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Können Zeitreisen helfen? – Tausend und ein Morgen von Ilija Trojanow

Wir brauchen Utopien – Teil 9

von Dirk Jürgensen …

Wir, die Menschen, brauchen Utopien, um uns das Ziel einer besseren Zeit setzen zu können. Als ich diese kleine Reihe unterbrach, war Angela Merkel noch Kanzlerin, die Pandemie stand uns noch bevor und die Kriege dieser Welt fanden noch etwas weiter von Mitteleuropa entfernt statt. Die Warnungen vor dem Klimawandel wurden noch nicht durch Ansätze von Entschiedenheit angegangen. Nun haben wir eine Regierung, die zur Zeit ihrer Anfänge durchaus utopische, also positive, Entwicklungen möglich erscheinen ließ. Die wählenden Menschen schienen sich entschieden zu haben, einen Wandel zu ermöglichen. Skeptisch machte mich schon damals die Beteiligung der FDP an dieser Regierung, die für Utopien nicht empfänglich sah. Inzwischen fühle ich mich bestätigt.

Eine so lange Vorrede, um endlich auf ein Buch zu kommen, das noch einigermaßen aktuell den Buchmarkt bereichert. Es geht um „Tausend und ein Morgen“ von Ilija Trojanow.

Endlich, sagte ich, als ich von seinem neuesten Werk hörte, macht sich ein heutiger Autor an eine Utopie heran und geht nicht den Weg des Einfacheren. Des Einfacheren, weil Spannung und Action in einer Dystopie viel näher liegen, als in einer idealen heilen Welt der Utopie.

Trojanow - Tausend und ein Morgen

Vielleicht ist das der Grund, warum Trojanow die Form eines Zeitreiseromans wählte und den Ausgangspunkt der Zeitreisen nicht in einer gegenwärtigen Dystopie, sondern in einer zukünftigen utopischen Welt fand. Die Reiseziele der „Chronautin“ (In der Zukunft des Romans ist das heute so arg diskutierte Gendern kein Thema mehr. Der Plural wird feminin gebildet.) liegen in der Vergangenheit. Und entgegen der in der Filmreihe „Zurück in die Zukunft“ immer wieder propagierten Einsicht, dass man ins Raum-Zeit-Kontinuum nicht eingreifen dürfe, ist es die Aufgabe der Reisenden, in die Vergangenheit einzugreifen und sie früher auf einen besseren Weg zu bringen. Begleitet und beraten werden sie dabei von einer künstlichen Intelligenz namens GOG. Stets nach dem Leitspruch, der Geschichte als das beschreibt, was anders hätte verlaufen müssen. Ein humaner Ansatz, der eine Menge Leid auf dem Weg der Menschen zum Besseren soll.

Leider, das darf hier wohl verraten werden, sind die Reisen ins „Damalsdort“, in verschiedene Epochen unserer Vergangenheit und unserer nahen Zukunft nicht von Erfolg gekrönt. Zu komplex, zu unvorhersehbar ist das Verhalten, sind die Interaktionen der einzelnen Menschen und Gesellschaften, denen die Reisenden bei den Piraten des 18. Jahrhunderts, im revolutionären Russland um 1917/1918, bei den Olympischen Spielen 1984 in Sarajewo und im einem religiös aufgeheizten indischen Metropole treffen. Immerhin können die Chronautin ihre Reisen wiederholen, neue Versuche des Eingriffs in die Entwicklungen unternehmen. Vielleicht irgendwann mit Erfolg.

Selbst die beste aller Welten lässt Trojanow nicht ganz ohne Makel, nicht ganz ohne bedenkliche Entwicklungen sein. Die Verselbstständigung der künstlichen Intelligenz, das Streben Einzelner, die der friedlich heilen, beinahe sektenhaften Gesellschaftsordnung, zu stören oder gar zu zerstören, werfen Schatten.

Es bleibt der Literatur noch viel Arbeit, um weitere, noch bessere Utopien zu entwickeln. Schließlich bedeutet Utopie nicht automatisch, dass das entworfene Gesellschaftsmodell das Ende einer Entwicklung sein muss. Das sollte man den Kritiker/innen einer utopischen Idee immer wieder erklären.

Mit Ilija Trojanow hat sich endlich ein Autor seriös an den Aufbau einer Utopie herangewagt und ist nicht dem so leider überwiegenden Drang verfallen, die dystopischen Verhältnisse unserer Gegenwart weiter zu steigern. Dystopien bieten uns zwar Grusel und Action, sie bieten jedoch kein Bild davon, wie das Ziel einer Politik, eines Zusammenlebens aussehen kann, das sich anzustreben lohnt.
Anders als die Chronautin des Romans kennen wir keine Möglichkeit, in die Vergangenheit einzugreifen, es wenigstens zu versuchen. Selbst die Gegenwart scheint uns täglich die falsche Richtung zu weisen. Länder werden von anderen überfallen, religiöse Konflikte werden zum Terror, die Umwelt, das Klima entgegen aller wissenschaftlicher Einsichten nicht positiv beeinflusst, Demokratien befinden sich unterstützt von Populisten im Modus der Selbstzerstörung.

Ich empfehle das Lesen Ilija Trojanows „Tausend und ein Morgen“ und hänge direkt die Hoffnung daran, dass sich noch viel mehr Autorinnen und Autoren aufgefordert fühlen, an ihren Utopien zu arbeiten, um dem Dystopie-Überschuss endlich etwas entgegenzusetzen.

Ilija Trojanow: Tausend und ein Morgen.

Bei S. Fischer erschienen.




Thomas Meyer – Wolkenbruchs wundersame Reise in die Arme einer Schickse / Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit einer Spionin

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...
Thomas Meyer – Wolkenbruchs wundersame Reise in die Arme einer Schickse / Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit einer Spionin

Motti Wolkenbruchs hat es schwer. Der Sohn jüdischer Eltern soll unbedingt die Frau fürs Leben finden. Das sagt jedenfalls seine Mutter und organisiert eine Frau nach der anderen für ihn. Motti jedoch hat nur Augen für Laura, eine Kommilitonin, auf die auch so manch anderer Mann ein Auge wirft. Motti ignoriert nicht nur die Kuppelversuche seiner Mutter, er verbündet sich auch noch mit einer dieser Damen, um weiteren Eheanbahnungen zu entgehen. Derweil wird Laura für ihn realer und zeigt erstes Interesse. Seine Unschuld verliert Motti allerdings woanders und Laura ist eine Schickse – eine Nichtjüdin, also. Das macht es richtig kompliziert.

Ich habe selten während eines Buches so viel gelacht!

Gleich im Anschluss kann man „Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit einer Spionin“ lesen. Es kann zwar den ersten Hit nicht ganz toppen, ist aber ein kleines Trostpflaster, weil das erste Buch gar allzu schnell zu Ende ist.

Der zweite Band startet mit Mottis Reise nach Israel, nachdem er zuhause als „verlorener Sohn“ gilt. In einem Kibbuz, inmitten von nicht minder schrägen Vögeln als er einer ist, schafft er es, eine Orangenplantage mit außergewöhnlichem Marketing in ungeahnte Höhen zu katapultieren und das Weltjudentum anzuführen. Doch was ist mit den Nazis, die das Internet und eine Hassmaschine erfinden, nachdem auf der ganzen Welt nur noch Shashuka und Hummus gegessen wird und alle Menschen sich mögen und vertragen? Was hat die elektronische Helferin Alexa damit zu tun, warum gibt sie Widerworte und wie verhindert Mottis Mutter den dritten Weltkrieg?

Sehr skurril, sehr böse, sehr lustig! Empfehlung!

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

Für alle hier besprochenen Bücher gilt: Unterstützt möglichst den lokalen Buchhandel!

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Ewald Arenz – Alte Sorten

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...
Ewald Arenz – Alte Sorten

Sally flieht aus einer Klinik, in der sie wegen einer Essstörung eingewiesen wurde. Sie ist dünn wie ein Hering, wütend für Zehn. Sally ist 17 und hat keine Lust auf die Regeln ihrer Eltern, die Enge der Schule, den vorgezeichneten Weg, den andere für sie sehen. Sie ist klug und hat ihren eigenen Kopf. Wenn jemand sich sorgt, ihr die falschen Fragen stellt, geht sie auf die Barrikaden. Auf ihrem Weg über die Dörfer begegnet ihr die Bäuerin Liss. Sie ist eine Pragmatikerin, managt den Hof ganz allein und kann zupacken. Vor allem aber unterscheidet sie sich von den Erwachsenen, die Sally kennt. Sie fordert nichts. Sie bietet an. Sie ist klar, direkt und urteilt nicht. Und sie bietet Sally an, auf dem Hof zu übernachten. Es bleibt nicht nur bei einem Tag. Sally bleibt, auch, nachdem die Polizei bei Liss nach ihr fragt. Auch, nachdem es dann doch ein paar Mal zum Streit kommt. Langsam nähern sich die beiden Frauen einander an und Sally erfährt auch mehr über Liss. Derweil arbeiten sie mit den Händen, bewegen sich in einer Natur, die hält und nährt. Sally kommt – im wahrsten Sinn – auf den Geschmack und beginnt, ihren Körper und sich selbst anders zu begreifen. Doch dann kommt alles doch noch einmal anders.

Schönes, warmes Buch, sehr empathisch und mit einem guten Gespür für junge Menschen. Empfehlung!

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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Katalog

Schwarzweißfotografien von Dirk Jürgensen

Das Cover des Bildbands "Katalog" mit Schwarzweißfotografien von Dirk Jürgensen

Jetzt isser raus, der Katalog! Ich habe mein neues Fotobuch schlicht und einfach Katalog genannt, denn es zeigt eine umfassende – wenngleich natürlich nicht vollständige – Mischung meiner Schwarzweißfotografie vergangener Jahre. Hauptsächlich handelt es sich um Bilder, die grob der Straßenfotografie zuzuordnen sind.

Für 15 Euro kann ab sofort unter der ISBN-13: 9783752640854 überall bestellt werden, wo es Bücher gibt – online, aber viel lieber natürlich im Buchladen Eures Vertrauens. Ein E-Book biete ich auch an.

Die Lieferung kann vorübergehend etwas Zeit in Anspruch nehmen, da der Produzent derzeit Schwierigkeiten in seiner neuen Druckerei ausgemacht hat. Also früh genug an Geburtstage und Weihnachten denken!

Ich hoffe beim bevorstehenden Kunstwalk im Medienhafen (14.5.2023) und erst recht bei Kunst ab Werk auf dem Areal Böhler (3. und 4. Juni) einige Exemplare mitbringen zu können. Ein Ausflug nach Düsseldorf lohnt sich also wieder einmal.

Und übrigens: Sollte mein Katalog den Appetit auf einen FineArtPrint für Eure Wand anregen, schreibt mir eine kurze Nachricht. Ich werde dann prüfen, welche Formate möglich sind und wähle für den individuellen Druck ein edles Papier aus, das eine Qualität hervorbringt, die einen Bildband an Intensität immer schlagen wird.

Dirk Jürgensen

 





Linus Giese – Ich bin Linus

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...

Was für ein tolles, starkes, berührendes und lehrreiches Buch!

Ich habe Linus‘ erstes Coming out als trans Mann damals hier auf Facebook verfolgen können. In seinem Buch schreibt er davon, „wie er der Mann wurde, der er schon immer war“. Auch auf seiner Website Ichbinslinus.de erzählt er über seine Erfahrungen und ist sowohl mit seinem Buch als auch seiner Website ein Rolemodel für alle Männer, denen es ähnlich ging und geht wie ihm.

Linus Giese – Ich bin Linus

Linus ist studierter Germanist und Blogger und arbeitet seit 2017 als Buchhändler in einem Berliner Buchladen. Mit 31 Jahren entschloss er sich endlich als Mann zu leben und einen langen, steinigen Weg auf sich zu nehmen. Dass das nicht leicht ist, kann man sich zwar denken, einigermaßen verstehen kann man es aber erst, wenn man Linus zuhört. Neben Hürden, die bei Behörden, bei ÄrztInnen, am Arbeitsplatz und selbst bei der Post zu meistern sind, weil es dauert, bis der alte Name geändert, der Körper angepasst ist, gibt es Anfeindungen, Ausgrenzung und Unverständnis. Manches ist von grundauf böse, gehässig und menschenverachtend, anderes wird unbedacht, in Unkenntnis geäußert und verletzt deswegen nicht weniger. Denn wir leben in einer patriarchen, binär geprägten Gesellschaft, die ein strenges Denkmodell lebt, in der kaum Platz ist für jene, die sich nicht in die altbekannten Muster einordnen lassen. Hilfe ist für trans Menschen nur bedingt vorhanden, wenn sie gestalkt, verunglimpft und beschimpft, vielleicht sogar körperlich angegangen werden. Verletzungen geschehen nahezu täglich.

Neben den dunklen Seiten gibt es aber auch Licht. Und davon erzählt Linus‘ Buch ebenfalls. Welche Freude und zugleich Angst er empfand, als er sich zum ersten Mal seinen Namen auf einen Kaffeebecher schreiben ließ, welchen großartigen Menschen er begegnet, wie sich sein Körper verwandelt und endlich zu einem wird, in dem er sich wohlfühlt. Wir begleiten ihn in seinem Buch durch Hochs und Tiefs und müssen uns an mancher Stelle selbst an die Nase fassen. Dringende Leseempfehlung!

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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Keigo Higashino – Kleine Wunder um Mitternacht

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...
Keigo Higashino – Kleine Wunder um Mitternacht

Keigo Higashino wurde 1958 in Osaka geboren und hat Elektrotechnik studiert, bevor er eine Tätigkeit als Ingenieur in einem großen japanischen Elektrokonzern begann. Seine Lust am Schreiben entstand durch die Lektüre von Kriminalromanen. Als er endlich 1985 den begehrten Edogawa-Rampo-Preis gewann, entschloss er sich zu einer Karriere als Schriftsteller und gab seinen Vollzeitjob auf. Richtig begkannt wurde er allerdings erst mit „Das Gesetz der Meisterdetektive“. Mit „Geheimnis“, ein Buch, das auch verfilmt wurde, kam der Durchbruch.

Drei Einbrecher müssen sich verstecken und finden Zuflucht in einem verlassenen Gemischtwarenladen. Wie seltsam aber, dass in seinem Briefkasten Post landet. Und da die drei sonst nichts zu tun haben, lesen sie und tun noch mehr. Was sie schließlich herausfinden ist, dass die Zeit innerhalb des Ladens offenbar einen anderen Takt hat, als überall sonst oder ist das nur eine Illusion? Im Zuge der Geschichte wird das Geheimnis entschlüsselt, werden Fäden gesponnen und das Märchen um Keigo Higashinos „Kleine Wunder um Mitternacht“ findet ein Ende.

Ein netter, kleiner, nicht sehr anspruchsvoller, aber unterhaltsamer Roman.

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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Claire Keegan – Small Things Like These

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...

Ein Junge wächst gemeinsam mit seiner ledigen Mutter bei einer Frau auf, die sich wenig um das Getratsche der Nachbarn schert. Die hätten die Gefallene samt Balg verjagt.

Claire Keegan - Small Things Like These

Als Erwachsener liefert er Kohlen an ein Kloster, hinter dessen Wänden junge, schwangere Mädchen Schwerstarbeit verrichten und von den Nonnen gequält werden.

Die Story hätte mehr Tiefe verdient und so eher in einen Band mit Erzählungen gepasst.In der Kürze wirkt sie allerdings banal, bei aller Brisanz des Themas. Denn diese Methoden waren in Klöstern in der Tat üblich, ohne dass die irische Regierung einschritt.

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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Garrett M. Graff – The only plane in the sky

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...

Ufff… „The only plane in the sky“ ist nichts für schwache Nerven.

Garrett M. Graff – The only plane in the sky

Garrett M. Graff holt den Leser mitten hinein in die Ereignisse von 9/11. Wir begegnen in diesem Buch den Menschen, die diesen Tag aus unterschiedlichen Perspektiven erlebt haben und nehmen aus ihren sehr zu Herzen gehenden Erzählungen eine sehr detaillierte Chronologie der Ereignisse mit. Die amerikanische Mentalität wird dabei genauso sichtbar, wie der Schmerz und die immer noch offene Wunde, die weitere Verletzungen an anderer Stelle, in Afghanistan, nach sich gezogen hat. Es erzählen büroangestellte Überlebende aus den beiden Türmen und des Pentagon, Feuerwehrleute, PolizistInnen, ÄrztInnen, LehrerInnen, SchülerInnen, PolitikerInnen und JournalistInnen, die Angehörigen, die Voicemails eben jener, Anrainer an der Absturzstelle von Flug 93, Nachkommen der Getöteten…

Es ist oft erschütternd, bedrückend und berührend, dieses Buch. Ich habe häufig absetzen müssen, da mir bewusst war, dass es sich hier nicht um Fiktion, sondern um schreckliche Wahrheiten handelte. Was Menschen Menschen antun können… !

Empfehlung!

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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Scham in Zeiten von Corona

Kein Klopapierwitz

von Dirk Jürgensen …

Die Flugscham für mich kein Thema
mehr. Weil es kaum noch Flüge gibt. Was mich neuerdings persönlich
emotional sehr berührt, ist meine Klopapierscham.

Papierfabrik - Foto: © Dirk Jürgensen - Düsseldorf

Nicht nur vor, sondern auch während
dieser Seuchenzeit habe ich Toilettenpapier immer erst gekauft, wenn
ein gewisser Meldebestand von drei oder vier Rollen erreicht war.
Früher war das kein Problem. Ich bin einfach in den Discounter
meiner Wahl gegangen, habe ein Paket des übrigens heutzutage gar
nicht mehr kratzigen Papiers mit dem Blauen Umweltengel gegriffen und
bin damit völlig ohne einen Hintergedanken nach Hause spaziert.
Heute ist es so, dass mir, wenn ich meine täglich erforderliche
Fitnessrunde drehe, Leute mit Klopapierpaketen unter dem Arm
auffallen. Gut möglich, dass all die Berichte über Plünderungen
und die hinterher unvermeidlichen Klopapierwitze meine optische
Sensibilität gesteigert haben. Aber die tatsächlich meist leeren
Regale für Hygienezellstoffe können meine Wahrnehmung nur
bestätigen.

Letztens, die Neugier trieb mich dort hin, denn ich war eigentlich auf der Suche nach einem Paket günstiger und dennoch leckerer Vollkornnudeln, wartete nur noch ein einsamer Zweierpack mit dieser ganz teuren, zwischen den 15 Lagen wahrscheinlich mit Watte gepolsterten, edlen Parfümen aufgewertete Ware auf eine am Popo empfindsamen Käuferin oder einen entsprechenden Käufer. Ich wagte zu widerstehen, schließlich war mein Meldebestand noch nicht erreicht. Eine Panik wollte partout nicht aufkommen.

Das ist heute beim Anbrechen der
fünftletzten Rolle anders geworden. Als ehemaliger Handelsschüler
weiß ich, dass der Meldebestand aufgrund längerer Lieferzeiten
durchaus früher als gewohnt eintreffen kann. Was tun? Würde ich
jetzt gegen jede umweltpolitische und preisliche Überzeugung
zugreifen und dieses umweltschädliche, zuerst die Wälder
vernichtende und hinterher den Abfluss verstopfende Zeug nehmen? Oder
werde ich Glück haben und mein Recyclingpapier ergattern können,
weil die Klopapierwitze inzwischen bei jeder Prepperin oder jedem
Prepper angekommen sind oder das Kinderzimmer aufgrund der
Rollenstapell keines mehr ist? Doch gehe ich einmal von diesem
Glücksfall aus, was werden die Leute denken, wenn ich mit meinem
Paket unter dem Arm den Laden verlasse?

»Ach guck mal, Alfred. Da ist wieder
so ein Hamsterer. Der hat sein Lager wohl noch immer nicht voll.«

Ja, die Klopapierscham hat mich
ergriffen. Ich werde wohl jedem Passanten aus sicherer Entfernung
erklären, dass ich die eine gekaufte Packung wirklich für den
sofortigen Anbruch vorgesehen habe. So oder so bleibt die Situation
peinlich. Ich sehne mich nach der Zeit vor Corona zurück. Eine Zeit,
in der mir egal war, was die Leute über mich sagten.

PS: Übrigens erwarte ich nach der Corona-Krise eine neue. Eine ökonomische Schieflage, in die die Papierindustrie geraten wird. Die Hamster haben dafür gesorgt, dass der deutsche Klopapierumsatz in kurzer Zeit um 700% gestiegen ist. Da die aktuelle Seuche keinen signifikanten Einfluss auf den Stoffwechsel hat, wird nicht mehr als vor ihrem Ausbruch geschissen, wird es nach Beendigung der viralen Krise also sehr lange dauern, bis die riesigen Vorräte verbraucht sind. Das bedeutet, wenn es mit der Wirtschaft postcoronal wieder aufwärts geht, werden die Aktien der Toilettenpapierbranche ins Bodenlose fallen.

Ich allein werde diesen Industriezweig mit meiner weiterhin auf den Meldebestand beruhenden Nachfrage kaum retten können und höre schon jetzt den Ruf nach Staatshilfen, schließlich ist die Produktion von Klopapier systemrelevant!

Egal, ob wir uns nach Corona den
dringend notwendigen radikalen Umbau des Kapitalismus vornehmen, oder
nicht. Wir sollten gewarnt sein, denn geschissen wird immer!




Corona, die linke Bazille

Vom Virus lernen

von Dirk Jürgensen …

Ich weiß, diese Überschrift ist
irreführend, denn eine Bazille ist ein Bakterium und weist mit den
Viren keinerlei verwandtschaftliche Beziehung auf. Für den
naturwissenschaftlich falsch verwendeten Begriff bitte ich um
Verzeihung. Aber ich konnte nicht anders, denn er zeigt in eine
Richtung, in die unsere Gedanken während der verordneten Zwangspause
und besonders nach der hoffentlich recht bald überstandenen Pandemie
gehen sollten.

Corona ist ein antikapitalistisches Virus

Dabei ist die Lungenkrankheit Covid-19 beziehungsweise SARS-CoV-2, wie Corona weniger anschmiegsam ebenfalls firmiert, ein völlig Ideologiefreies Wesen. Es hat kein Hirn, es hat keine Zunge die ideologische Leitsprüche formulieren kann. Dennoch lässt es mit beinahe wunderbarer Leichtigkeit die Börsenkurse und Ölpreise sinken, es zeigt, wie wenig rational unser Konsumverhalten gesteuert ist, wie fatal die Gewinnorientierung im Gesundheitswesen ist und dass es jenseits der allgemein duldsam hingenommenen Wachstumsreligion Alternativen geben muss oder gar gibt. Kurz gesagt bringt es vollkommen unmotiviert unser ökonomisches System ins Wanken. Ganz nebenbei besetzt es sogar den lange nur noch von »ewiggestrigen Linken« verwendeten Begriff der Solidarität wieder positiv. Beinahe könnte man also vermuten, Corona sei der potentielle Zünder einer Revolution, wie sie Marx und Engels nicht erträumen konnten.

Manchmal bedarf es eben nur eines
völlig unschuldigen und planlosen Auslösers. Auch der Urknall vor
ungefähr 14 Milliarden Jahren wird nicht zum Ziel gehabt haben, dass
wir uns mindestens alle zwei Jahre ein neues Handy genehmigen können.
Anhand der Opfer weltweit kann man leider nicht von einer friedlichen
Revolution sprechen, denn jedes Todesopfer ist eines zuviel. Dennoch
und gerade angesichts der Be- und Überlastung unserer Sozial- und
Gesundheitssysteme weltweit können wir Menschen Lehren aus der
Pandemie ziehen. Wenn wir es denn wollen. Nur drei mehr oder weniger
bedeutende Beispiele:

Corona versus BWL im Krankenhaus

Vor Corona wurde das deutsche
Gesundheitswesen immer weiter nach betriebswirtschaftlichen Maßstäben
zusammengespart. Auch der heute so gelobte Gesundheitsminister ist
ein Vertreter dieser Marktorientierung. Das Virus hat für ein
hoffentlich nicht nur kurzfristiges Umschwenken gesorgt, denn
Gewinnmaximierung hat im Gesundheissystem nichts zu suchen.
Eventuelle Sparmaßnahmen müssen immer gleichzeitig eine Optimierung
der Versorgung bewirken. Nur dann sind sie sinnvoll. Ebenso darf es
kein Mehrklassensystem in der Gesundheitsversorgung und
Krankenversicherung geben. Die pharmazeutische Industrie muss sich am
Gemeinwohl und nicht am Börsenkurs orientieren. Die medizinische
Versorgung ist zu wichtig, um sie den Mächten des Marktes
auszusetzen. Pflegekräfte müssen ihrer gesellschaftlichen Relevanz
in einer alternden Gesellschaft entsprechend gut bis sehr gut bezahlt
werden. Dass jede Altenpflegerin gesellschaftlich bedeutender als
eine ganze Clique von Börsenmaklern ist, ist schließlich eine
Binsenweisheit. Die aktuell im Netz verabredeten Applausaktionen sind
nett gemeint, helfen jedoch nur, wenn sie ein Zeichen für einen
ausdauernden Sinneswandel sind. Der Bereich der Alten- und
Krankenversorgung muss zum Leuchtturmprojekt für die notwendige
Neuordnung des Wirtschaftssystems werden. Hier wie übermall muss die
Gemeinwohlorientierung als ökonomisches Prinzip vorangestellt
werden. Wachstum ist nur im Sinne eines Zugewinns an Lebensqualität
zu verstehen. Zufriedenheit darf nicht länger als Wachstumsbremse,
sie muss als Abbild von Lebensqualität zum Ziel des Handelns erklärt
werden. Wie gesagt, Corona ist eine im positiven Sinn linke Bazille.
Doch nicht nur das.

Corona ist Klimaaktivist

Ganz nebenbei beweist Corona, dass die
Gesundung des Klimas und das Erreichen der gesteckten Klimaziele
möglich ist, dass es ein grünes Virus ist. Sollte die Pandemie noch
einige Monate andauern, könnte das Jahr 2020 als echtes Jahr des
Fortschritts für die Umwelt in die Geschichte eingehen. Kein
Klimastreik, kein öffentlicher Auftritt Greta Thunbergs, keine
monatelangen Verhandlungen zwischen Klimaaktivistinnen und
Wirtschaftsbossen hätte das jemals erreichen können. So wichtig die
Bewegung der Fridays for Future war und bleiben wird, so beweist erst
die Zeit der Seuche, woran es in der globalen Umweltpolitik hapert.
Es fehlt die Bereitschaft des Menschen, sich in seinem Konsum zu
mäßigen. Plötzlich bleiben die meisten Flugzeuge am Boden,
Urlaubsreisen mit kleinerem CO2-Fußabdruck oder der
Ersatz von Geschäftsreisen durch Vidokonferenzen werden interessant,
der globale Handel mit eher überflüssigen Gütern wird ein bisschen
infrage gestellt, die Vorteile einer lokalen Produktion wichtiger
Güter – Europa ist in diesem Sinne schon als lokal zu betrachten –
werden erkannt. Erst wenn die Pandemie überstanden ist, werden
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre nicht nur negativen
Auswirkungen nachweisen können. Ich bin gespannt, ob wir mit den
Ergebnissen der entsprechenden Untersuchungen etwas anzufangen
wissen.

Corona lässt Blasen platzen

Der Kapitalismus, das wissen wir noch von der Bankenkrise vor ein paar Jahren, neigt zur Bildung von Blasen, die irgendwann platzen. Kommen wir in diesem Zusammenhang zum Fußball und damit zu einem griffigen Sinnbild für eine dieser Blasen, die Corona zum Platzen bringen kann. Der allein von vermeintlich rettungslosen Romantikern gescholtene »moderne« Fußball, so stellen wir gegenwärtig fest, ist auf die Fernsehübertragungen reduziert tatsächlich bedeutungslos. Die ins Aberwitzige gestiegenen Spielergehälter und Ablösesummen werden nicht mehr zu bezahlen sein, wenn die ebenso jedem Vernunftsgedanken widersprechenden Beträge für die Übertragungsrechte ausbleiben. Wie lange es mit der Pandemie noch dauert, ist nicht abzusehen. Abzusehen ist jedoch der mögliche Ablauf einer Katastrophe, wie sie den Romantikern unter uns sogar Hoffnung schenken kann:

Der moderne Fußball im Zeichen von Corona - Foto: © Dirk Jürgensen - Düsseldorf

Die Pandemie verhindert Spiele –
Geisterspiele, also Spiele ohne Publikum in den Stadien, sind
aufgrund fehlender Stimmung weniger attraktiv – Bezahlsender wie
Sky verlieren ohne Fußballübertragung ihren Zweck und damit ihre
Abonnenten – Bezahlsender ohne Abonnenten können nichts mehr für
die Übertragungsrechte bieten – Vereine und Ligen müssen ihre
Etats kürzen – überzogene Ablösesummen werden einfach nicht mehr
gezahlt und die Spielergehälter gleichen sich an – eine Liga wird
ohne Solidarität der Vereine untereinander nicht bestehen können,
da sie ohne Gegner sinnlos ist – reine Kommerzprodukte, die dem
Solidaritätsgedanken widersprechen, dürften ihre Geldgeber
verlieren oder sie gründen eine eigene kleine, vielleicht
internationale Liga – die verbliebenen nationalen Ligen werden
ausgeglichener und damit spannender – die Romantiker haben
gewonnen. Das ist doch utopisch, werden die Anhänger (noch)
finanzkräftiger Vereine einwenden. Ja, das ist es.

Von Corona lernen

So hat mich das Beispiel des ruhenden Fußballs in der Corona-Krise endlich wieder auf das Thema der so notwendigen Utopien zurückgebracht, das mich seit Jahren umtreibt. Es darf natürlich nicht bei diesem Beispiel bleiben, denn Utopien – Modelle für eine bessere Gesellschaft, für ein besseres Wirtschaftssystem, für mehr Zusammenhalt und Toleranz – haben wir in allen Lebensbereichen und Weltgegenden bitter nötig.

Aktuell sollen wir zur Vermeidung
weiterer Ansteckungen möglichst zuhause bleiben. Jenseits der hart
arbeitenden Menschen in den Krankenhäusern, Arztpraxen und
Supermärkten fährt die Gesellschaft um einige Stufen herunter. Die
lange geforderte Entschleunigung ist endlich da. Wer in diesen Tagen
aus dem Fenster blickt, kann aufgrund der freiwilligen oder
erzwungenen Ausgangssperren und des »Social Distancings« selbst in
einer sonst hektischen Großstadt eine zunehmende Gelassenheit
wahrnehmen. Es ist kurzum die beste Zeit, Post-Corona-Utopien zu
entwickeln, die wir möglichst bald unseren politischen
Vertreterinnen und Vertretern beibringen sollten, wenn diese es denn
angesichts des Drucks der Lobbyisten zulassen. Ansonsten müssen wir
also selber ran. Falsch wäre es jedenfalls, nach überstandener
Pandemie in die alten Verhaltensmuster und die von fragwürdigen
Zeitgenossen erzeugten Ängste vor Fremdem und Neuem zurückzufallen.

Nach den Terroranschlägen vom 9. September 2001 hieß es angesichts des großen Entsetzens in wiederkehrender Tonspur, nichts würde mehr so wie vorher sein. Eine Aussage, die schnell zur Plattitüde wurde. Nichts Entscheidendes hat sich seitdem wirklich geändert – zumindest nicht im Positiven. Sollte dieser Spruch nach dem Besiegen des Corona-Erregers wieder im Mediengewirr auftauchen, müssen wir sehr wachsam sein. Corona als Zäsur zu verstehen, wäre ein Zeichen der Hoffnung und des Aufbruchs.




Jürgensen x 3 im Müllerhuus

Die 23. Kunsttage in Ditzum

 von Dirk Jürgensen …

Am letzten Oktoberwochenende ist es wieder soweit. Das kleine Fischerdorf Ditzum am Dollart in Ostfriesland verwandelt sich zum inzwischen 23. Mal ein Kunstdorf. In entspannter Atmosphäre schlendern zahlreiche Kunstinteressierte von Haus zu Haus, denn Privathäuser, Geschäfte, Lokale und sogar die Kirche des Ortes verwandeln sich für zwei Tage in Galerien.

Magnus Jürgensen vor einem seiner Bilder - Foto: © Dirk Jürgensen - Düsseldorf
Magnus Jürgensen vor einem seiner Bilder – Foto: © Dirk Jürgensen – Düsseldorf

Die offizielle Eröffnung der Kunsttage findet am Samstag (26.10.2019) um 12.00 Uhr in der ev.-ref. Kirche in Ditzum statt. Dort wird die Düsseldorfer Kunsthistorikerin Melanie Florin die Besucherinnen und Besucher, die ausstellenden Künstlerinnen und Künstler mit ihrem Vortrag auf ein spannendes Wochenende einstimmen. Um 13 Uhr werden dann, verteilt über das ganze Dorf, 31 ganz unterschiedliche künstlerische Positionen zwischen Malerei, Fotografie skulpturalem Schaffen zu besichtigen – und natürlich auch zu erwerben – sein. Aus den nahen Niederlanden werden in diesem Jahr 19 Kunstschaffende erwartet, die meisten davon sind Mitglieder der »Stichting Beeldend Kunstenaars Aa en Hunze«.

An dieser Stelle sei nicht ganz
uneigennützig auf das hingewiesen, was im Ditzumer »Müllerhuus«
passieren wird:

Nach einem fotografischen Alleingang
Dirk Jürgensens im vergangenen Jahr heißt das Motto 2019 »Jürgensen
x 3«: Maria Jürgensen wird Beispiele ihrer Gemälde, Zeichnungen
und Textgestaltungen, Magnus Jürgensen wird teilweise großformatige
Gemälde und Beispiele seiner Druckgrafik, Dirk Jürgensen
Fotografien aus seiner Serie »30 Sekunden« präsentieren.

Zahlreiche Kontraste, wie auch
überraschende Verbindungen zwischen den Werken sind garantiert.
Ebenso könnte es noch mehr oder weniger spontane Programmpunkte
geben, die das »Müllerhuus« zu einem Fixpunkt auf der Kunstroute
durch Ditzum machen dürften.

Die Türen der Ausstellungen der Ditzumer Kunsttage werden am Samstag (26.10.2019) von 13.00 Uhr bis 18.00 Uhr und am Sonntag (27.10.2019) von 11.00 bis 17.00 Uhr geöffnet sein.

Weitere Informationen finden Sie auf der Hompage der Gemeinde Jemgum, zu der Ditzum gehört.

Wir – Jürgensen x 3 – können
sicher auch im Namen aller anderen Ausstellenden sagen, dass wir uns
schon jetzt sehr über die zahlreichen Gespräche mit
Kunstinteressierten freuen.




Besser leben mit dem Rücken zur Wand

Gedanken über den Rücktritt und
andere Schritte

 von Dirk Jürgensen …

Wer mit dem Rücken zur Wand steht,
kann nicht zurücktreten. Diesen Satz sollten nicht nur
Politikerinnen und Politiker einen Moment wirken lassen.

Denn er ist in seiner bildhaften Bedeutung überraschend richtig, nur verstehen wir ihn in seiner alltäglichen Verwendung anders.

Wer mit dem Rücken zur Wand steht, hat
die wohl sicherste Position inne, muss nicht allein auf sein
Vertrauen bauen.

Wand © Dirk Jürgensen

Wie bitte?

Ich stehe immer hinter dir, kann eine
Drohung sein.

Nur wer mit dem Rücken zur Wand steht,
hat einen Dolch im Rücken nicht zu fürchten. Gefahr kann allein von
vorne kommen. Nicht einmal ein Absturz in hinter uns lauernde
gefährliche Tiefen – nicht Untiefen, schließlich wären diese gar
nicht tief – ist möglich.

Gut, wer mit dem Rücken zur Wand
steht, kann nur die Flucht nach vorne oder zur Seite antreten. Das
mag zunächst ein Nachteil im Sinnes eines gerne im Mittelpunkt
Stehenden sein, der die jederzeit mögliche ausweichende Bewegung in
alle Richtungen als Sinnbild der Freiheit versteht und für den die
Sicht auf die Dinge eine notgedrungen kurzfristige ist. Eine Freiheit
bis zur Beliebigkeit. Das Fähnchen im Wind. Liberal im liberalen
Sinne, ist, in Erinnerung an den großen Loriot, eben nicht nur
liberal. Der Standpunkt in der Mitte ist recht instabil und erfordert
eine immer schneller werdende Rotation. Aus allen Richtungen droht
ein Hinterhalt, und die aus Überforderung wachsende Sehnsucht nach
einer sicheren Wand im Rücken, einem Rückhalt, wird verständlich.

Früher wurden Kinder zur strafenden
Demütigung in die Ecke gestellt. Eine Ecke besteht sogar aus zwei
Wänden. Dabei hat man schon mit dem Gesicht zu nur einer Wand
stehend Freund wie Feind unsichtbar in seinem Rücken – sieht nur
die Wand, die selten transparent oder ein Spiegel ist, spürt
Unsicherheit. Außer ihr hat dieser bedauernswerte Mensch nichts und
niemanden, der sich schützen vor ihm aufstellt. Jeder Schritt zurück
führt tiefer ins Ungewisse, was im vorangestellten Beispiel der
Rohrstock des Lehrers die Häme der ganzen Klasse war.

Ein Zurücktreten wäre mit dem Gesicht
zur Wand zwar möglich, doch an einen Gewinn an Gewissheit, an
Sicherheit und das Verhindern eines für beide Seiten schmerzhaften
Anrempels ist nur nach einer Drehung zu denken. Hoffnung böte
höchstens ein offenes Hintertürchen. Das fehlt meistens. Der
Fortschritt bei einem zur Wand gerichteten Blick bedeutet ohne
vorherige Drehung kostet bestenfalls eine platte Nase. Da ist sie
wieder, die beruhigende Wirkung eines Rückens zur Wand. Wer wünscht
sich schon am Ende seines Lebens, dass die einzige hinterlassene Spur
ein blutiger Abdruck der Nase an einer Wand ist?

Wer mit dem Rücken zur Wand steht,
kann nicht zurücktreten. Und, das möchte ich den letzten
Zweiflerinnen und Zweiflern ans Herz legen, ist wirklich für alle
Seiten von Vorteil. Unsere anonyme Musterperson kann beim Versuch
seines physikalisch eigentlich unmöglichen Rücktritts – also
nicht einmal aus Versehen – niemandem auf die Füße treten.

Wer mit dem Rücken zur Wand steht, hat
die ganz große Zukunft vor sich.

Wer zurücktritt, wer nach hinten
ausweicht, hofft möglichst bald die Wand im Rücken zu spüren, sein
Gesicht weiterhin in Würde zeigen zu können, sein Gesicht nicht zu
verlieren. Wer zurücktritt, hofft damit bestenfalls dem Doch
entgangen zu sein. Julius Cäsar hätte einst wohl besser mit dem
Rücken zur Wand gestanden.




120 Sekunden für eine gemischte Tüte

Ein gelesener Film mit Büdchen

 von Dirk Jürgensen …

Musikvideos gibt es reichlich. Wie sieht das eigentlich mit Lesungsvideos aus? Ich meine damit keine abgefilmten Lesungen mit jeweils einem Glas Wasser vor einem Publikum auf unbequemen Stühlen zwischen den Regalreihen eines Buchladens. Es geht um den Versuch, eine Geschichte aus den gemeinsam mit Maria Jürgensen und Michael Schumacher entstandenen Büdchengeschichten – einem mit einigen Chansons gewürzten literarischen Bühnenprogramm unter dem Titel „Die gemischte Tüte“ – etwas anders als gewohnt zu präsentieren. Die Musik fehlt, dafür sind die Bilder hinzugekommen.

Meine Geschichte der „120 Minuten für eine gemischte Tüte“ wurde von Magnus Jürgensen visualisiert. Man findet ihn, nein, seine Filme unter mjuer.de und anderswo im weltweiten Internet. Projektanfragen können an ihn gerichtet werden.

Das Copyright für den Text, für das gesprochene Wort liegt bei mir, Dirk Jürgensen, das für die Visualisierung bei Magnus Jürgensen. Die Weiterverbreitung sollte also immer mit diesem Hinweis geschehen.




Menschenskind in Ditzum

Bilder, eine Lesung und Musik

– Die anlässlich der 22. Ditzumer Kunsttage im Müllerhuus gezeigte Ausstellung mit Bildern von  Dirk Jürgensen aus der Serie »Meerblick« entstanden an der Ostsee, an der Nordsee, auf Lanzarote und an der Atlantikküste zwischen dem Baskenland und Galicien. Nicht fröhliches Strandleben, sondern die Wucht der Naturgewalt, die metaphorisch auch für die emotionale Bewegung im menschlichen Dasein steht, sind Gegenstand der Betrachtung. So finden sich gleichermaßen ruhige, getragene, nachdenkliche Stimmungen auf den Fotografien wieder, wie auch aufgewühlte, stürmische, fröhliche und bedrohliche. Nicht umsonst gilt das Meer als Allegorie für das Leben und die in ihm verborgenen Sehnsüchte. Menschenskind-DitzumEine zweite Sequenz von verfremdeten Fotografien nennt sich „Seltsame Wesen“, die ohne Verwendung langer Brennweiten, ohne direktes Anvisieren von Menschen am Düsseldorfer Rheinufer, in Parks und Straßen der Stadt entstanden. Menschen wurden aus dem Kontext ihrer Umgebung, die Teil und Bedingung ihres Agierens waren, herausgenommen und stehen in dieser Nicht-Umgebung, ihrer Gesichtszüge beraubt, auf das Wesentliche, das Menschsein reduziert, für sich.

Am Samstag, den 27.10.2018 um 18:00 Uhr greift der Künstler gemeinsam mit zwei Autoren das Thema „Menschenskind“ im Müllerhuus noch einmal auf. Das Trio aus Dirk und Maria Jürgensen und Michael Schumacher liest und singt über all das, was Menschen bewegt. Gewürzt werden Missgeschicke, Begegnungen, Skurrilitäten und Erinnerung mit einer guten Prise Chanson und einer großen Portion Melancholie und Witz.




Eine gemischte Tüte

Geschichten um ein Büdchen

Die Trinkhalle, die Bude, das Späti oder Büdchen, der Kiosk, wie auch immer wir diese Institution einer Großstadt nennen, ist ein Ort, um den sich unzählige Erinnerungen und Geschichten ranken. Einige davon erzählen wir – Michael Schumacher, Maria und Dirk Jürgensen – in unserem neuen Programm. Die Premiere findet am 22. September in Neuss statt.

Eine gemischte Tüte




Alles auf Anfang

  von Maria Jürgensen …

Langsame Menschen folgen ihrem Sarg entlang der von der Sonne beschienenen, schiefen Fachwerkhäuser zum Friedhof in der Neubausiedlung des Dorfes. Der Weg dorthin ist lang. Von den alten Bäumen auf dem Gottesacker ist nur noch eine Weide übrig, die träge ihre Äste in der Julisonne hängen lässt. Regen tut Not. Der Vater steht am Grab und senkt den Kopf und kann gar nicht mehr aufhören zu weinen. Dabei tut er das sonst nie. Der kleine Bruder hat ihren Garten geplündert, sämtliche Blumen enthauptet und ihre Köpfe gemeinsam mit ihr in der Grube versenkt. Die Schwester, nicht mehr jung, aber auch noch nicht alt, steht still in ihr enges, schwarzes Kleid gepresst. Sie umklammert den Brief, den sie zum Abschied geschrieben hat. Mit einem entsetzten Schritt nach vorn lässt sie ihn nach unten stürzen und in der braunen Erde danach dürsten, gelesen zu werden. Augenpaare beobachten die Übriggebliebenen und verbieten sich selbst ihre Neugier und Frage danach, wie sich anfühlt, was sie sehen. Man spricht nicht über das Sterben und schon gar nicht über den Tod. Niemand spricht die Sprache, die benennt, was geschieht. Sie könnte ihn beschwören, herbeirufen und ehe man sich versieht, steht er vor der eigenen Tür.

Käfer © Maria JürgensenManchmal irrt er sich und macht kehrt. Meist betritt er ohne Klopfen das Zimmer. Und dann entschuldigt er sich nicht einmal für das plötzliche Hereinplatzen und die Unhöflichkeit. Der Tod schreitet auf dich zu, umarmt dich, lang und intensiv, bis du außer Atem bist. Oder er nimmt dich kurz und stürmisch, dass du dich ihm widerstandslos hingibst. Er klammert sich an deine Brust, an dein Herz und lässt es nicht mehr los, bis es erstickt vor lauter Liebe. Und dann bist du sein. Auf ewig sein.

Alles hört auf, sagt die Schwester. Von einem Augenblick zum anderen ist nichts mehr, wie es vorher war. Da reißt dir einer ein Stück aus deinem Leben und du weißt gar nicht, wohin du dich zuerst wenden sollst. Nichts ist mehr, wo es vorher war. Niemand kann die Lücke füllen. Aber das ist auch ein schöner Gedanke, sagt der Freund, denn dann weißt du plötzlich, dass jeder auf dieser Erde seinen Platz hat und ihn ausfüllt, was immer er oder sie auch macht. Aber dieser Scheißtod hockt da immer noch herum und winkt Champagner trinkend und selbstzufrieden „von dieser Scheißwolke“, sagt die Schwester und heult. Da hat sie recht, denkt der Freund, „der Typ ist ein verdammtes, egoistisches Arschloch“ und ist froh, dass er ihn nicht besonders gut kennt.

Die Mutter hatte sich verloren in ihrer Liebe zum Tod. Im Dezember hatte er sie aufgesucht, ihr seine Aufwartung gemacht, wie schon einige Jahre zuvor. Damals ließ er sie gehen, hatte sie aber nicht vergessen können, ebenso wenig wie sie ihn. Diesmal wolle er bleiben und sie nicht mehr verlassen, hatte er verkündet und sich in ihrem Dünndarm eingenistet. Sie hatte ihm erklärt, wie schwer es ihr fiele, sich ihm ganz zu überlassen, denn, was solle aus jenen werden, die hier blieben und ohne sie auskommen müssten. Und auch die Hoffnung könne sie nicht ganz aufgeben. Da nahm er immer nur ein Stück von ihr mit sich fort. Zuerst die Freude, dann den Mut, dann die Kraft, die Stimme, den Gang, die Schrift, den Hunger, die Zeit, bis sie bereit für ihn war. Sie sah ihn nach der Operation im Spiegel des Badezimmers. Durch den Schlauch ihres Katheders floss die Hoffnung gallig, grün aus ihr hinaus.

Nun stehen sie am Rand und warten, dass sich der Abgrund wieder schließt. Langsame Hände ziehen sie millimeterweise von ihm weg, versinken lieber gemeinsam mit ihnen in Erinnerungen. Sie sehen Kommunionsschleifen im Haar und Kleider aus Papier, weil das Geld zu knapp für Textiles war. Sie erzählen von Besäufnissen auf Hochzeiten und Dorffesten und haben nur Gutes zu berichten, nur Gutes. Brote werden geschmiert, Kuchenstücke gereicht. Die Sprache ist zurück, der Tod glotzt mit glasigen Feieraugen von seiner Wolke und schmollt. Der Vater, der Bruder, die Schwester, der Freund schwimmen in den Bächen der Stimmen, die sich im Raum des Klosters beim Leichenschmaus verteilen und lassen sich von ihren Wellen tragen. Hier ist alles so wie immer. Irgendwo in den Fensterscheiben spiegelt sich ein Ich und pustet einen Wind vor Erleichterung, doch nicht mutterseelenallein zu sein. Ich bin ein Stückchen zurück in der Welt.

Lupinenfeld © Maria JürgensenWas war übrig, hatte sich die Schwester, die Tochter ihrer Mutter war, gefragt, als sie im Krankenhaus neben der Toten gesessen hatte. Die lag kahlköpfig, steinern, mit ineinander verkanteten, bläulich angelaufenen Fingern auf dem Bett. In ihrem Bauch rumorte es, als arbeite der Tod noch die lebendigen Reste auf, die er noch nicht erreicht und für sich vereinnahmt hatte und wolle bei seinem bisherigen Rhythmus bleiben. Er nahm sich alles, Stück für Stück für Stück für Stück. Hier lag ein Körper, unbeseelt und nackt, der am Tag zuvor noch gedacht, gefühlt und mit fremden Ton gesprochen hatte. Was ist übrig?

Am Tag nach der Beerdigung steht die Schwester unter der Dusche, schrubbt ihren Schopf und spürt der Katastrophe nach, die sich wie ein Schleier über ihre Vergangenheit legt. Aus der Unschuld des Kindes wird die Schuld der Tochter. Sie fragt sich, woran oder womit sie sich schuldig gemacht hat und weiß keine Antwort. Aber bestraft fühlt sie sich, vom Dach gestoßen, im Flug befindlich, wie der Brief, der ungelesen im Grab versinkt. Es bleibt wohl immer Unausgesprochenes, denkt sie und reibt sich die Schenkel trocken.

Die Lücke ist eine Wunde, die schmerzt und immer wieder aufreißt, kaum, dass sie verheilt ist. Manchmal überfällt es die Schwester und gewesene Tochter während der Fahrt zur Arbeit, wenn sie in die Landschaft sieht, aufs Feld, auf dem ihre Mutter als Bäuerin säte und erntete. Dann bricht das Sehnen aus ihr heraus und sie vermisst es, Kind zu sein, geborgen im Schoß dieser Frau. Dann hat sie frisch gewaschenes Haar und gemähte Wiese in der Nase. Es kann immer alles passieren, weiß sie nun. Alles steht auf Anfang.


© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.