionen vieler Düsseldorfer, wenn sie an den nun unter üblichen Umständen wohl nicht mehr zu verhindernden Abriss des ehemaligen Derendorfer Güterbahnhofgebäudes denken, hat sich daran auch heute noch nichts geändert. Dieses firmierte lange Jahre unter dem Namen „Les Halles“, beherbergte ein beliebtes, innen einem verwunschenen Schloss gleichendes Restaurant, das sich abends in eine Diskothek verwandelte und draußen einen lauschigen Biergaten bot (und bis zum Jahresende bietet). Es stand einst unter Denkmalschutz und diente den Immobilienvermarktern als Lockvogel für solvente Wohnungssuchende. So entstanden um das „Les Halles“ herum neue Luxus-Wohnblöcke, allesamt mit ebenfalls französisch klingenden

Von „Le Flair“ über „Pandion d’Or“ und „Pandion Le Grand“ bis hin zu „Ciel et Terre“ reichen die mehr oder weniger schicken Bezeichnungen für die recht biederen, aber noblen Wohnsilos. Es sei darauf hinzuweisen, dass „Pandion“ nur phonetisch mit Pan verwandt ist. Ob die zwei attischen Könige gleichen Namens dafür Pate gestanden haben, darf vermutet werden. Man kann sich eine entsprechende Recherche allerdings sparen. Vermutlich geht es nur um den hübschen und bedeutungsschwangeren Klang des Wortes, der der Leitung einer Immobilienfirma aus Köln dazu gebracht hat, ihn als Firma zu führen.
. Die Bewohner werden bald nicht mehr wissen, warum das so ist. Obwohl. Was noch nicht abgerissen ist, kann noch erhalten werden. Man muss den Investoren nur den Appetit verderben, dann kann jeder Vertrag rückgängig gemacht werden. Gesichtsverlust ist kein gültiges Kriterium.

Mein Artikel aus dem Jahr 2007 hat also seine Aktualität bewahrt:

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(Düsseldorf Arcaden from Magnus Jürgensen on Vimeo.)




Tourist aus der Zukunft

von Dirk Jürgensen ...

Anmerkungen zum Kurzfilmexperiment Tourist aus der Zukunft  von Magnus Jürgensen und Johannes Menzel

– Ein Zeitreisender erlebt unsere Gegenwart oder das, was wir gemeinhin dafür halten.

Tourist aus der Zukunft - Kurzfilm von Magnus Jürgensen und Johannes MenzelZukunft darf geplant, kalkuliert, gewünscht oder befürchtet, erträumt und in stimmungsvollen Farben ausgemalt, Unwägbarkeiten ausgelassen werden.

Vergangenheit wurde von uns oder anderen Menschen erfahren, erlebt, erzählt, nachgelesen, betrachtet, dabei gerne verherrlicht oder von Schicksalsschägen und Fehlentscheidungen dominiert.

Bilder von Zukunft und Vergangenheit verlieren mit größerem Abstand an schärfe, verschimmen zum Teil bis zur Unkenntlichkeit, doch sie bleiben in unserer individuellen Wahrheit immer vorstellbar.

Wie verhält es sich mit der erst auf dem zweiten Blick seltsamen Gegenwart, jenem flüchtigsten aller Zustände von Zeit? Kann es so etwas wie Gegenwart überhaupt geben, wenn sie im Augenblick der Wahrnehmung bereits zur Vergangenheit geworden ist? Die Reaktion auf ein vor uns bremsendes Fahrzeug bezieht sich auf ein Ereignis aus der Vergangenheit und richtet sich auf die Zukunft einer hoffentlich noch zu vermeidenden Kollision. Irgendwo dazwischen war Gegenwart. Nur wo?

Der Tourist aus der Zukunft beobachtet die Zeit, nimmt sie und ihre Anzeichen wahr. Er schießt mit einer Kamera, die selbst das Souvenir einer Reise in eine noch weitere Vergangenheit ist, Erinnerungsfotos aus seiner mit dem Klick vergangenen Gegenwart. Mutmaßungen über die Zufälligkeit seiner Aufenthaltsorte, all die Windungen, Haken, Sprünge und Lücken im Ablauf seiner Reise, lassen an der Qualität des verwendeten Reiseführers zweifeln. Das ist nicht verwunderlich, denn selbst der beste Reiseführer vermag nicht verlässlich in die Zukunft zu schauen. So taumeln wir ohne Anleitung mit all den anderen Touristen zwischen Vergangenheit und Zukunft hin und her.

Der experimentelle Kurzfilm ist unter mjuer.de im Netz anzusehen.




Rote Blaupausen. Ein Wegweiser zu alten und neuen Utopien

von Dirk Jürgensen ...

Wir brauchen Utopien – Teil 4

Wolfgang Both - Rote Blaupausen. Eine kurze Geschichte der sozialistischen Utopien

Wolfgang Both – Rote Blaupausen

– Spätestens seit dem durchaus verdienten Zusammenbruch der sozialistischen Systeme und der darauf folgenden konkurrenzlosen Allmacht kapitalistisch geprägter Gesellschaften scheinen Sozialutopien keinen Platz mehr in unserer Vorstellungswelt zu haben. Das ist verständlich, denn der Kapitalismus lebt von der Hoffnung auf Besserung, auf ein grenzenloses Wachstum ohne Ziel. Das Erreichen eines Ziels, ein Idealzustand passt nicht in dieses Denken, denn nach dem Zieleinlauf, nach dem Eintreten von Zufriedenheit, würde Stillstand eintreten. Das wäre fatal für den Kapitalismus und ist aber eine vielleicht etwas zu kurz formulierte, nach meinem Verständnis jedoch zutreffende Erklärung dafür, warum es Utopien derzeit so schwer haben.

Die Ideen der frühen Sozialisten und Kommunisten werden sogar von innigsten Vertretern des Kapitalismus mit einem Lächeln als gut gemeint, als Idealistisch anerkannt, jedoch für undurchführbar gehalten. Utopien eben, die mit Hirngespinsten, unerreichbaren Wunschvorstellungen seltsamer

Ein Begriff, den ich aufgrund seiner meistens von konservativen bis sehr rechtsgerichteten Kritikern in seiner negativen Belegung ablehne. Was will man denn sein, wenn es kein „Gutmensch“ sein darf, ein „Schlechtmensch“?
gleichgesetzt werden, die das nicht auszutreibende Machtstreben und die Raffgier des bewiesenermaßen unverbesserlichen Menschen leugnen. Diese immer wieder durchscheinenden miesen Eigenschaften des Menschen, so ist es einhellig zu hören, treiben die Wirtschaft an, sind Motor des Fortschritts und haben letzthin auch die auf Gerechtigkeit und Gemeineigentum fußenden Ideen der Sozialisten verraten.

Ich vermute, dass die von vielen Sozialisten seit Marx und Engels ausgesprochene Ablehnung der Utopie einen Teil zum Scheitern ihres Projekts beigetragen hat. Dieses „Bilderverbot“ hat den Menschen ihr Ziel, ihre Vorstellung einer besseren Zukunft genommen und dem Abweichen vom Weg dorthin nicht entgegensetzen können. Der Mensch braucht Bilder, wenn diese auch wissenschaftlichen Methoden nicht standhalten können. Wer sagt denn, dass sie es müssen?

Einen aufschlussreichen Beitrag (nicht nur) zur Beantwortung dieser Frage leistet Wolfgang Both in seinem Buch „Rote Blaupausen – Eine kurze Geschichte der sozialistischen Utopien“. Neben Edward Bellamy und Mack Reynolds werden darin zahlreiche bekannte und unbekannte Schriftsteller aus verschiedenen Ländern vorgestellt, die es wert sind, wieder einmal aufgelegt, gelesen und besprochen zu werden. Auch macht „Rote Blaupausen“ Appetit auf eine Fortführung utopischer Entwürfe der Vergangenheit, denn Both schreibt:

„Die Anzahl der Weltentwürfe mag geringer geworden sein. Aber die Auseinandersetzung über die Gestaltung einer freien und gleichen Gesellschaft, über die gerechte Verteilung von Gütern und den Reichtum der Welt geht in vielen Kreisen weiter. Die wachsende Komplexität unserer Welt und unser Bewusstsein davon erfordern noch gewagtere Entwürfe als die hier besprochenen. “ (Rote Blaupausen S. 206)

Ja, wir brauchen Utopien.

Ein empfehlenswerter Wegweiser zu alten und neuen Utopien, wenngleich leider recht kostspielig:

Wolfgang Both

Rote Blaupausen. Eine kurze Geschichte der sozialistischen Utopien

Utopisch-Phantastische Bibliothek, Sonderband

Auf 222 Exemplare limitierte und nummerierte Ausgabe

Leinen mit Schutzumschlag | 238 Seiten | Euro 49,00

ISBN 978-3-926126-83-2

Bei Ihrem örtlichen Buchhändler zu bestellen!




Hoffnung und Lust setzen Ziele

von Dirk Jürgensen ...

Wir brauchen Utopien – Teil 3

William Morris und seine „Kunde von Nirgendwo“

William

William Morris, * 24. März 1834 in Walthamstow; † 3. Oktober 1896 in London
Morris war ein Multitalent, ein Maler, Herausgeber, Architekt, Dichter, Drucker, nach heutiger Begrifflichkeit Designer und gilt als einer der ersten Vertreter der britischen sozialistischen Bewegung.

William Morris - Kunde von Nirgendwo - Golkonda-Verlag

William Morris – Kunde von Nirgendwo – Golkonda-Verlag

Als Mitgründer des Arts and Crafts Movement empfand Morris die Produkte der Massenproduktion der damals aufstrebenden Industrie als

Bezüglich des Arbeitsprozesses selbst zeigt sich dieses Seelenlose im Sinne eines Karl Marx in der Entfremdung.
und forderte eine
Ein Ansatz, den wir auch und grade heute angesichts von Billigimporten aus Fernost und rücksichtsloser Massentierhaltung gut nachvollziehen können. Leider kann sich der aktuell zu beobachtende Trend, mehr auf die Qualität der Produkte und auf faire, ökologisch unbedenkliche Fertigung zu achten, nur bei jenen Verbrauchern durchsetzen, die es sich finanziell leisten können – und wollen. Im Textilbereich dominieren Ketten wie Primark oder H&M, die die Argumente Morris‘ leider noch immer bestätigen.
auf die höhere Qualität handwerklicher Arbeiten. Genau diesen Ansatz verfolgte er in seinem als Gegenentwurf zu Edward Bellamys „Rückblick aus dem Jahre 2000“ verstandenen Utopie „Kunde von Nirgendwo“, die 1890 veröffentlicht wurde.

In seiner Zeitung „The Commenweal“ veröffentlichte Morris zuvor (1890) eine vielbeachtete Kritik des „Rückblicks“, in der er deutlich macht, wie fundamental die Unterschiede in der Sichtweise auf einen idealen, auf einen ebenfalls gerecht angesehenen Staat sein können:

Die einzige sichere Art, eine Utopie zu lesen, ist, sie als Ausdruck der Gesinnung ihres Autors zu betrachten.So gesehen ist Mr. Bellamys Utopie immer noch als sehr interessant zu bezeichnen, da sie mit reichlich ökonomischem Sachverstand und großem Geschick aufgebaut ist. Und natürlich ist sein Temperament das zahlreicher Menschen. Diese Temperament könnte man als unverfälscht, als modern, als ahistorisch und unkünstlerisch bezeichnen; es hat zur Folge, dass jemand (falls er denn Sozialist ist) mit der modernen Zivilisation völlig zufrieden wäre, wenn es nur gelänge, Ungerechtigkeit, Elend und die Sinnlosigkeit der Klassengesellschaft abzuschaffen;solche halbherzigen Veränderungen scheinen ihm machbar. Das einzige Lebensideal, das solch ein Mensch zu sehen vermag, ist das eines fleißigen Angestellten aus der Mittelschicht von heute, geläutert vom Verbrechen der Komplizenschaft mit der Monopolistenklasse und unabhängig anstatt, wie jetzt, parasitär. Es ist nicht zu bestreiten, dass ein solches Ideal, falls es denn verwirklicht werden könnte, im Vergleich mit den derzeitigen gesellschaftlichen Verhältnissen ein großer Fortschritt wäre. Aber kann es überhaupt verwirklicht werden? […]

Aus der Zufriedenheit des Autors mit den besten Bestandteilen des modernen Lebens folgt naturgemäß, dass er den Wandel hin zum Sozialismus als eine Vorgang betrachtet, der ohne den Zusammenbruch dieser Lebensweise vonstattengeht oder jedenfalls ohne größere Störungen, und zwar vermittels der finalen Entwicklung der großen privaten Monopole, die so charakteristisch für die heutige Zeit sind. Er unterstellt, dass sie zwangsläufig in einem einzigen großen Monopol aufgehen müssen, welches das ganze Volk einschließt und und vom ganzen Volk zu seinem Vorteil betrieben wird.

Dieses Zitat stammt wie das folgende aus dem „Rückblick aus dem Jahre 2000“, wie er im Golkonda-Verlag erschien. An dieser Stelle handelt sich um die vom Herausgeber Wolfgang Both in Zusammenarbeit mit Andreas Fliedner und Hannes Riffel übertragene Rezension Morris‘.[/title]

Morris charakterisierte Bellamys Zukunftsentwurf als stark national zentralisierten Staatskommunismus, als gesellschaftliche Maschinerie zwischen Arbeitszwang und Verpflichtung zur Aufgabe der Arbeit mit 45 Jahren. Zudem hielt er die urban geprägten Lebensräume angesichts der realen Wohnverhältnisse in den Ballungszentren, für nicht erstrebenswert und lehnte den vermehrten Einsatz von Maschinen zur Verringerung der menschlichen Arbeitszeit sinnlos ab. Morris glaubte, dass das Ideal der Zukunft nicht in einer Verringerung der menschlichen Anstrengungen durch die Reduzierung des Arbeitsumfangs auf ein Minimum bestehen wird, sondern in einer Reduzierung der „Mühen“ der Arbeit auf ein Minimum, das so klein ist, das sie aufhören,Mühen zu sein; in einem Gewinn an Menschlichkeit, von dem nur geträumt werden kann, bis die Menschen noch gleichberechtigter geworden sind, als es ihnen Mr. Bellamys Utopie gestattet,[…].

Mit der „Kunde von Nirgendwo“ formulierte William Morris seinen in der Rezension angedeuteten Gegenentwurf zum „Rückblick“.

Sein in London lebender Ich-Erzähler William

Die namentliche Ähnlichkeit mit Bellamys Julian West ist ganz sicher kein Zufall. Außerdem weist der Name gleichzeitig auf den Autor selbst und die Gastrolle des Protagonisten in Morris‘ Utopie hin.

schläft nach einer hitzigen Debatte über einen der Revolution folgenden Zukunftsstaat schlecht und wacht am frühen Morgen des vermeintlich folgenden Tages auf und macht sich auf einen Spaziergang an die Themse. Zu seiner Überraschung ist das Wasser des Flusses sauber, es schwimmen sogar Lachse darin. E sieht keine Industrieschornsteine mehr und die bisherige moderne (vermutlich Stahlbau-)Brücke wurde durch eine im alten Stil aus Stein errichtete ersetzt. Guest trifft am Ufer einen Fährmann, dem er sich als jemand vorstellt, der lange auf Reisen gewesen ist und die Verhältnisse fremd geworden seien. Mit den als Bezahlung angebotenen Münzen, die Guest in seiner Tasche findet, kann der Fährmann nichts anfangen und so beginnt eine Reihe von Fragen und Antworten, in der dem Gast die Vorzüge des Lebens im 20. Jahrhundert im Laufe einer Reise auf der Themse von verschiedenen Menschen gezeigt werden.

Die Lebensverhältnisse in Morris‘ Idealstaat, dessen Struktur aufgrund seiner radikalen Dezentralisierung dem Anarchismus nicht fern ist, sind von einem romantischen „Zurück zur Natur“ geprägt, aus von einer starken Bewunderung des Mittelalters spricht.. Die großen Städte, die rußigen Industriezentren des 19. Jahrhunderts wurden längst zurückgebaut,die Slums niedergerissen.Das neue London ist von Wäldern und Wiesen durchzogen, die Landflucht der Industrialisierung konnte umgekehrt werden. Nur Reste alter großer Gebäude sind noch zu finden. So wird das Parlamentsgebäude in London übergangsweise noch als Düngerlager verwendet. Heutigen Lesern kommt es oftmals befremdlich vor, dass Morris Gebäude, die wir als schön und alt ansehen, als unerträglich modernistisch und

Vollkommen unfreiwillig – mit entgegengesetzter Intention sogar – gibt uns Morris damit einen Hinweis darauf, mit der Kritik an zeitgenössischer Architektur sorgsam umzugehen. Was uns heute als hässlich erschreckt, kann morgen als schön und stilbildend gelten.
beschrieb.

Die Ästhetik der Natur, der dörflichen Strukturen, der Häuser, der Gebrauchsgegenstände und das Entstehen dieser Dinge stellen ein grundlegendes Thema in Morris‘ Utopie. Die Menschen seines Zukunftsentwurfs haben das Handwerk, Kunsthandwerk, die Kunst, die aufgrund maschineller Massenproduktion vergessenen Fähigkeiten zurückgewonnen und entwickeln diese von Generation zu Generation weiter, werden perfektioniert. Es gibt keine Fabriken mehr, man trifft sich gegebenenfalls in vereinigten Werkstätten zur gemeinschaftlichen Arbeit. Arbeit, Kreativität und dadurch entstehende Befriedigung und Identifikation mit dem Hergestellten oder Geleisteten haben die Gedanken an einen monetären Gegenwert verdrängt. Da es aufgrund des Fehlens von Geld oder eines auf Tauschbasis funktionierenden Marktes keine monetäre oder vergleichsbedingte Wertigkeit der Güter mehr gibt, ist das durch die sinnvolle, befriedigende Arbeit erfüllte Leben selbst Belohnung genug. Güter werden an die Menschen verschenkt,die sie benötigen und sich an ihnen erfreuen können.

Gegenseitige Hilfe, besonders in landwirtschaftlichen Saisonzeiten ist obligat, doch immer auch freiwillig und kommt als fröhliche Freizeit auf dem Lande daher.

Die Schönheit der Lebensumstände hat sich auch auf die jugendliche Schönheit der Menschen übertragen, da sie alle aus einer durch Freiheit, (eine für das 19. Jahrhundert erstaunlich freie und gleichberechtigte) Liebe und Vernunft bestimmten Beziehung entstanden sind. Frauen sind selbstbestimmt, selbstbewusst und gleichberechtigt, wenngleich die Aufteilung der Arbeiten der Erwachsenen eher einem klassischen Modell der Geschlechterrollen zu entsprechen scheint.

Kinder wachsen in einem antiautoritärem Umfeld auf und das Wort „Erziehung“ hat sich in ein Fremdwort verwandelt. Somit sind auch Schulen obsolet. Der Begleiter Guests, Dick, formuliert es, nachdem er augenzwinkernd nachfragte, warum denn nicht auch alte Leute erzogen würden, so:

Aber ich kann Ihnen immerhin versichern, dass unsere Kinder etwas lernen, ohne dass sie durch eine Lehr- oder Unterweisungssystem zu gehen haben. Ei, nicht eines dieser Kinder sollten Sie finden, Junge oder Mädchen, das nicht schwimmen, nicht eines, das sich nicht auf kleinen Waldponys zu tummeln verstände […]! Kochen können sie durch die Bank, die größeren Jungen können nähen, viele können Dachdecken und verrichten allerhand Tischlerarbeit oder sie verstehen sich auf sonst einen Hantierung. […]Allein ich begreife wohl, dass Sie von Büchergelehrsamkeit reden, und die ist doch eine einfache Sache. Die meisten Kinder, welche Bücher umherliegen sehen, bekommen es schon mit vier Jahren fertig zu lesen […]

Dieses und die noch folgenden kursiv gesetzten Zitate stammen aus der von Andreas Fliedner herausgegebenen und bei Golkonda erschienenen Fassung der „Kunde von Nirgendwo“.
Fremdsprachen werden über den zahlreichen Kontakt mit ausländischen Gästen gelernt und bezüglich historischen Wissens heißt es, […]viele forschen nach dem Urspung der Dinge, nach den Gesetzen und der Verkettung von Ursache und Wirkung, – sodass Wissen und Kenntnisse unter uns zunehmen[…]. Andere wiederum […] verbringen ihre Zeit mit Mathematik. Es ist ja doch unnütz, die Neigungen der Menschen zwingen zu wollen.

So friedlich und harmonisch es in dieser Utopie zugeht, so konnte sich William Morris deren Entstehen keinesfalls in einem langsamen, evolutionärem Prozess vorstellen. Wie er ausführlich beschreibt, musste es ein harter, über mehrere Jahre viele Opfer fordernder Bürgerkrieg sein, der andauerte, bis Hoffnung und Lust ihm ein Ziel setzten führte zur Revolution im eigentlichen Sinne. Ohne den totale Zusammenbruch des alten Systems und seiner partiellen Privilegien und scheinbar allgemeinen Vorzüge der kapitalistischen Ordnung sieht Morris demnach aufgrund des Fehlens eines gemeinsamen Zieles Aller keine Chance auf einen Wandel zum idealen Staat. Mit dieser Überzeugung steht er nicht allein, wie neuere Utopien – und leider auch Dystopien, die beispielsweise eine nach einem nuklearen Fallout entstandene Gesellschaftsordnung (oder Unordnung) beschreiben. Immerhin erwacht William Guest am Ende des Romans – zwar etwas traurig, weil sich neben der angenehmen neuen Gesellschaftsordnung gerade eine Liebesgeschichte andeutete – wieder in seiner gewohnten Umgebung, um seinen Zeitgenossen in zukünftigen revolutionären Diskussionen das Bild und die Hoffnung auf einen idealen Zukunftsstaat vermitteln zu können.

Wir dürfen uns heute entscheiden, ob wir Ballemys oder Morris‘ Utopie näher stehen. Beide geben uns – so konträr sie sich gegenseitig verstanden – die Möglichkeit, eigene Variationen einer gerechten, friedlichen und zufriedenen Welt zu entwickeln, die einen wirklichen Fortschritt jenseits unseres neoliberalen Alltags bedeutet, in dem uns Zufriedenheit als Stillstand „verkauft“ wird. Der Ansatz, dass nur Hoffnung und Lust Ziele setzen, ist kein schlechter. Aber funktioniert das wirklich erst nach dem totalen Zusammenbruch?

Um der Antwort auf diese und andere Fragen näher zu kommen, empfehle ich nicht zuletzt aufgrund der dort enthaltenen Zusatzinformationen die im Golkona-Verlag erschienene Ausgabe der „Kunde von Nirgendwo“ von William Morris, die Sie bei jedem lokalen Buchhändler erwerben können.




Rückblick auf Edward Bellamy

von Dirk Jürgensen ...

Wir brauchen Utopien – Teil 2

– Meine Lese- und Gedankenreise auf der Suche nach noch zu entwickelnden Utopien, die uns Heutigen eine Weiterentwicklung der „idealen“ Gesellschaft eines Thomas Morus glaubhaft und Hoffnung stiftend vorführt, bringt mich in das Boston des Jahres 1887.

Edward Bellamy - Rückblick aus dem Jahre 2000 - bei Golkonda

Edward Bellamy – Rückblick aus dem Jahre 2000 – bei Golkonda

Damals erschien in den USA mit „Looking Backward: 2000-1887“ von Eward Bellamy einer der erfolgreichsten utopischen Romane und damit gleichzeitig einer der ersten

Allein in Deutschland kursierten schnell sechs Übersetzungen gleichzeitig.
. Dieser „Rückblick aus dem Jahre 2000“ ist vor einiger Zeit in einer empfehlenswerten Neuausgabe der Übersetzung von Clara Zetkin im Golkonda-Verlag erschienen.

Der Roman entstand in einer Zeit, in der die Industrialisierung rasante Fortschritte und gemeinsam mit der wachsenden Zahl von Einwanderern Arbeit immer billiger machte. Feudale Strukturen waren längst durch einen ungezügelten Kapitalismus ersetzt, der mit seinen wiederkehrenden Krisen immer und ausgerechnet die Ärmsten leiden ließ. So kamen mit dem Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit vermehrt auch sozialistische Ideen ins Land der vermeintlich unbegrenzten Möglichkeiten.

Angesichts der Arbeitskämpfe mit Streiks und Aussperrungen, die mit dem „Haymarket Riot“ von Chicago ihren tragischen Höhepunkt fanden, sah sich der Journalist und Zeitungsherausgeber Edward Bellamy gezwungen, sich konkret mit den drängenden sozialen Problemen zu befassen. So entwarf er den Gerechtigkeitsgedanken der ersten amerikanischer Einwanderer aufgreifend in Romanform das Bild eines zukünftigen (Welt-)Staates, in dem ökonomische und politische Gleichberechtigung herrschen, eine gerechte Güterverteilung keine Armut mehr kennt. Dies gelang ihm mit „Looking Backward: 2000-1887“ derart überzeugend, dass sich schnell zahlreiche „

Um dem kaum zu vermeidenden Widerspruch zu begegnen: es ging den Beteiligten nicht um unseren heutigen Begriff von Nationalismus, sondern darum, Großunternehmen zu „nationalisieren“, also zu verstaatlichen oder zu sozialisieren.
“ gründeten, die sich später auf seinen Wunsch hin in „Nationalist Clubs“ umbenannten. Auch eine Diskussionsplattform in Form einer Zeitung – „The Nationalist Monthly“ – wurde herausgegeben.

Bellamy hielt die Verwendung der Begriffe „Sozialismus“ und „Kommunismus“ in seiner Heimat für übel beleumdet, somit für kontraproduktiv und nicht verwendbar. (Einen umfangreichen Überblick zur Zeit und zu den Umständen des Erscheinens des „Rückblicks“, auf die Wirkungen des Romans und die Argumente seiner Kritiker von William Morris bis Ernst Bloch gibt das Vorwort des Herausgebers Wolfgang

Der Herausgeber Wolfgang Both (Jahrgang 1950) studierte in Ilmenau Informationstechnik und arbeitete dann über 20 Jahre in der Industrieforschung. Heute ist er Referent in einer Berliner Senatsverwaltung. Gemeinsam mit Hans-Peter Neumann & Klaus Scheffler trug er die Geschichte des DDR-Fandoms Berichte aus der Parallelwelt (1998) zusammen. Als ausgewiesener Kenner sozialistischer Utopien hat er 2008 das Standardwerk Rote Blaupausen vorgelegt. (Quelle: Golkonda-Verlag) – Auf Rote Blaupausen werde ich in späteren Folgen an dieser Stelle sicher einmal ausführlicher eingehen.
der oben angegebenen Ausgabe.)

Julian West, Bellamys Ich-Erzähler, 30 Jahre alt, ein eher gelangweiltes Mitglied der privilegierten Schicht Bostons, lässt sich aufgrund von Schlaflosigkeit von einem „Magnetiseur“ in einen künstlichen Schlaf versetzen, aus dem er zu seiner großen Überraschung nicht am 31. Mai 1887, sondern erst am 10. September 2000 erwacht. Ohne weiter auf die Einzelheiten der Geschichte einzugehen, möchte ich an dieser Stelle verraten, dass Julian West in eine Welt enormen technischen Fortschritts geraten ist. Die Industrie wurde in den Nutzen der Allgemeinheit gestellt, verwendet saubere Technologien, die die rauchenden Schlote der 19. Jahrhunderts überflüssig machen.

Schnell kamen mir beim Lesen Zukunftsentwürfe in den Sinn, die in meiner Jugend nicht selten waren. Mir wurde bewusst, warum mir ausgerechnet Bellamy so nahe ist:

Eine Nutzung des industriellen Fortschritts im Sinne einer gerechten Wohlstandsverteilung des „Rückblicks“ hallte noch in den Siebzigern des 20. Jahrhunderts als Ideal nach. Viele gingen auch damals davon aus, dass aufgrund des zu beobachtenden und stetig größer werdenden Anwachsens der Produktivität aufgrund des vermehrten Computer-Einsatzes, fortschrittlicher Maschinentechnik und

Ein Begriff, der schnell eine negative Wendung erfuhr, weil Ratio (Vernunft) nur Gewinnmaximierung für Shareholder bedeutete und eben nicht den Weg zu mehr Gerechtigkeit bahnte.
der Arbeitsabläufe weniger menschliche Arbeit nötig würde. Ich kann mich noch gut erinnern, wie man sich damals das Arbeitsleben im Jahr 2000 vorgestellte, in dem Frauen und Männer täglich mehr Zeit mit ihren Familien verbringen könnten, Arbeitsplätze auf mehrere Arbeitnehmer verteilt würden (was später unter dem Begriff des Job-Sharings bekannt wurde), die dann mit ungefähr 45 Jahren in den aktiven Ruhestand wechseln könnten. Eine Diskussion um die Erhöhung des Renteneintrittsalters wäre uns damals absurd vorgekommen, da doch schließlich die Automatisierung menschliche Arbeit zu großem Teil überflüssig mache. Die Parallelen zwischen den Vorstellungen unserer jüngeren Vergangenheit zu Bellamys Jahr 2000 sind enorm und der gesellschaftliche Fortschritt wäre hinsichtlich der tatsächlichen technischen Innovation durchaus realisierbar gewesen. Wenn man denn gewollt und die Kraft gehabt hätte, gegen die reine Kapital- und Marktorientierung anzusteuern.

Arbeitnehmer, zu denen Vater gehörte, hatten in den Siebzigern noch das Gefühl, dass es stetig aufwärts ginge. Die Arbeitsbedingungen verbesserten sich an den meisten Industriearbeitsplätzen, Löhne und Gehälter stiegen in für uns unvorstellbar großen Schritten, für das Ersparte gab es gute Zinsen und immer mehr Menschen durften sich einen Urlaub leisten, wie ihn früher nur Wohlhabende kannten. vermutlich fehlte es gerade deswegen an revolutionärem Geist, der einen nächsten Schritt möglich gemacht hätte. Gewissermaßen tappte man in eine utopistische Falle, die den Blick auf mögliche Utopien (besser: Ziele) verdunkelte. Zwischen Ölkrise, Globalisierung und der in jüngerer Vergangenheit dramatisch ausgeweiteten Finanzkrise wurde den Menschen immer wieder begreifbar gemacht, dass der Wohlstandsfortschritt zumindest Pausen einzulegen hatte, man „Lohnzurückhaltung“ üben und längere Arbeitszeiten hinnehmen müsse. Quer durch fast alle Parteien und Presseorgane geht diese Parole im Dienste eines in seiner scheinbaren Unumstößlichkeit ominösen Wachstumsbegriffs, der in die Unendlichkeit strebt. Der heutige, neoliberal dominierte Kapitalismus duldet kein Ziel, kein Utopia, sondern versucht mit großem Erfolg Zufriedenheit zu einem Schimpfwort zu machen, indem sie in unanständiger Weise mit Stillstand gleichgesetzt wird. Einer der Religion des ewigen wirtschaftlichen Wachstums scheut Zufriedenheit wie der Teufel das Weihwasser. Neid hingegen, gepaart mit der Erziehung zum

Dies sind wichtige Grundsätze neoliberalen Lebens: Jeder soll an seine Chance glauben, Solidarität ist ein Hindernis für die Karriere und für die Altersversorgung und eventuelle Krankheit muss mehr „Eigenverantwortung her.
ist der Motor der Wirtschaft.

In Belamys idealem Weltstaat wurde der Zustand der Zufriedenheit erreicht. Kein Marktschachern, kein Neid schürendes Streben Gewinn oder höherem Einkommen stört die allgemeine Friedlichkeit des genossenschaftlichen Gemeinwesens, in dem grundsätzliche Gleichheit in Rechten und Pflichten herrscht. Zwar stößt es etwas unangenehm auf, dass nur verdiente Männer in Führungspositionen des Staates gelangen, Frauen hiervon ausgeschlossen scheinen, doch sollten wir diesen leicht zu behebenden Mangel der Entstehungszeit des Romans schulden. Auch erschreckt die Wortwahl, wenn davon die Rede ist, dass die Menschen (allerdings nur bis zum 45. Lebensjahr und immer unter Berücksichtigung ihrer Neigungen und Fähigkeiten) in den Dienst einer militärisch organisierten Industriearmee gerufen werden. Doch man sollte bedenken, dass klare Organisationsstrukturen früher einzig aus dem militärischen Bereich bekannt waren, weshalb zum Beispiel die heute noch so bezeichnete Logistik militärischen Ursprungs ist. Da die Güterproduktion und -Verteilung dem Gemeinwohl zu dienen hat, keine Über- oder Unterversorgung entstehen soll, ist die Anforderung an die Organisation der Arbeit ebenso anspruchsvoll wie im Geiste der Profitmaximierung. So gibt es ein ausgeklügeltes Ausbildungssystem, das die Fähigkeiten und Neigungen der Einzelnen stets berücksichtigt.

Da Bellamy in seinem idealen Wirtschaftssystem das

Zitat von Seite 112/Kapitel 9: „Das Geld blieb stets gleich viel wert, mochte es durch Diebstahl, Mord oder durch fleißige Arbeit erworben sein, mochte es sich in den Händen eines Schurken oder eines ehrlichen Mannes befinden.“
abgeschafft hat, gilt es nicht mehr als Motivations- und auch nicht als Druckmittel in der Arbeitswelt. Vielmehr kann man sich über seine Leistung und dem Nachweis der Qualifizierung für angenehmere Arbeiten empfehlen. Eine „Bezahlung“ erfolgt in Form einer
Ganz nebenbei gilt Edward Bellamy als Erfinder der Kreditkarte. In seinem Fall ist sie eine Anrechtskarte, die Bezahlung damit entspricht keinem Geldwert, sondern einem Tauschwert. Sie ist also kaum mit der erstmals 1924 von Western Union angebotenen Kreditkarte zu vergleichen.
nicht für geleistete Arbeit, sondern dafür, dass man ein Mensch ist. Die Nähe zum derzeit immer wieder geforderten bedingungslosen Grundeinkommen ist unverkennbar.

Werbung ist aufgrund fehlenden Konkurrenzdenkens überflüssig geworden. Die Warenproduktion erfolgt aufgrund intensiver statistischer Erhebungen streng nachfrageorientiert. Bellamy verurteilt die in seinen Augen kapitalismustypische Produktion überflüssiger Güter zur Gewinnmaximierung, die nur mittels Werbung, also durch künstlich erweckten Bedarf an die Kunden gebracht werden können, damit überflüssig Arbeitskraft bindet und Unredlichkeit fördert. Eingekauft wird in von allen Bürgern schnell erreichbaren, sehr gut sortierten und luxuriös ausgestatteten Warenhäusern, die Muster aller verfügbaren Güter bereit halten. Bestellungen werden von dort via Rohrpost an ein Zentrallager gesandt. So können auch abseits der Metropolen alle möglichen Produkte angeboten werden. Kaum auszudenken, wie gut Bellamy unser Internet gefallen hätte! Es dürfte sich nicht nur in diesem Punkt lohnen, den „Rückblick“ Bellamys mit unseren Erfahrungen anzureichern und anzupassen, eine Fortsetzung zu finden.

Aufgrund all der eingesparten Arbeitszeit und des Wohlstands sind kulturelle Genüsse ein wichtiger Aspekt in Bellamys Utopie. So befindet sich in jedem Haus ein Musikzimmer, in das mittels

Als Ballamys seinen Roman verfasste, war die Telefonie eine ganz junge Technik und hatte noch keine Verbreitung gefunden. Mehr unter Wikipedia
zu jeder Tageszeit Livekonzerte in hervorragender Tonqualität übertragen werden. Music on Demand würden wir es heute wohl nennen.Mit weiteren technischen Errungenschaften des 20, Jahrhunderts geht Bellamy recht sparsam um. Im liegt es mehr an der Ausgestaltung der neuen Gesellschaftsordnung und nicht an Science Fiction.

So zeigt sich der Geist seiner Utopie besonders auch in den Bereichen Bildung und Erziehung, wo es als Devise gilt, dass die mit weniger natürlichen Gaben Versehenen eine intensivere Förderung benötigen als die Begabten, da Intelligente nach Ansicht Bellamys von sich aus nach Bildung streben. Im Staat des Jahres 2000 ist allgemeine Bildung ein Ziel, das im Interesse Aller liegt. Wer mag ihm da widersprechen?

Leider gibt uns Bellamy nur vage Hinweise auf eine größtenteils friedliche, evolutionäre Entwicklung, die diese neue Gesellschaftsform entstehen ließ. Da uns mit einem Utopia ein zu erreichendes Idealziel geboten wird, halte ich es für legitim, wenn der Autor den Weg von uns Lesern definieren lässt, wenn sie mit seinem Ideal einverstanden sind.

Vorher sei die Lektüre von Edward Bellamys „Rückblick aus dem Jahre 2000“ unbedingt angeraten.




Wir brauchen Utopien

von Dirk Jürgensen ...

Von der Notwendigkeit utopischen Denkens

Wo liegt Utopia? - ©Foto: Dirk Jürgensen - Düsseldorf

Wo liegt Utopia?
©Foto: Dirk Jürgensen – Düsseldorf

– Utopien sind wichtig. Sie markieren ein Ziel, Hoffnungen auf einen Ort, den es nicht gibt – noch nicht gibt. In unseren neoliberal geprägten Zeiten, die von einem kurzfristigen ökonomischen Pragmatismus unzähliger Einzelkämpfer geprägt sind, in denen jeder seine Chance zu haben glaubt, ist das Wort Utopie zu einer Art Schimpfwort verkommen, wie auch Idealismus zur Unvernunft mutierte. Gedanken an eine bessere Welt, an einen gerechten Staat werden gern als Hirngespinste

Man beachte angesichts meist in der Zukunft angesiedelter Utopien den Widerspruch! Dem ewig Gestrigen wird von vermeintlichen Vernunftsmenschen der Gegenwart die Unfähigkeit nachgesagt, das Normative des Faktischen hinzunehmen.
oder unverbesserlicher
Auch der widersinnig negative Gebrauch des Wortes Gutmensch passt in dieses Schema, das uns Solidarität und Gerechtigkeit aufgrund historischer und aktueller Erfahrungen des menschlichen Verhaltens als gescheiterte Träume erklären soll. Gerne wird diese Bezeichnung von eher rechtskonservativen Menschen verwendet, um die Bemühungen und Aussagen anders Denkender als absurd darzustellen. Der Autor dieser Zeilen wurde einst in einem Forum als „grün-bolschewistischer Gutmensch“ beschimpft und rätselt, froh, nicht als Schlechtmensch tituliert zu werden, noch immer, was einen solchen auszeichnet.
abgetan.

Was ist der Mensch ohne Träume, ohne Hoffnungen anderes als ein trauriges, willfähriges Instrument? Allenfalls kleine, beinahe armselige Träume und Hoffnungen von beruflichem und finanziellem Aufstieg sind als Antriebsmittel des Einzelnen in unserem kapitalistischen System verschiedener Ausprägungen zwischen USA, Europa, Russland und China erlaubt. Bloß nicht davon sprechen, dass ein Markt nur allzu gerne jene Teilnehmer gewinnen lässt, deren Methode es ist, andere übers Ohr zu hauen. Lieber mitmachen, sich anpassen, vor dem mühevollen Anstoßen von Veränderungen resignieren. Andere tun es schließlich auch und allein hat man keine Chance. Bloß nicht in gesellschaftlichem Format hoffen und träumen, gar die Förderung des Guten im Menschen als Aspekt des Fortschritts in Erwägung ziehen. Dazu fehlt uns die Zeit und die kostet bekanntlich Geld, unser wichtigstes Gut.

Etwas überraschend taucht in den letzten Jahren vermehrt der Begriff des

Eine Bezeichnung, die in Wirtschaftskreisen dieser Tage eine gewisse modische Umdeutung erfährt, wenn es darum geht, ausgetretene Pfade zu verlassen, wenn diese nicht mehr den gewohnten Einnahmeüberschuss erzielen lassen. Genauer betrachtet sollen diese Querdenker nur eingefangen, domestiziert und an die erforderlichen Abläufe angepasst und möglichst nur Teile ihrer Ideen verwendet werden. Zu entschieden quer würden diese Denker den Weg zum ökonomischen (welchen auch sonst) Erfolg versperren, der letzthin doch wieder der ausgetretene zu sein hat. Zudem ist der Querdenker im heutigen Wortgebrauch der Nachfolger des etwas in die Jahre gekommenen und lange arg strapazierten Visionärs, der letzthin nur eine erfolgreiche Geschäftsidee hatte.
auf. Dabei sind gerade Utopisten Menschen, die ihr Querdenken und ihre Visionen umfassend formulieren, statt ihre im vorherrschenden Zeitgeist schräg zu nennenden Einfälle nur auf einen Arbeitsablauf oder eine Marketingstrategie auszurichten. Utopisten haben im Gespräch mit Personalverantwortlichen keine Chance, sind zu unbequem in einer bei gleichzeitiger Gewinnoptimierung nach „Convenience“ strebende Welt, in der es zählt „smart“, also pfiffig, flink, schlau, elegant, gerissen oder adrett zu sein.

Nach dem Wandel großer sozialistischer Projekte in Diktaturen, in Wirklichkeit gewordene

Machmal könnte man glauben, die Utopien wären uns verleidet, nachdem uns – natürich angesichts historischer und gegenwärtiger Erfahrungen – nur Dystopien präsentiert wurden. Diese Anti-Utopien kehren das Bild einer Utopie um, zeigen uns Diktaturen, Repression und totale Überwachung. Weitere Begriffserklärungen und Beispiele sind bei Wikipedia zu finden.
, ihrem Zusammenbruch und dem darauf folgenden globalen Siegs des Kapitalismus, der uns alltäglich im Misstrauen gegenüber jeden Begriff schulte, der das Präfix Sozial- besitzt, erscheint es kaum möglich, ausgerechnet neue Sozialutopien zu entwickeln.

So leben wir

Dass es gar nicht so wenige sind, beweist ein Buch mit Film von Isabelle Fremeaux und John Jordan, das bei Nautilus unter dem Titel Pfade durch Utopia erschien und von einer Reise kreuz und quer durch Europa zu ganz unterschiedlichen utopischen Projekten erzählt.
in einer Welt, in der uns Utopien fehlen und somit ohne ein Bild, auf dem es unsere Kindeskinder einst jenseits einer perfektionierten elektronischen Ausstattung ihres Lebensumfelds wirklich besser haben. Schließlich wird niemand behaupten, dass wir bereits heute in der besten aller möglichen oder gar wünschenswerten Welten leben. Oder doch? Hat das neoliberale Streben ein wünschenswertes Ziel jenseits des ökonomischen Prinzips (nach dem mit einem möglichst geringen Einsatz der größtmögliche Erfolg eingefahren werden soll) im allumfassenden Marktdenken?

Manager und Politiker erzeugen, verwalten und bekämpfen Krisen, langfristiges Denken findet keinen Platz im viel zu engen Terminkalender. Wir Kunden, Verbraucher, Arbeitnehmer, Wähler und Journalisten tragen eine große Mitschuld daran. Wir lassen es zu, weil auch wir es nicht besser wissen und nicht die Zeit nehmen, Ideen zu entwickeln.

So ist es wohl sinnvoll, sich an bereits verfasste Utopien und ihre Verfasser zu erinnern. Sie mögen uns manchmal etwas verstaubt, ihre Zukunftssicht technisch längst überholt vorkommen. Doch können sie uns helfen, neue Utopien, ein Ziel zu definieren, das uns glaubhaft und erstrebenswert erscheint. Gerne kann man die Lektüre mit Platons Politeia oder die erste wirkliche und dem Genre einen Namen gebende Sozialutopie von Thomas Morus Utopia beginnen, doch ich möchte auf ein in seiner Zeit außerordentlich erfolgreiches Werk aus dem Jahr 1887 erinnern, das erstaunlich aktuelle Züge aufweist und unbedingt lesenswert ist.

Originaltitel „Looking Backward: 2000-1887“
von Edward Bellamy wurde 2013 bei Goldkonda in einer sorgsam zusammengestellten Ausgabe mit der Übersetzung von Clara Zetkin neu herausgegeben.

Eine Besprechung des Romans Rückblick aus dem Jahre 2000 ist in Vorbereitung.

Ein Nachwort

Dieser Beitrag ist der Beginn einer Reihe, in der ich mich mit dem Fehlen neuer Utopien befassen und ohne chronologische Rüchsichtnahme auf bisher verfasste Utopien verweisen werde. Manchmal mögen meine Gedanken etwas unbedarft ins Unreine formuliert sein, aber einen wissenschaftlichen Anspruch verfolgen sie ohnehin nie. Vielmehr möchte ich angesichts einer von ökonomischer Kurzfristigkeit geprägten Zeit ohne humanistische, soziale Ideale zu utopischem Denken anregen. Denn ohne Ziel bereitet der Weg nur begrenzten Spaß.

Hier geht es weiter: Wir brauchen Utopien




Vor einem Jahr nahm Düsseldorf Abschied vom Tausendfüßler

Tausendfüßler

Foto: ©Dirk Jürgensen – Düsseldorf

von Dirk Jürgensen ...

Februar 2014. Vor ziemlich genau einem Jahr nahmen wir Düsseldorfer in schlimmstem Schmuddelwetter Abschied von unserem Tausendfüßler, den Ahnungslose einfach nur als Hochstraße bezeichnet hätten, wenn sie ihn nie erleben durfen. Er war Teil des stets so empfundenen Ensembles mit dem Schauspielhaus und dem Dreischeibenhochhaus, einem Sinnbild der modernen, aufstrebenden, hellen Stadt Düsseldorf.

Tausendfüßler

Foto: ©Dirk Jürgensen – Düsseldorf

Einige Jahre hatte es gedauert, bis die Oberen der Stadt einem Teil der Bürger glaubhaft machen konnten, dass es sich bei diesem Baudenkmal um einen Schandfleck handeln sollte. Immer wieder wurde behauptet, die vergleichslos grazile Hochstraße sei ein Hindernis für den freien Blick, dabei sah man aus zahlreichen Perspektiven kaum. Eine dieser vorgeblichen Sichtbehinderungen betraf auch das Schauspielhaus. Dabei plante man gleichzeitig, natürlich von der Mehrzahl der Bürger unbemerkt, ein paar Gebäude, vor diesen – ähnlich, wie es der Tausendfüßler war – geschwungenen Baukunstwerk. Eine „notwendige Umfassung des Gründgensplatzes“ nannte man das und drohte dabei ungesagt das Schauspielhaus in einem öden Hinterhof verschwinden zu lassen. Was kümmern Sichtachsen, wenn man als Immobilienmakler wieder ein paar umbaute Kubikmeter zum Vermitteln erhält?

Elbers

Foto: ©Dirk Jürgensen – Düsseldorf

Ein Jahr ist es her und Düsseldorf geht, geleitet vom kurzfristigen Denken des Immobilienmarktes, unvermindert weiter in die Beliebigkeit ach so vieler Städte. Da hilft es auch nicht, dass der Architekt des Luxuskaufhauses am sogenannten Köbogen Daniel Libeskind heißt, jenes Neubaus, der erstaunlicherweise auch den Schwung des einstigen Tausendfüßlers aufzugreifen sucht, jedoch an dieser Stelle nur einen schroffen Klotz vor dem wunderbaren Hofgarten darstellt.

Tausendfüßler

Foto: ©Dirk Jürgensen – Düsseldorf

Die Besucherzahlen am Köbogen mögen meine Kritik als Irrtum darstellen. Doch dort, wo man seinen begeisterten Gästen einst wenige Sekunden erhabenen Gefühls und Übersicht vom Auto aus präsentieren konnte und nun durch verschiedene Tunnelröhren geschickt wird, dort, wo man zu Fuß oder mit dem Rad bequem an einem Saxophonisten vorbei durch die Jägerhofpassage von einem Teil des Hofgartens in den anderen gelangte, wird man demnächst Straßenbahnschienen überqueren müssen. Dabei behauptete man die Hofgartenteile zusammenführen und einen Angstraum beseitigen zu wollen, den allein als Scheinargument existierte.

Tausendfüßler

Foto: ©Dirk Jürgensen – Düsseldorf

Für die von mir so ungeliebte Entwicklung der Stadt Düsseldorf sind die beiden Oberbürgermeister Erwin und dessen Nachfolger Elbers verantwortlich. Beide OB konnten und können nicht anders, denn beide hatten und haben keinen Sinn für das, was urbanes Lebensgefühl, was Stadtteilkultur, was Lebensqualität jenseits der Luxushotels und Glasfassaden und Kultur jenseits der Massenevents bedeutet. Sie bedienten und bedienen die Reichen und Schönen, die nach der Vergoldung ihres Zeitalters lechzen und den bloßen Schein für ein erstrebenswertes Sein halten. Wird ihnen Düsseldorf einmal langweilig, findet man sie schnell woanders. Wurzeln sind ihnen zu schmutzig.

Bei der Kommunalwahl am 25.05.2014 werden wir in Düsseldorf zwar nicht mehr die Chance zur Rettung aller Kinder haben, die in den tiefen städtischen Brunnen gefallen sind, aber ich will die Hoffnung nicht aufgeben, dass „meine“ Stadt am Rhein sich wieder ein bisschen mehr nach mir und meinen Vorstellung einer lebens- und liebenswerten Stadt richtet. Ist das zu egoistisch gedacht?




Düsseldorf, reiche Stadt

von Dirk Jürgensen ...

Düsseldorf, reiche Stadt  - Foto: © Dirk JürgensenDüsseldorf. Reich und schön.

Die Stadt der Reichen und der Schönen, kulturell etwas behäbig, wenig mutig, oft spießig, erkennt nur Teures als gut, dafür ein beliebtes Shoppingrevier. Düsseldorf ist schuldenfrei, behaupten die, die sich damit rühmen wollen, weil sie die Stadt verwalten. Dabei kennen diese Verwalter „ihre“ Stadt gar nicht, leben in und vielleicht auch von den Klischees, die man sich über sie erzählt. Sie glauben metropolenhaft zu stolzieren und stolpern ungeschickt provinziell. Von der kleinen, weichen Anforderung, ihre Stadt zu lieben, ist in allem nichts zu hören, zu sehen, zu spüren, wenn man sie liebt, die Stadt. Glasfassaden, Autotunnel, Luxushotels und edle Wohnquartiere taugen nicht für einen Liebesbeweis. Die Chance wird stets aus Mangel an Phantasie vertan. Den Reichen und den Schönen ist es egal. Wird es zu langweilig, wandert der Hype weiter, sind auch sie ganz schnell woanders. Düsseldorf? Ach ja, meine Düsseldorfer Zeit. Vergessen.

Die Sonne scheint auch in Düsseldorf und dieser Winter ist nicht besonders kalt. In Düsseldorf. Zum Glück.




Wuschsch und Klönggg sind keine Kunstgriffe!

von Dirk Jürgensen ...

Eine offene Schelte an CSI und CIS

Liebe Produzenten von Krimiserien, liebe Kriminal-Redakteure der Fernsehsender,

Wuschsch und Klönggg

Ich bin, sollte das Drehbuch tatsächlich einer einigermaßen sinnvoll konstruierten Geschichte folgen, nicht zu blöd, einen Szenenwechsel als solchen mitzubekommen. Dieser muss nicht durch ein den Schnitt begleitendes Geräusch erklärt werden. – Text und Foto: © Dirk Jürgensen

mir gehen all Eure CSI/CIS-Originale und -Derivate gehörig auf die Nerven. Länger als nur wenige Minuten kann ich ihnen nicht beiwohnen. Diese ach so modernen amerikanischen Filme erzeugen genervte Langeweile. Doch ihre Machart sowie die unweigerliche Werbeunterbrechung, die der Erholung dienen soll, nein, der Bestätigung, dass ein Um- oder Ausschalten die beste Wahl ist, sollte eingehend betrachtet werden.

Sollten Ihr mich fragen, warum ich so ungehalten reagiere, liste ich gerne einige meiner Hauptärgernisse auf:

1. Meine in Würde gealterten Augen sind noch immer in der Lage, einen Kameraschwenk als solchen zu registrieren. Dessen akustische Untermalung mit einem „Wuschsch“, so, als würde die Bewegung des Aufnahmegeräts eine extreme Luftverwirbelung mit einem entsprechenden Geräusch erzeugen, ist nicht nur als überflüssig anzusehen, sondern lenkt mich mit der Frage über dessen Ursprung und Sinn vom vorgeführten Kriminalfall ab.

2. bin ich, sollte das Drehbuch tatsächlich einer einigermaßen sinnvoll konstruierten Geschichte folgen, nicht zu blöd, einen Szenenwechsel als solchen mitzubekommen. Dieser muss nicht durch ein den Schnitt begleitendes Geräusch erklärt werden. Ich meine jenes Geräusch, das mir seit einiger Zeit auch aus der Autowerbung (Audi oder BMW, Vorsprung durch Technik bei Freude am Fahren – ich weiß es nicht mehr und es ist mir egal) bekannt ist. Wem ist es nicht bekannt? Es klingt, als würde der Heizungsmonteur im Keller gegen die Rohre schlagen, um dem Hausmeister auf der Etage das Ende seiner Frühstückspause zu dokumentieren. Ein nachhallendes „Klönggg“ – schon wechselt der Blick vom Präsidium zum Tatort, oder es wird ein neues Datum eingeblendet. Geht das nicht auch ohne, oder will man die längst eingeschlafenen Zuschauer pünktlich vor der nächsten Werbung geweckt wissen?

3. verstehe ich überhaupt nicht, warum und auch wann die Serienkommissariate trotz international verbreiteter Haushaltsschwäche der Kommunen mit transparenten Flipcharts ausgerüstet wurden. Ich akzeptiere den eventuellen Einwand der Filmemacher, die Realität sei viel zu langweilig und trist und müsse aufgepeppt werden, doch es geht sicher mit etwas mehr Glaubwürdigkeit. Zugegeben, einen Vorteil haben die Dinger: Die Kamera kann von der Rückseite hindurchschauen und somit ungemein spannende Blickwinkel auf die attraktive, möglichst aus allen ethnologischen Gruppierungen des Handlungslandes bestehende Polizistencrew bieten. Einen anderen, der Arbeit dieser Ermittler dienenden und daher sinnvollen Grund, können Anschaffungen solcher sicher nicht billigen Tafeln nicht haben.

4. Ebenso halte ich es, da die hier kritisierten Sendungen nicht der Science Fiction zugeordnet werden können, für einen übertriebenen Modernismus und aufgrund ihrer fehlenden ergonomischen Vorzüge für bloße Effekthascherei, wenn die eben erwähnten gläsernen Flipcharts auch noch mit transparenten Touch-Screens ausgestattet werden, auf denen Fotos von Verdächtigen, Opfern und sonstigen Fundstücken unter fadenscheinigen Begründungen in Beziehung gesetzt und entsprechend verschoben werden.

5. nerven mich ständige Rückblenden und Erinnerungsfetzen oder schlimmstenfalls gar Visionen der Täter oder Ermittler. Diese werden ebenfalls mit dem unter Punkt 1 angeführten „Wuschsch“ und zusätzlich mit einer veränderten Bildauflösung oder Farbpalette dokumentiert. Was vielleicht in den Anfangsjahren des elektronischen Effekts noch als Kunstgriff galt, ist heute nur noch eine Notlösung und ein Beweis von Phantasielosigkeit. Ist der Regisseur also ratlos und weiß nicht, wie man eine Geschichte durch Handlung, durch Agieren der Schauspieler, durch geschickte Dialoge innerhalb einer viel zu kurzen Folge entwickeln, darstellen oder fortführen soll, „Wuschsch“ blendet man ein paar Bildfetzen ein. Ziemlich billig.

6. können Computer in Krimis ganz einfach zu viel. So, wie Fotos beim Heranzoomen immer schärfer und nicht immer verpixelter werden, recherchieren und kombinieren sie selbständig und ohne jede Datenschutzüberprüfung in allen Datenbanken überall, sodass die um sie herum versammelten Cops eigentlich arbeitslos sein müssten. Sicher, schon Sherlock Holmes ließ die Leser seiner Fälle aufgrund vollkommen unerwarteter Kombinationen mitsamt vorher nicht bekannter Einzelheiten über seine Intelligenz staunen, aber muss man das auch noch in einer heutigen Krimiserie dulden?

7. Wie die Computer zu intelligent sind, sind auch die Labore der Gerichtsmediziner viel zu sehr einem Raumschiff des 23. Jahrhunderts zuzuordnen. Wer die Gelegenheit erhält, ein real existierendes Polizeipräsidium oder Universitätsinstitut zu besuchen, kommt völlig entgegengesetzt ins Staunen.

8. sind Pathologen oder gerne auch Coroner stets verschrobene, schrullige Typen. Und wenn nicht, dann müssen sie diesem mühsam aufgebauten Klischee als außerordentlich attraktive Frau oder als Pippi Langstrumpf in Schwarz diametral entgegenstehen. Sie prüfen in höllischer Geschwindigkeit alles und viel mehr als man von ihnen erwarten kann.

9. scheint das Budget für ihre Arbeit grenzenlos und nicht durch die teuren Flipcharts der ermittelnden Kollegen beeinträchtigt.

10. besitzt jede oder jeder Einzelne von ihnen mindestens ausgereifte Kenntnisse in Gentechnik, Chemie, Physik, Statistik und Informatik, weiß alle internationalen Fälle aus der Vergangenheit auswendig, findet immer irgendwelche Nebensächlichkeiten, die niemand bisher untersuchte. Zudem werfen Pathologen eher verschleiernd denn erklärend mit Fachbegriffen um sich, deren Bedeutung ich gerne nachschlagen würde, doch macht das nächste „Wuschsch“ oder „Klönggg“ dem Ansinnen ein Ende und auch den Polizisten fehlt offenbar die Zeit dazu. Vermutlich nicht ohne Grund, denn hier verhalten sich moderne Krimis endlich einmal wie das wahre Leben, in dem manch Fremdwort nur ein flehender Schrei nach etwas Bewunderung ist. Und bewundern sollen wir sie doch, die Protagonisten. Ich gehe im Übrigen davon aus, dass die meisten im Film verwendeten fremdartigen Begriffe einer Überprüfung nicht standhalten könnten. Doch welchen Sinn hätten sie noch außer des Eindruckschindens? Meiner Vermutung nach soll der übertriebene Gebrauch von Fachtermini, vergleichbar mit der sinnfreien Verwendung stereotyper Bild- und Toneffekte, Mängel in der Geschichte ausbügeln. Kein Zuschauer wird nachfragen und wenn Nichterklärtes den nur rudimentär existierenden Handlungsstrang verkürzen hilft, bleibt mehr Zeit für die Werbung. „Wuschsch“ – nein, „Klönggg“.

Es mag sein, liebe Produzenten und TV-Krimi-Redakteure, dass die Mehrheit der Konsumenten meinen Unmut keinesfalls teilt oder gar der Meinung ist, Spannung sei einzig und allein mit Effekten zu erzielen. Sie würden mir mit diesem Argument den Erfolg Ihrer Sendungen erklären, wenn auch nicht rechtfertigen. Hitchcock unterschied einst Surprise (Überraschung – ein unerwartetes Ereignis) vom Suspense (Spannung – die Erwartung eines Ereignisses ohne sein Eintreffen), doch sogar die Wirkung der Überraschung geht im ach so modernen Effektgewitter unter. Dabei, da möge mir Hitchcock verzeihen, wäre selbst eine später nachvollziehbare Überraschung als positive Filmerfahrung zu bezeichnen.

Vielleicht aber schaut und hört einfach niemand mehr hin, vielleicht mag in einer Welt, in der so viel geschieht, niemand mehr mit seinen Gedanken einer Geschichte folgen? Das könnte Ihnen, liebe Verantwortliche, durchaus eine Sinnkrise bescheren, denn wozu machen Sie die Filme dann noch? Zur Unterbrechung der Dauerwerbung? Ich weise in diesem Fall mit klammheimlicher Freude jede Verantwortung von mir und betrachte die Sache als erledigt, … bis mir irgendwann einmal eine vertrauenswürdige Person erzählt, sie habe eine völlig neue Krimiserie origineller Machart entdeckt, die ich mir unbedingt einmal anschauen sollte. Bis dahin könnte das Warten vermutlich spannender als jeder Ihrer Krimis sein.

Am 31.10.2011 auf Einseitig.info fast genau so erschienen und noch immer aktuell.