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Thomas Meyer – Wolkenbruchs wundersame Reise in die Arme einer Schickse / Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit einer Spionin

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...
Thomas Meyer – Wolkenbruchs wundersame Reise in die Arme einer Schickse / Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit einer Spionin

Motti Wolkenbruchs hat es schwer. Der Sohn jüdischer Eltern soll unbedingt die Frau fürs Leben finden. Das sagt jedenfalls seine Mutter und organisiert eine Frau nach der anderen für ihn. Motti jedoch hat nur Augen für Laura, eine Kommilitonin, auf die auch so manch anderer Mann ein Auge wirft. Motti ignoriert nicht nur die Kuppelversuche seiner Mutter, er verbündet sich auch noch mit einer dieser Damen, um weiteren Eheanbahnungen zu entgehen. Derweil wird Laura für ihn realer und zeigt erstes Interesse. Seine Unschuld verliert Motti allerdings woanders und Laura ist eine Schickse – eine Nichtjüdin, also. Das macht es richtig kompliziert.

Ich habe selten während eines Buches so viel gelacht!

Gleich im Anschluss kann man „Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit einer Spionin“ lesen. Es kann zwar den ersten Hit nicht ganz toppen, ist aber ein kleines Trostpflaster, weil das erste Buch gar allzu schnell zu Ende ist.

Der zweite Band startet mit Mottis Reise nach Israel, nachdem er zuhause als „verlorener Sohn“ gilt. In einem Kibbuz, inmitten von nicht minder schrägen Vögeln als er einer ist, schafft er es, eine Orangenplantage mit außergewöhnlichem Marketing in ungeahnte Höhen zu katapultieren und das Weltjudentum anzuführen. Doch was ist mit den Nazis, die das Internet und eine Hassmaschine erfinden, nachdem auf der ganzen Welt nur noch Shashuka und Hummus gegessen wird und alle Menschen sich mögen und vertragen? Was hat die elektronische Helferin Alexa damit zu tun, warum gibt sie Widerworte und wie verhindert Mottis Mutter den dritten Weltkrieg?

Sehr skurril, sehr böse, sehr lustig! Empfehlung!

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

Für alle hier besprochenen Bücher gilt: Unterstützt möglichst den lokalen Buchhandel!

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Katalog

Schwarzweißfotografien von Dirk Jürgensen

Das Cover des Bildbands "Katalog" mit Schwarzweißfotografien von Dirk Jürgensen

Jetzt isser raus, der Katalog! Ich habe mein neues Fotobuch schlicht und einfach Katalog genannt, denn es zeigt eine umfassende – wenngleich natürlich nicht vollständige – Mischung meiner Schwarzweißfotografie vergangener Jahre. Hauptsächlich handelt es sich um Bilder, die grob der Straßenfotografie zuzuordnen sind.

Für 15 Euro kann ab sofort unter der ISBN-13: 9783752640854 überall bestellt werden, wo es Bücher gibt – online, aber viel lieber natürlich im Buchladen Eures Vertrauens. Ein E-Book biete ich auch an.

Die Lieferung kann vorübergehend etwas Zeit in Anspruch nehmen, da der Produzent derzeit Schwierigkeiten in seiner neuen Druckerei ausgemacht hat. Also früh genug an Geburtstage und Weihnachten denken!

Ich hoffe beim bevorstehenden Kunstwalk im Medienhafen (14.5.2023) und erst recht bei Kunst ab Werk auf dem Areal Böhler (3. und 4. Juni) einige Exemplare mitbringen zu können. Ein Ausflug nach Düsseldorf lohnt sich also wieder einmal.

Und übrigens: Sollte mein Katalog den Appetit auf einen FineArtPrint für Eure Wand anregen, schreibt mir eine kurze Nachricht. Ich werde dann prüfen, welche Formate möglich sind und wähle für den individuellen Druck ein edles Papier aus, das eine Qualität hervorbringt, die einen Bildband an Intensität immer schlagen wird.

Dirk Jürgensen

 





Katharina Adler – Iglhaut

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...
Katharina Adler – Iglhaut

Katharina Adlers Iglhaut wohnt zur Miete und arbeitet selbstständig als eigenwillige Schreinerin. Sie trinkt gerne Cocktails mit Whiskey und muss unbedingt zum Zahnarzt. Aber das Geld ist verdammt knapp. Ihre Nachbarschaft ist so skurril wie die von ihr restaurierten Heiligenfiguren. In Beziehungsfragen wird‘s, als sie dann so richtig Zahnschmerzen bekommt, noch turbulenter als bisher. Aus den Angelegenheiten ihrer NachbarInnen kann sie sich nur sehr schwer heraushalten, zumal die dünnen Wände und Decken das auch gar nicht erlauben und sie in ihrer Werkstatt im Hinterhof schnell Ansprechpartnerin für alle wird. Beständigkeit ist nicht gerade ihre Natur und ihre Laune nicht immer die beste. Sie ist eine raue Natur und sehnt sich nach ein bisschen Ruhe. Doch die gibt es nicht mal im Urlaub.

Netter, kleiner Roman. Macht Spaß.

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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Keigo Higashino – Kleine Wunder um Mitternacht

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...
Keigo Higashino – Kleine Wunder um Mitternacht

Keigo Higashino wurde 1958 in Osaka geboren und hat Elektrotechnik studiert, bevor er eine Tätigkeit als Ingenieur in einem großen japanischen Elektrokonzern begann. Seine Lust am Schreiben entstand durch die Lektüre von Kriminalromanen. Als er endlich 1985 den begehrten Edogawa-Rampo-Preis gewann, entschloss er sich zu einer Karriere als Schriftsteller und gab seinen Vollzeitjob auf. Richtig begkannt wurde er allerdings erst mit „Das Gesetz der Meisterdetektive“. Mit „Geheimnis“, ein Buch, das auch verfilmt wurde, kam der Durchbruch.

Drei Einbrecher müssen sich verstecken und finden Zuflucht in einem verlassenen Gemischtwarenladen. Wie seltsam aber, dass in seinem Briefkasten Post landet. Und da die drei sonst nichts zu tun haben, lesen sie und tun noch mehr. Was sie schließlich herausfinden ist, dass die Zeit innerhalb des Ladens offenbar einen anderen Takt hat, als überall sonst oder ist das nur eine Illusion? Im Zuge der Geschichte wird das Geheimnis entschlüsselt, werden Fäden gesponnen und das Märchen um Keigo Higashinos „Kleine Wunder um Mitternacht“ findet ein Ende.

Ein netter, kleiner, nicht sehr anspruchsvoller, aber unterhaltsamer Roman.

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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Daniel Schreiber – Allein

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...

Ich habe bereits Daniel Schreibers Biographie über Sontag und sein Essay „Zuhause“ sehr geliebt. Auch dieses Buch von Daniel Schreiber mit dem Titel „Allein“ hat mir sehr gefallen.

Daniel Schreiber – Allein

Wie lebt man als queerer Mann allein in einer Gesellschaft, die auf das Ideal der heterosexuellen, konditionierten Zweisamkeit mit ein bis drei Kindern getrimmt ist und traditionell binäre soziale Modelle bevorzugt? Wie einsam ist man mitten in der Pandemie, einer Zeit in der Schwebe? Was macht uns aus? Muss Leben Sinn haben oder lebt es sich auch ganz gut ohne? Haben Stricken, Häkeln und Gärtnern therapeutischen Wert?

Viele Menschen leben allein, freiwillig oder gezwungener Maßen. Was manchmal Freiheit und Selbstbestimmtheit sein kann, löst zu anderer Zeit einen unstillbar erscheinenden emotionalen Hunger aus, verursacht seelischen Schmerz. Alleinsein ist schambesetzt. Menschen, die alleine leben, fühlen sich oft, als scheiterten sie, weil sie die Gesellschaftsideale nicht erfüllen können oder wollen. Alleinsein wird als Indiz für die eigene Unbedeutsamkeit und fehlende Attraktivität wahrgenommen. Und doch: Alleinleben ist eine Lebensform unter vielen möglichen Optionen. Sich völlig abzuschotten jedoch, macht krank. Menschen sind soziale Wesen, spiegeln und erfahren sich in Anderen, was nicht gegen das Alleinleben spricht. Freundschaften spielen eine wesentliche Rolle bei der Ausrichtung, nicht nur des Lebens als Single. Sie können je nach Konstrukt zu unverbindlich und fragil sein, um Halt und soziale Orientierung zu geben oder sinnstiftend, tröstend und gemeinschaftsbildend wirken.

Schreiber bemüht eigene Erfahrungen und Lektüren, zitiert PhilosophInnen und SoziologInnen, um all die Fragen rund um das Alleinsein, die Einsamkeit, die Liebe, Familie und Freundschaft zu beleuchten. Er laviert sicher, sehr persönlich und offen durch die Minenfelder der Emotionen, Theorien und Erlebnisse, beschreibt Sehnsüchte und Enttäuschungen. Wir haben Teil auch an der Hoffnung, an der Entwicklung hin zu selbstwirksamen Methoden und Erkenntnissen, die uns zeigen, wie ein Leben, mit all seinen Unwägbarkeiten allein oder zu mehreren geführt werden kann und darf.

Daumen hoch! Dicke Empfehlung!

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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Scham in Zeiten von Corona

Kein Klopapierwitz

von Dirk Jürgensen …

Die Flugscham für mich kein Thema
mehr. Weil es kaum noch Flüge gibt. Was mich neuerdings persönlich
emotional sehr berührt, ist meine Klopapierscham.

Papierfabrik - Foto: © Dirk Jürgensen - Düsseldorf

Nicht nur vor, sondern auch während
dieser Seuchenzeit habe ich Toilettenpapier immer erst gekauft, wenn
ein gewisser Meldebestand von drei oder vier Rollen erreicht war.
Früher war das kein Problem. Ich bin einfach in den Discounter
meiner Wahl gegangen, habe ein Paket des übrigens heutzutage gar
nicht mehr kratzigen Papiers mit dem Blauen Umweltengel gegriffen und
bin damit völlig ohne einen Hintergedanken nach Hause spaziert.
Heute ist es so, dass mir, wenn ich meine täglich erforderliche
Fitnessrunde drehe, Leute mit Klopapierpaketen unter dem Arm
auffallen. Gut möglich, dass all die Berichte über Plünderungen
und die hinterher unvermeidlichen Klopapierwitze meine optische
Sensibilität gesteigert haben. Aber die tatsächlich meist leeren
Regale für Hygienezellstoffe können meine Wahrnehmung nur
bestätigen.

Letztens, die Neugier trieb mich dort hin, denn ich war eigentlich auf der Suche nach einem Paket günstiger und dennoch leckerer Vollkornnudeln, wartete nur noch ein einsamer Zweierpack mit dieser ganz teuren, zwischen den 15 Lagen wahrscheinlich mit Watte gepolsterten, edlen Parfümen aufgewertete Ware auf eine am Popo empfindsamen Käuferin oder einen entsprechenden Käufer. Ich wagte zu widerstehen, schließlich war mein Meldebestand noch nicht erreicht. Eine Panik wollte partout nicht aufkommen.

Das ist heute beim Anbrechen der
fünftletzten Rolle anders geworden. Als ehemaliger Handelsschüler
weiß ich, dass der Meldebestand aufgrund längerer Lieferzeiten
durchaus früher als gewohnt eintreffen kann. Was tun? Würde ich
jetzt gegen jede umweltpolitische und preisliche Überzeugung
zugreifen und dieses umweltschädliche, zuerst die Wälder
vernichtende und hinterher den Abfluss verstopfende Zeug nehmen? Oder
werde ich Glück haben und mein Recyclingpapier ergattern können,
weil die Klopapierwitze inzwischen bei jeder Prepperin oder jedem
Prepper angekommen sind oder das Kinderzimmer aufgrund der
Rollenstapell keines mehr ist? Doch gehe ich einmal von diesem
Glücksfall aus, was werden die Leute denken, wenn ich mit meinem
Paket unter dem Arm den Laden verlasse?

»Ach guck mal, Alfred. Da ist wieder
so ein Hamsterer. Der hat sein Lager wohl noch immer nicht voll.«

Ja, die Klopapierscham hat mich
ergriffen. Ich werde wohl jedem Passanten aus sicherer Entfernung
erklären, dass ich die eine gekaufte Packung wirklich für den
sofortigen Anbruch vorgesehen habe. So oder so bleibt die Situation
peinlich. Ich sehne mich nach der Zeit vor Corona zurück. Eine Zeit,
in der mir egal war, was die Leute über mich sagten.

PS: Übrigens erwarte ich nach der Corona-Krise eine neue. Eine ökonomische Schieflage, in die die Papierindustrie geraten wird. Die Hamster haben dafür gesorgt, dass der deutsche Klopapierumsatz in kurzer Zeit um 700% gestiegen ist. Da die aktuelle Seuche keinen signifikanten Einfluss auf den Stoffwechsel hat, wird nicht mehr als vor ihrem Ausbruch geschissen, wird es nach Beendigung der viralen Krise also sehr lange dauern, bis die riesigen Vorräte verbraucht sind. Das bedeutet, wenn es mit der Wirtschaft postcoronal wieder aufwärts geht, werden die Aktien der Toilettenpapierbranche ins Bodenlose fallen.

Ich allein werde diesen Industriezweig mit meiner weiterhin auf den Meldebestand beruhenden Nachfrage kaum retten können und höre schon jetzt den Ruf nach Staatshilfen, schließlich ist die Produktion von Klopapier systemrelevant!

Egal, ob wir uns nach Corona den
dringend notwendigen radikalen Umbau des Kapitalismus vornehmen, oder
nicht. Wir sollten gewarnt sein, denn geschissen wird immer!




Corona, die linke Bazille

Vom Virus lernen

von Dirk Jürgensen …

Ich weiß, diese Überschrift ist
irreführend, denn eine Bazille ist ein Bakterium und weist mit den
Viren keinerlei verwandtschaftliche Beziehung auf. Für den
naturwissenschaftlich falsch verwendeten Begriff bitte ich um
Verzeihung. Aber ich konnte nicht anders, denn er zeigt in eine
Richtung, in die unsere Gedanken während der verordneten Zwangspause
und besonders nach der hoffentlich recht bald überstandenen Pandemie
gehen sollten.

Corona ist ein antikapitalistisches Virus

Dabei ist die Lungenkrankheit Covid-19 beziehungsweise SARS-CoV-2, wie Corona weniger anschmiegsam ebenfalls firmiert, ein völlig Ideologiefreies Wesen. Es hat kein Hirn, es hat keine Zunge die ideologische Leitsprüche formulieren kann. Dennoch lässt es mit beinahe wunderbarer Leichtigkeit die Börsenkurse und Ölpreise sinken, es zeigt, wie wenig rational unser Konsumverhalten gesteuert ist, wie fatal die Gewinnorientierung im Gesundheitswesen ist und dass es jenseits der allgemein duldsam hingenommenen Wachstumsreligion Alternativen geben muss oder gar gibt. Kurz gesagt bringt es vollkommen unmotiviert unser ökonomisches System ins Wanken. Ganz nebenbei besetzt es sogar den lange nur noch von »ewiggestrigen Linken« verwendeten Begriff der Solidarität wieder positiv. Beinahe könnte man also vermuten, Corona sei der potentielle Zünder einer Revolution, wie sie Marx und Engels nicht erträumen konnten.

Manchmal bedarf es eben nur eines
völlig unschuldigen und planlosen Auslösers. Auch der Urknall vor
ungefähr 14 Milliarden Jahren wird nicht zum Ziel gehabt haben, dass
wir uns mindestens alle zwei Jahre ein neues Handy genehmigen können.
Anhand der Opfer weltweit kann man leider nicht von einer friedlichen
Revolution sprechen, denn jedes Todesopfer ist eines zuviel. Dennoch
und gerade angesichts der Be- und Überlastung unserer Sozial- und
Gesundheitssysteme weltweit können wir Menschen Lehren aus der
Pandemie ziehen. Wenn wir es denn wollen. Nur drei mehr oder weniger
bedeutende Beispiele:

Corona versus BWL im Krankenhaus

Vor Corona wurde das deutsche
Gesundheitswesen immer weiter nach betriebswirtschaftlichen Maßstäben
zusammengespart. Auch der heute so gelobte Gesundheitsminister ist
ein Vertreter dieser Marktorientierung. Das Virus hat für ein
hoffentlich nicht nur kurzfristiges Umschwenken gesorgt, denn
Gewinnmaximierung hat im Gesundheissystem nichts zu suchen.
Eventuelle Sparmaßnahmen müssen immer gleichzeitig eine Optimierung
der Versorgung bewirken. Nur dann sind sie sinnvoll. Ebenso darf es
kein Mehrklassensystem in der Gesundheitsversorgung und
Krankenversicherung geben. Die pharmazeutische Industrie muss sich am
Gemeinwohl und nicht am Börsenkurs orientieren. Die medizinische
Versorgung ist zu wichtig, um sie den Mächten des Marktes
auszusetzen. Pflegekräfte müssen ihrer gesellschaftlichen Relevanz
in einer alternden Gesellschaft entsprechend gut bis sehr gut bezahlt
werden. Dass jede Altenpflegerin gesellschaftlich bedeutender als
eine ganze Clique von Börsenmaklern ist, ist schließlich eine
Binsenweisheit. Die aktuell im Netz verabredeten Applausaktionen sind
nett gemeint, helfen jedoch nur, wenn sie ein Zeichen für einen
ausdauernden Sinneswandel sind. Der Bereich der Alten- und
Krankenversorgung muss zum Leuchtturmprojekt für die notwendige
Neuordnung des Wirtschaftssystems werden. Hier wie übermall muss die
Gemeinwohlorientierung als ökonomisches Prinzip vorangestellt
werden. Wachstum ist nur im Sinne eines Zugewinns an Lebensqualität
zu verstehen. Zufriedenheit darf nicht länger als Wachstumsbremse,
sie muss als Abbild von Lebensqualität zum Ziel des Handelns erklärt
werden. Wie gesagt, Corona ist eine im positiven Sinn linke Bazille.
Doch nicht nur das.

Corona ist Klimaaktivist

Ganz nebenbei beweist Corona, dass die
Gesundung des Klimas und das Erreichen der gesteckten Klimaziele
möglich ist, dass es ein grünes Virus ist. Sollte die Pandemie noch
einige Monate andauern, könnte das Jahr 2020 als echtes Jahr des
Fortschritts für die Umwelt in die Geschichte eingehen. Kein
Klimastreik, kein öffentlicher Auftritt Greta Thunbergs, keine
monatelangen Verhandlungen zwischen Klimaaktivistinnen und
Wirtschaftsbossen hätte das jemals erreichen können. So wichtig die
Bewegung der Fridays for Future war und bleiben wird, so beweist erst
die Zeit der Seuche, woran es in der globalen Umweltpolitik hapert.
Es fehlt die Bereitschaft des Menschen, sich in seinem Konsum zu
mäßigen. Plötzlich bleiben die meisten Flugzeuge am Boden,
Urlaubsreisen mit kleinerem CO2-Fußabdruck oder der
Ersatz von Geschäftsreisen durch Vidokonferenzen werden interessant,
der globale Handel mit eher überflüssigen Gütern wird ein bisschen
infrage gestellt, die Vorteile einer lokalen Produktion wichtiger
Güter – Europa ist in diesem Sinne schon als lokal zu betrachten –
werden erkannt. Erst wenn die Pandemie überstanden ist, werden
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre nicht nur negativen
Auswirkungen nachweisen können. Ich bin gespannt, ob wir mit den
Ergebnissen der entsprechenden Untersuchungen etwas anzufangen
wissen.

Corona lässt Blasen platzen

Der Kapitalismus, das wissen wir noch von der Bankenkrise vor ein paar Jahren, neigt zur Bildung von Blasen, die irgendwann platzen. Kommen wir in diesem Zusammenhang zum Fußball und damit zu einem griffigen Sinnbild für eine dieser Blasen, die Corona zum Platzen bringen kann. Der allein von vermeintlich rettungslosen Romantikern gescholtene »moderne« Fußball, so stellen wir gegenwärtig fest, ist auf die Fernsehübertragungen reduziert tatsächlich bedeutungslos. Die ins Aberwitzige gestiegenen Spielergehälter und Ablösesummen werden nicht mehr zu bezahlen sein, wenn die ebenso jedem Vernunftsgedanken widersprechenden Beträge für die Übertragungsrechte ausbleiben. Wie lange es mit der Pandemie noch dauert, ist nicht abzusehen. Abzusehen ist jedoch der mögliche Ablauf einer Katastrophe, wie sie den Romantikern unter uns sogar Hoffnung schenken kann:

Der moderne Fußball im Zeichen von Corona - Foto: © Dirk Jürgensen - Düsseldorf

Die Pandemie verhindert Spiele –
Geisterspiele, also Spiele ohne Publikum in den Stadien, sind
aufgrund fehlender Stimmung weniger attraktiv – Bezahlsender wie
Sky verlieren ohne Fußballübertragung ihren Zweck und damit ihre
Abonnenten – Bezahlsender ohne Abonnenten können nichts mehr für
die Übertragungsrechte bieten – Vereine und Ligen müssen ihre
Etats kürzen – überzogene Ablösesummen werden einfach nicht mehr
gezahlt und die Spielergehälter gleichen sich an – eine Liga wird
ohne Solidarität der Vereine untereinander nicht bestehen können,
da sie ohne Gegner sinnlos ist – reine Kommerzprodukte, die dem
Solidaritätsgedanken widersprechen, dürften ihre Geldgeber
verlieren oder sie gründen eine eigene kleine, vielleicht
internationale Liga – die verbliebenen nationalen Ligen werden
ausgeglichener und damit spannender – die Romantiker haben
gewonnen. Das ist doch utopisch, werden die Anhänger (noch)
finanzkräftiger Vereine einwenden. Ja, das ist es.

Von Corona lernen

So hat mich das Beispiel des ruhenden Fußballs in der Corona-Krise endlich wieder auf das Thema der so notwendigen Utopien zurückgebracht, das mich seit Jahren umtreibt. Es darf natürlich nicht bei diesem Beispiel bleiben, denn Utopien – Modelle für eine bessere Gesellschaft, für ein besseres Wirtschaftssystem, für mehr Zusammenhalt und Toleranz – haben wir in allen Lebensbereichen und Weltgegenden bitter nötig.

Aktuell sollen wir zur Vermeidung
weiterer Ansteckungen möglichst zuhause bleiben. Jenseits der hart
arbeitenden Menschen in den Krankenhäusern, Arztpraxen und
Supermärkten fährt die Gesellschaft um einige Stufen herunter. Die
lange geforderte Entschleunigung ist endlich da. Wer in diesen Tagen
aus dem Fenster blickt, kann aufgrund der freiwilligen oder
erzwungenen Ausgangssperren und des »Social Distancings« selbst in
einer sonst hektischen Großstadt eine zunehmende Gelassenheit
wahrnehmen. Es ist kurzum die beste Zeit, Post-Corona-Utopien zu
entwickeln, die wir möglichst bald unseren politischen
Vertreterinnen und Vertretern beibringen sollten, wenn diese es denn
angesichts des Drucks der Lobbyisten zulassen. Ansonsten müssen wir
also selber ran. Falsch wäre es jedenfalls, nach überstandener
Pandemie in die alten Verhaltensmuster und die von fragwürdigen
Zeitgenossen erzeugten Ängste vor Fremdem und Neuem zurückzufallen.

Nach den Terroranschlägen vom 9. September 2001 hieß es angesichts des großen Entsetzens in wiederkehrender Tonspur, nichts würde mehr so wie vorher sein. Eine Aussage, die schnell zur Plattitüde wurde. Nichts Entscheidendes hat sich seitdem wirklich geändert – zumindest nicht im Positiven. Sollte dieser Spruch nach dem Besiegen des Corona-Erregers wieder im Mediengewirr auftauchen, müssen wir sehr wachsam sein. Corona als Zäsur zu verstehen, wäre ein Zeichen der Hoffnung und des Aufbruchs.




Jürgensen x 3 im Müllerhuus

Die 23. Kunsttage in Ditzum

 von Dirk Jürgensen …

Am letzten Oktoberwochenende ist es wieder soweit. Das kleine Fischerdorf Ditzum am Dollart in Ostfriesland verwandelt sich zum inzwischen 23. Mal ein Kunstdorf. In entspannter Atmosphäre schlendern zahlreiche Kunstinteressierte von Haus zu Haus, denn Privathäuser, Geschäfte, Lokale und sogar die Kirche des Ortes verwandeln sich für zwei Tage in Galerien.

Magnus Jürgensen vor einem seiner Bilder - Foto: © Dirk Jürgensen - Düsseldorf
Magnus Jürgensen vor einem seiner Bilder – Foto: © Dirk Jürgensen – Düsseldorf

Die offizielle Eröffnung der Kunsttage findet am Samstag (26.10.2019) um 12.00 Uhr in der ev.-ref. Kirche in Ditzum statt. Dort wird die Düsseldorfer Kunsthistorikerin Melanie Florin die Besucherinnen und Besucher, die ausstellenden Künstlerinnen und Künstler mit ihrem Vortrag auf ein spannendes Wochenende einstimmen. Um 13 Uhr werden dann, verteilt über das ganze Dorf, 31 ganz unterschiedliche künstlerische Positionen zwischen Malerei, Fotografie skulpturalem Schaffen zu besichtigen – und natürlich auch zu erwerben – sein. Aus den nahen Niederlanden werden in diesem Jahr 19 Kunstschaffende erwartet, die meisten davon sind Mitglieder der »Stichting Beeldend Kunstenaars Aa en Hunze«.

An dieser Stelle sei nicht ganz
uneigennützig auf das hingewiesen, was im Ditzumer »Müllerhuus«
passieren wird:

Nach einem fotografischen Alleingang
Dirk Jürgensens im vergangenen Jahr heißt das Motto 2019 »Jürgensen
x 3«: Maria Jürgensen wird Beispiele ihrer Gemälde, Zeichnungen
und Textgestaltungen, Magnus Jürgensen wird teilweise großformatige
Gemälde und Beispiele seiner Druckgrafik, Dirk Jürgensen
Fotografien aus seiner Serie »30 Sekunden« präsentieren.

Zahlreiche Kontraste, wie auch
überraschende Verbindungen zwischen den Werken sind garantiert.
Ebenso könnte es noch mehr oder weniger spontane Programmpunkte
geben, die das »Müllerhuus« zu einem Fixpunkt auf der Kunstroute
durch Ditzum machen dürften.

Die Türen der Ausstellungen der Ditzumer Kunsttage werden am Samstag (26.10.2019) von 13.00 Uhr bis 18.00 Uhr und am Sonntag (27.10.2019) von 11.00 bis 17.00 Uhr geöffnet sein.

Weitere Informationen finden Sie auf der Hompage der Gemeinde Jemgum, zu der Ditzum gehört.

Wir – Jürgensen x 3 – können
sicher auch im Namen aller anderen Ausstellenden sagen, dass wir uns
schon jetzt sehr über die zahlreichen Gespräche mit
Kunstinteressierten freuen.




Besser leben mit dem Rücken zur Wand

Gedanken über den Rücktritt und
andere Schritte

 von Dirk Jürgensen …

Wer mit dem Rücken zur Wand steht,
kann nicht zurücktreten. Diesen Satz sollten nicht nur
Politikerinnen und Politiker einen Moment wirken lassen.

Denn er ist in seiner bildhaften Bedeutung überraschend richtig, nur verstehen wir ihn in seiner alltäglichen Verwendung anders.

Wer mit dem Rücken zur Wand steht, hat
die wohl sicherste Position inne, muss nicht allein auf sein
Vertrauen bauen.

Wand © Dirk Jürgensen

Wie bitte?

Ich stehe immer hinter dir, kann eine
Drohung sein.

Nur wer mit dem Rücken zur Wand steht,
hat einen Dolch im Rücken nicht zu fürchten. Gefahr kann allein von
vorne kommen. Nicht einmal ein Absturz in hinter uns lauernde
gefährliche Tiefen – nicht Untiefen, schließlich wären diese gar
nicht tief – ist möglich.

Gut, wer mit dem Rücken zur Wand
steht, kann nur die Flucht nach vorne oder zur Seite antreten. Das
mag zunächst ein Nachteil im Sinnes eines gerne im Mittelpunkt
Stehenden sein, der die jederzeit mögliche ausweichende Bewegung in
alle Richtungen als Sinnbild der Freiheit versteht und für den die
Sicht auf die Dinge eine notgedrungen kurzfristige ist. Eine Freiheit
bis zur Beliebigkeit. Das Fähnchen im Wind. Liberal im liberalen
Sinne, ist, in Erinnerung an den großen Loriot, eben nicht nur
liberal. Der Standpunkt in der Mitte ist recht instabil und erfordert
eine immer schneller werdende Rotation. Aus allen Richtungen droht
ein Hinterhalt, und die aus Überforderung wachsende Sehnsucht nach
einer sicheren Wand im Rücken, einem Rückhalt, wird verständlich.

Früher wurden Kinder zur strafenden
Demütigung in die Ecke gestellt. Eine Ecke besteht sogar aus zwei
Wänden. Dabei hat man schon mit dem Gesicht zu nur einer Wand
stehend Freund wie Feind unsichtbar in seinem Rücken – sieht nur
die Wand, die selten transparent oder ein Spiegel ist, spürt
Unsicherheit. Außer ihr hat dieser bedauernswerte Mensch nichts und
niemanden, der sich schützen vor ihm aufstellt. Jeder Schritt zurück
führt tiefer ins Ungewisse, was im vorangestellten Beispiel der
Rohrstock des Lehrers die Häme der ganzen Klasse war.

Ein Zurücktreten wäre mit dem Gesicht
zur Wand zwar möglich, doch an einen Gewinn an Gewissheit, an
Sicherheit und das Verhindern eines für beide Seiten schmerzhaften
Anrempels ist nur nach einer Drehung zu denken. Hoffnung böte
höchstens ein offenes Hintertürchen. Das fehlt meistens. Der
Fortschritt bei einem zur Wand gerichteten Blick bedeutet ohne
vorherige Drehung kostet bestenfalls eine platte Nase. Da ist sie
wieder, die beruhigende Wirkung eines Rückens zur Wand. Wer wünscht
sich schon am Ende seines Lebens, dass die einzige hinterlassene Spur
ein blutiger Abdruck der Nase an einer Wand ist?

Wer mit dem Rücken zur Wand steht,
kann nicht zurücktreten. Und, das möchte ich den letzten
Zweiflerinnen und Zweiflern ans Herz legen, ist wirklich für alle
Seiten von Vorteil. Unsere anonyme Musterperson kann beim Versuch
seines physikalisch eigentlich unmöglichen Rücktritts – also
nicht einmal aus Versehen – niemandem auf die Füße treten.

Wer mit dem Rücken zur Wand steht, hat
die ganz große Zukunft vor sich.

Wer zurücktritt, wer nach hinten
ausweicht, hofft möglichst bald die Wand im Rücken zu spüren, sein
Gesicht weiterhin in Würde zeigen zu können, sein Gesicht nicht zu
verlieren. Wer zurücktritt, hofft damit bestenfalls dem Doch
entgangen zu sein. Julius Cäsar hätte einst wohl besser mit dem
Rücken zur Wand gestanden.




120 Sekunden für eine gemischte Tüte

Ein gelesener Film mit Büdchen

 von Dirk Jürgensen …

Musikvideos gibt es reichlich. Wie sieht das eigentlich mit Lesungsvideos aus? Ich meine damit keine abgefilmten Lesungen mit jeweils einem Glas Wasser vor einem Publikum auf unbequemen Stühlen zwischen den Regalreihen eines Buchladens. Es geht um den Versuch, eine Geschichte aus den gemeinsam mit Maria Jürgensen und Michael Schumacher entstandenen Büdchengeschichten – einem mit einigen Chansons gewürzten literarischen Bühnenprogramm unter dem Titel „Die gemischte Tüte“ – etwas anders als gewohnt zu präsentieren. Die Musik fehlt, dafür sind die Bilder hinzugekommen.

Meine Geschichte der „120 Minuten für eine gemischte Tüte“ wurde von Magnus Jürgensen visualisiert. Man findet ihn, nein, seine Filme unter mjuer.de und anderswo im weltweiten Internet. Projektanfragen können an ihn gerichtet werden.

Das Copyright für den Text, für das gesprochene Wort liegt bei mir, Dirk Jürgensen, das für die Visualisierung bei Magnus Jürgensen. Die Weiterverbreitung sollte also immer mit diesem Hinweis geschehen.




Menschenskind in Ditzum

Bilder, eine Lesung und Musik

– Die anlässlich der 22. Ditzumer Kunsttage im Müllerhuus gezeigte Ausstellung mit Bildern von  Dirk Jürgensen aus der Serie »Meerblick« entstanden an der Ostsee, an der Nordsee, auf Lanzarote und an der Atlantikküste zwischen dem Baskenland und Galicien. Nicht fröhliches Strandleben, sondern die Wucht der Naturgewalt, die metaphorisch auch für die emotionale Bewegung im menschlichen Dasein steht, sind Gegenstand der Betrachtung. So finden sich gleichermaßen ruhige, getragene, nachdenkliche Stimmungen auf den Fotografien wieder, wie auch aufgewühlte, stürmische, fröhliche und bedrohliche. Nicht umsonst gilt das Meer als Allegorie für das Leben und die in ihm verborgenen Sehnsüchte. Menschenskind-DitzumEine zweite Sequenz von verfremdeten Fotografien nennt sich „Seltsame Wesen“, die ohne Verwendung langer Brennweiten, ohne direktes Anvisieren von Menschen am Düsseldorfer Rheinufer, in Parks und Straßen der Stadt entstanden. Menschen wurden aus dem Kontext ihrer Umgebung, die Teil und Bedingung ihres Agierens waren, herausgenommen und stehen in dieser Nicht-Umgebung, ihrer Gesichtszüge beraubt, auf das Wesentliche, das Menschsein reduziert, für sich.

Am Samstag, den 27.10.2018 um 18:00 Uhr greift der Künstler gemeinsam mit zwei Autoren das Thema „Menschenskind“ im Müllerhuus noch einmal auf. Das Trio aus Dirk und Maria Jürgensen und Michael Schumacher liest und singt über all das, was Menschen bewegt. Gewürzt werden Missgeschicke, Begegnungen, Skurrilitäten und Erinnerung mit einer guten Prise Chanson und einer großen Portion Melancholie und Witz.




Eine gemischte Tüte

Geschichten um ein Büdchen

Die Trinkhalle, die Bude, das Späti oder Büdchen, der Kiosk, wie auch immer wir diese Institution einer Großstadt nennen, ist ein Ort, um den sich unzählige Erinnerungen und Geschichten ranken. Einige davon erzählen wir – Michael Schumacher, Maria und Dirk Jürgensen – in unserem neuen Programm. Die Premiere findet am 22. September in Neuss statt.

Eine gemischte Tüte




Der Markt ist definierter als der Verstand

Vom Komparativ der Gangstas

 von Dirk Jürgensen …

Es kann gut sein, dass ich aufgrund altersbedingter Schwerhörigkeit den Bang nicht gehört habe und mich auf diesem Wege im erweiterten Kollegahskreis erkundigen muss. Aber wozu soll das Internet denn sonst gut sein?

Sprache verändert sich. Auch und gerade auf der Straße, in der Hood eben. Wo eine Frau heute als Bitch bezeichnet wird, wurde sie einst nur leicht abgeschwächt sexistisch Keule oder Alte genannt. Bemerkte man in ihrem Umfeld einen neuen Freund, handelte es sich um ihren aktuellen Stecher, obwohl man gar nicht einschätzen konnte, ob dieser zu seinen vermuteten koitalen Fähigkeiten keine weitere aufweisen konnte. Ja, Sprache verändert sich, wird verändert und das Verständnis hinkt hinterher. Nicht nur im Milieu der Karussellbremser.

So spüre ich nicht erst seit dem großen Presseecho auf die bekannte Preisverleihung bei einem bestimmten Wort Unverständnis. Sprache verändert sich und Worte erhalten neue Bedeutungen. Normal. Das ist so, seit – so lautet meine aus wissenschaftlicher Luft gegriffene Vermutung – seit die erste aufrecht gehende Frau das Bedürfnis äußerte, mit ihrem männlichen Mitbewohner des Baumes oder der Höhle sprechen zu müssen. Heute arbeiten die Medien, die Politik, die Werbung, die Kunst gemeinsam mit der Jugend an der Veränderung unserer internationalen Sprachen und an der Neudefinition von Begriffen.

Neudefinition, Definition, definieren. Da haben wir ihn, den Begriff, den ich bis in der jüngeren Vergangenheit stets mit recht großer Sicherheit begreifen, definieren konnte. Das ist nun nicht mehr so.

Bislang war ich mit diesen erfolgreichen Erklärungen sehr zufrieden, die so ähnlich bei Wikipedia nachzulesen sind:

Eine Definition (lateinisch definitio »Abgrenzung«, aus de »(von etw.) herab / weg« und finis »Grenze«) ist je nach der Lehre, der hierbei gefolgt wird, entweder

  1. die Bestimmung des Wesens einer zu erklärenden Sache,
  2. die Bestimmung eines Begriffs,
  3. die Feststellung eines tatsächlich geübten Sprachgebrauchs, also wie ein Wort oder Begriff zu verstehen ist oder
  4. die Festsetzung oder Vereinbarung eines solchen in der Sprachwissenschaft,
  5. als Legaldefinition die Bestimmung eines Rechtsbegriffs in der Rechtswissenschaft.

Die in dieser Erklärung fehlende Neudefinition der »Definition« ist mir vor einiger Zeit in einem Werbespot aufgefallen, als es um eine vermutlich einzigartige Wimperntusche ging, von der behauptet wurde, dass sie die Wimpern der Zielgruppe definieren könne. Nicht betonen, besonders hervorheben, schöner machen, nein »definieren« soll das Zeug. Der Wimperntusche wurde von den Werbetätigen also eine linguistische oder juristische Unterscheidungsfähigkeit zugesprochen.

Ich denke, die kosmetische Farbe mag noch so hochwertige Inhaltsstoffe aufweisen und Schönheitswunder vollbringen, aber an dieser Stelle geht es wohl doch zu weit. Denn weder erklärt mir dieses Produkt das Wesen der Wimpern als solche oder was Wimpern im allgemeinen Sprachgebrauch beschreiben, noch hilft sie dem um Gerechtigkeit ringenden Richter bei einer sachgerechten Entscheidung.

So habe ich mich anlässlich dieses Textes zu einer weiteren Recherche verführen lassen. Wie ich dabei erfahren konnte, ist besonders in den einschlägigen Muckibuden der Republik davon die Rede, man müsse seinen Körper oder zumindest spezielle Muskeln und Muskelpartien »definieren«. Unbedarft, wie ich nun einmal bin, wollte ich total vergreister Gestriger schon den sich an den dortigen Folterinstrumenten Gefesselten gerne empfehlen, sich nicht dieser körperlichen Quälerei auszusetzen, sondern einen kleinen Ausflug in die Stadtbücherei zu wagen. Dort könne man sich ein einigermaßen populärwissenschaftliches Werk ausleihen, das die Leserin und den Leser in die Welt der Anatomie geleitet. Und das zu einem Preis, bei dem kein Fitnessabo standhalten könnte. In derartigen Büchern würde der Bizeps als Skelettmuskel des Oberarms und der Schließmuskel des Popos als Ringmuskel defininiert. Ganz ohne Schweiß. Vermutlich könnte beim Überfliegen der Einleitung bereits der ganze menschliche Körper definiert werden. Vielleicht in dieser Art:

Der (menschliche oder auch tierische) Körper ist die materielle Einheit, die Masse eines Lebewesens, in dem sich alle Knochen, Organe usw. befinden.

Definitionen bedürfen also eher geistigen als körperlichen Trainings und ein somit definierter Körper benötigt zur Untermauerung ihrer Abgrenzung von anderen Dingen keine Eiweißzufuhr. Man kann die Quantität und Qualität des Trainings definieren. Man kann den Körper als muskulös oder schwammig definieren, doch allein die Aussage, ein Körper, ein Muskel oder ein Wimpernhaar sei definiert, sagt überhaupt nichts aus. Ihr sollte bei Interesse immer die Frage folgen, als was dieses Objekt der Definition definiert ist. Auch kann man das Wort „Definition“ niemals im Komparativ gebrauchen. Etwas kann definiert werden, jedoch niemals definierter sein als. Oder neuerdings doch?

Sicher haben Sie längst bemerkt, worauf mein Beitrag hinaus möchte und Sie werden sagen, dass ich anhand meiner Rechercheergebnisse durchaus selber feststellen könnte, was ein selbsterkorenener Gangstarapper in seinem gelebten Traum, als echter Gangster im Knast zu sitzen oder bei einer Schießerein unter Gleichgesinnten ums Leben zu kommen, damit ausdrücken möchte, wenn er seinen Körper für definierter als den eines Opfers des Naziterrors (seines Opfers?) hält. Er hält ihn in erschreckender Banalität für durchtrainierter. Das ist ebenso doof wie respektlos. Und hätte es in meiner Jugend bereits die Variante dieser eher bildungsfernen Kunstrichtung des Sprechgesangs gegeben, wäre der Sixpack unter der Goldkette des Rappers wohl mit dem aufgedunsenen Bauch eines in Biafra verhungernden Kindes in Konkurrenz getreten. Beide Vergleiche sind gleichermaßen geschmacklos, menschenverachtend, frei von jeder Empathie, auf den bloßen Skandal aus und vor lauter Dummheit strotzend hemmungslos.

Die Frage ist natürlich, ob die auch noch mit einem Musikpreis ausgezeichneten Gangstas tatsächlich so bildungsfern sind, wie sie sich geben, oder ob sie in Wirklichkeit mit Intelligenz und Absicht ihre Botschaften in die Hirne ihrer kritiklosen Jünger setzen, die der Einfachheit halber Provokation für Revolte halten und faschistoide bis faschistische Parolen als vollkommen normal empfinden / begreifen / definieren.

Bei genauerer Überlegung ist es übrigens nichts Besonderes und der vor Kraft fast platzenden Ausdrucksweise der Rapper nicht gerecht werdend, seinen vom Wohlstand geprägten Körper für schöner oder irgendwie besser als den eines Verhungernden zu halten. Eine besondere Leistung, auf die man stolz sein kann, steckt ganz sicher nicht dahinter. Ganz im Gegenteil, sie ist lächerlich.

Es ist jedoch verharmlosend, die verwendeten Rhymes als bloße Hülsen, als sinnentleerte Sprüche anzusehen, die erst dann beängstigend wirken, wenn man sie zu definieren versucht. Sie sind allein schon daher beängstigend, weil sie nicht einmal Ironie beinhalten, ihre Autoren und Interpreten an keiner Stelle zur Selbstironie fähig sind, sie leichtfertig oder absichtlich Abgrenzung legitimieren. Zudem in einem Kontext, der vor antisemitischen Plattitüden und Parolen, Sexismus, Schwulenhetze, Gewaltphantasien und Entmenschlichung nicht zurückschreckt.

Der schlimmste Horror ist, dass all das auch noch marktkonform ist. Es findet Kunden, generiert Millionenumsätze und sichert damit den monetären Erfolg. Das suggeriert Qualität, wo keine ist. Kein anderes Ziel als die Unterstützung des jeweiligen Marktwertes und ökonomischen Erfolgs hat der Echo. Um diese Form der kapitalistisch orientierten Schwarmdummheit also im Komperativ der prämierten Gangstas auszudrücken:

Der Markt ist definierter als der Verstand.




Zurück zum Eisbein?

Wieviel Deutschland gehört zu Deutschland?

 von Dirk Jürgensen …

Angst vor dem Minarett?

»Alle Religionen seindt gleich und guht, wan nuhr die Leute, so sie profesieren, erliche Leute seindt, und wen Türken und Heiden kähmen und wolten das Land pöbplieren, so wollen wier sie Mosqueen und Kirchen bauen.«

Der Fußball gehört nicht zu Deutschland, der ist in England zuhaus.

Die Gotik gehört nicht zu Deutschland, sie ist in Frankreich entstanden.

Die Nudel gehört nicht zu Deutschland, vielleicht noch nicht einmal zu Italien, denn sie wurde in China erfunden.

Die Kartoffel, das weiß jeder, gehört keinesfalls zu Deutschland, denn die kommt aus Südamerika.

Der Wein gehört auch nicht zu Deutschland, der stammt aus dem Kaukasus.

Das Christentum gehört nicht zu Deutschland, das entwickelte sich aus dem Judentum im römisch beherrschten Israel.

Der Mensch gehört nicht zu Deutschland, der kommt aus Afrika. Es könnte sogar sein, dass nicht einmal die Bayern nicht zu Bayern gehören, denn die stammen vermutlich von den Elbgermanen ab. Die lebten vorher entlang der Elbe bis hinunter nach Böhmen und Mähren. Da wird also ein gehöriger Anteil auch nicht zu Deutschland gehören.

Ja, wieviel Deutschland gehört eigentlich zu Deutschland? Wollen wir angesichts dieser »Problematik« in letzter Konsequenz wirklich auf Sushi, Döner und Pizza verzichten und wieder regelmäßig zum Eisbein greifen – ohne zu wissen, ob das Spenderschwein überhaupt aus Deutschland stammt?

Immer, wenn wir etwas genauer hinschauen, gehört kaum etwas zu Deutschland, das sich heute in innerhalb der Landesgrenzen befindet. Aber trotz dieser Zugehörigkeitsverwirrung gibt es dieses Land noch und es leben Menschen darin. Manche sogar einigermaßen gerne und ohne ständing danach gefragt zu werden, ob sie dazugehören, dazugehören wollen oder nicht. Dabei ist es ganz einfach:

Wenn auch nur einer der hier Lebenden an die Wiederauferstehung des Großen Kürbisses glaubt, dann gehört auch sein Glaube zu Deutschland, wie auch der Spott der Übrigen dazugehört.

Große Geister der Geschichte, Kunst und Technik gehören zu Deutschland, wie ein schreckliches historisches Erbe mit seinem vegetarischen Despoten, eine Reihe kaum verständlicher Dialekte und Sprachen, eine Zeit des Friedens und der Aussöhnung mit den ehemaligen Feinden zu Deutschland gehört. German Angst, german Zuverlässigkeit, made in germany und leider – ich sage das nur schweren Herzens – gehört sogar Pegida zu Deutschland.

Sicher würden wir uns freuen, wenn nur positive, jedem Einzelnen genehme Dinge zu Deutschland gehörten, aber das kriegen wir doch nicht einmal mit unseren ganz eigenen, persönlichen Eigenschaften zwischen Fett- und Magersucht hin. Wie soll das denn mit Deutschland klappen?

Im Geiste der Aufklärung und Toleranz waren wir schon einmal viel weiter, als es unser aus seiner eigenen Heimat Bayern vertriebene Heimatminister Seehofer vermuten lässt.So wurde in Preußen einst die Frage aufgeworfen, ob römisch-katholische Schulen aufgrund ihrer Unverträglichkeit abgeschafft werden sollten. Die dazugehörige Eingabe kommentierte Friedrich der Große:

»Die Religionen Müsen alle Tolleriret werden und Mus der Fiscal nuhr das Auge darauf haben, das keine der andern abrug Tuhe, den hier mus ein jeder nach seiner Fasson Selich werden.«

Ob es nun richtig war und ist, als Staat überhaupt religiös ausgerichtete Schulen und eine derart seltsame Orthographie zu dulden, sei dahingestellt, aber dieser Grundsatz der Toleranz, nach dem »jeder nach seiner Fasson glücklich« werden soll, bietet uns eine angenehm allgemeinverständliche Kurzfassung des kathegorischen Imperativ Kants, dessen Ethik ganz sicher zu Deutschland gehört. Und als im Jahr 1740 auch noch Vertreter der Stadt Frankfurt am Main in Potsdam anfragten, ob denn gar ein Katholik in einer evangelischen Stadt Bürgerrechte erhalten dürfe, erhielten sie vom Alten Fritz die passende und von großer Entspanntheit geprägte Antwort:

»Alle Religionen seindt gleich und guht, wan nuhr die Leute, so sie profesieren (= ausüben), erliche Leute seindt, und wen Türken und Heiden kähmen und wolten das Land pöbplieren (= bevölkern), so wollen wier sie Mosqueen und Kirchen bauen.«

Bekanntlich war Friedrich der Große Preuße. Ist es damit logisch, dass eine derart fortschrittliche Einstellung auch heute noch nicht zu Bayern gehört? Zu Deutschland – zum von den Deutschen bei jeder Gelegenheit so gern herbeizitierten »gesunden Menschenverstand« – sollte sie jedoch unbedingt gehören. Aber gehört Bayern – siehe oben – zu Deutschland? Es kommt immer drauf an.

Ich habe übrigens in meiner Heimatstadt Düsseldorf noch niemanden fragen hören, ob denn der Buddhismus und der in Japan hauptsächlich ausgeübte Shintoismus zu Düsseldorf gehören. Hoffentlich liegt es nicht allein daran, dass die hier lebenden Japaner – die sogar immer wieder mit Stolz als Bereicherung der Landeshauptstadt erwähnt werden – einfach nur viel wohlhabender sind, als die meisten zugereisten Moslems. An der engen Verbindung des Shintoismus zum ultrarechten Nationalismus Japans, der viele seiner Anhänger noch immer die »Heldentaten« aus dem Zweiten Weltkrieg verherrlichen lässt, liegt es wohl nicht. Geld, ja diese Religion gehört zu Deutschland.

Eine Placebodiskussion

Doch genug davon. Ich tappe selber immer wieder in diese Falle, obwohl ich mir darin sicher bin: Wir sollten uns besser darüber klar werden, dass dieses ständige Fragen danach, ob irgendwelche Dinge, Glaubensrichtungen, Ideen oder sexuelle Praktiken zu Deutschland gehören, nur dazu da ist, Placeboprobleme zu schaffen, die von der Behebung tatsächlicher Missstände ablenken. Wer sich mit der Diskussion darüber, ob der Islam zu Deutschland gehört, die Zeit vertreibt, wird in all der Ausgrenzung von Realität kaum noch in der Lage sein, unsere sterbenden Sozialsysteme zu reformieren, sie zu neuem Leben zu erwecken.
Erst wenn alle etwas von ihnen haben und nicht nur Versicherungen und deren Anteilseigner, wenn beispielsweise ein Gesundheitsminister Spahn seine Politik nicht nach seinen gewinnorientierten Freunden in der Lobby ausrichtet, wenn Konzerne sich über Steuerzahlungen am Gemeinwohl beteiligen, haben wir in Deutschland endlich mehr Kraft und Muße, unsere Toleranz und die Integration von Minderheiten und schweigenden oder schimpfenden gefühlen wie tatsächlichen Mehrheiten in ein solidarisches Leben etwas intensiver zu pflegen. Denn sie gehört zu Deutschland, weil ich es so will, weil ich zu Deutschland gehöre, obwohl es mir manchmal verdammt schwerfällt.




Alles auf Anfang

  von Maria Jürgensen …

Langsame Menschen folgen ihrem Sarg entlang der von der Sonne beschienenen, schiefen Fachwerkhäuser zum Friedhof in der Neubausiedlung des Dorfes. Der Weg dorthin ist lang. Von den alten Bäumen auf dem Gottesacker ist nur noch eine Weide übrig, die träge ihre Äste in der Julisonne hängen lässt. Regen tut Not. Der Vater steht am Grab und senkt den Kopf und kann gar nicht mehr aufhören zu weinen. Dabei tut er das sonst nie. Der kleine Bruder hat ihren Garten geplündert, sämtliche Blumen enthauptet und ihre Köpfe gemeinsam mit ihr in der Grube versenkt. Die Schwester, nicht mehr jung, aber auch noch nicht alt, steht still in ihr enges, schwarzes Kleid gepresst. Sie umklammert den Brief, den sie zum Abschied geschrieben hat. Mit einem entsetzten Schritt nach vorn lässt sie ihn nach unten stürzen und in der braunen Erde danach dürsten, gelesen zu werden. Augenpaare beobachten die Übriggebliebenen und verbieten sich selbst ihre Neugier und Frage danach, wie sich anfühlt, was sie sehen. Man spricht nicht über das Sterben und schon gar nicht über den Tod. Niemand spricht die Sprache, die benennt, was geschieht. Sie könnte ihn beschwören, herbeirufen und ehe man sich versieht, steht er vor der eigenen Tür.

Käfer © Maria JürgensenManchmal irrt er sich und macht kehrt. Meist betritt er ohne Klopfen das Zimmer. Und dann entschuldigt er sich nicht einmal für das plötzliche Hereinplatzen und die Unhöflichkeit. Der Tod schreitet auf dich zu, umarmt dich, lang und intensiv, bis du außer Atem bist. Oder er nimmt dich kurz und stürmisch, dass du dich ihm widerstandslos hingibst. Er klammert sich an deine Brust, an dein Herz und lässt es nicht mehr los, bis es erstickt vor lauter Liebe. Und dann bist du sein. Auf ewig sein.

Alles hört auf, sagt die Schwester. Von einem Augenblick zum anderen ist nichts mehr, wie es vorher war. Da reißt dir einer ein Stück aus deinem Leben und du weißt gar nicht, wohin du dich zuerst wenden sollst. Nichts ist mehr, wo es vorher war. Niemand kann die Lücke füllen. Aber das ist auch ein schöner Gedanke, sagt der Freund, denn dann weißt du plötzlich, dass jeder auf dieser Erde seinen Platz hat und ihn ausfüllt, was immer er oder sie auch macht. Aber dieser Scheißtod hockt da immer noch herum und winkt Champagner trinkend und selbstzufrieden „von dieser Scheißwolke“, sagt die Schwester und heult. Da hat sie recht, denkt der Freund, „der Typ ist ein verdammtes, egoistisches Arschloch“ und ist froh, dass er ihn nicht besonders gut kennt.

Die Mutter hatte sich verloren in ihrer Liebe zum Tod. Im Dezember hatte er sie aufgesucht, ihr seine Aufwartung gemacht, wie schon einige Jahre zuvor. Damals ließ er sie gehen, hatte sie aber nicht vergessen können, ebenso wenig wie sie ihn. Diesmal wolle er bleiben und sie nicht mehr verlassen, hatte er verkündet und sich in ihrem Dünndarm eingenistet. Sie hatte ihm erklärt, wie schwer es ihr fiele, sich ihm ganz zu überlassen, denn, was solle aus jenen werden, die hier blieben und ohne sie auskommen müssten. Und auch die Hoffnung könne sie nicht ganz aufgeben. Da nahm er immer nur ein Stück von ihr mit sich fort. Zuerst die Freude, dann den Mut, dann die Kraft, die Stimme, den Gang, die Schrift, den Hunger, die Zeit, bis sie bereit für ihn war. Sie sah ihn nach der Operation im Spiegel des Badezimmers. Durch den Schlauch ihres Katheders floss die Hoffnung gallig, grün aus ihr hinaus.

Nun stehen sie am Rand und warten, dass sich der Abgrund wieder schließt. Langsame Hände ziehen sie millimeterweise von ihm weg, versinken lieber gemeinsam mit ihnen in Erinnerungen. Sie sehen Kommunionsschleifen im Haar und Kleider aus Papier, weil das Geld zu knapp für Textiles war. Sie erzählen von Besäufnissen auf Hochzeiten und Dorffesten und haben nur Gutes zu berichten, nur Gutes. Brote werden geschmiert, Kuchenstücke gereicht. Die Sprache ist zurück, der Tod glotzt mit glasigen Feieraugen von seiner Wolke und schmollt. Der Vater, der Bruder, die Schwester, der Freund schwimmen in den Bächen der Stimmen, die sich im Raum des Klosters beim Leichenschmaus verteilen und lassen sich von ihren Wellen tragen. Hier ist alles so wie immer. Irgendwo in den Fensterscheiben spiegelt sich ein Ich und pustet einen Wind vor Erleichterung, doch nicht mutterseelenallein zu sein. Ich bin ein Stückchen zurück in der Welt.

Lupinenfeld © Maria JürgensenWas war übrig, hatte sich die Schwester, die Tochter ihrer Mutter war, gefragt, als sie im Krankenhaus neben der Toten gesessen hatte. Die lag kahlköpfig, steinern, mit ineinander verkanteten, bläulich angelaufenen Fingern auf dem Bett. In ihrem Bauch rumorte es, als arbeite der Tod noch die lebendigen Reste auf, die er noch nicht erreicht und für sich vereinnahmt hatte und wolle bei seinem bisherigen Rhythmus bleiben. Er nahm sich alles, Stück für Stück für Stück für Stück. Hier lag ein Körper, unbeseelt und nackt, der am Tag zuvor noch gedacht, gefühlt und mit fremden Ton gesprochen hatte. Was ist übrig?

Am Tag nach der Beerdigung steht die Schwester unter der Dusche, schrubbt ihren Schopf und spürt der Katastrophe nach, die sich wie ein Schleier über ihre Vergangenheit legt. Aus der Unschuld des Kindes wird die Schuld der Tochter. Sie fragt sich, woran oder womit sie sich schuldig gemacht hat und weiß keine Antwort. Aber bestraft fühlt sie sich, vom Dach gestoßen, im Flug befindlich, wie der Brief, der ungelesen im Grab versinkt. Es bleibt wohl immer Unausgesprochenes, denkt sie und reibt sich die Schenkel trocken.

Die Lücke ist eine Wunde, die schmerzt und immer wieder aufreißt, kaum, dass sie verheilt ist. Manchmal überfällt es die Schwester und gewesene Tochter während der Fahrt zur Arbeit, wenn sie in die Landschaft sieht, aufs Feld, auf dem ihre Mutter als Bäuerin säte und erntete. Dann bricht das Sehnen aus ihr heraus und sie vermisst es, Kind zu sein, geborgen im Schoß dieser Frau. Dann hat sie frisch gewaschenes Haar und gemähte Wiese in der Nase. Es kann immer alles passieren, weiß sie nun. Alles steht auf Anfang.


© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.




Menschenskind

 von Maria Jürgensen …

Jeder gesunde Mensch erzähle sich die Geschichte seines Lebens selbst, doziert der Mann im weißen Kittel und Thijs Vanderbeke bemüht sich darum, ihn wiederzuerkennen. Vertraulichkeit. Seinen Blickkontakt suchen. Aufmunterndes Nicken. Er pocht mit dem Kugelschreiber auf den Schreibtisch und Thijs folgt seinem Rhythmus. Denk.Nach. Denk.Nach.Denk.Nach.

Der Arzt erläutert, der Faden zu seiner Geschichte sei lediglich gerissen und es gelte, die einzelnen Versatzstücke wieder miteinander zu verknoten. Das brauche Zeit und Geduld. Immerhin seien Teile seines alten Lebens in seiner Erinnerung vorhanden und er habe nicht alles verloren. „Es gibt viel Anlass zur Hoffnung, Herr Vanderbeke,“ betont er, „Sie werden bald wieder segeln, um die Welt reisen und Ihre Reportagen schreiben können.“ Kursverlust. Eine gerissene, alte, undichte Maschine, die sich nicht mehr zusammenhalten lässt, das ist er. Schraube locker. Jemand hat auf eine Taste gedrückt und das Band angehalten.

Ein Boot segelt übers Wasser. Jemand lässt ein Lot hinunter. Schwärze. Früher. Jetzt. Helene. Später. Alles eins. Man weiß, wer man ist, wenn man darüber nachdenken kann. Denk.Nach.Denk.Nach. Hände schütteln. Wie hieß er doch gleich?

Vrouwenpolder © Jürgensen - DüsseldorfEr bewegt sich nicht. Blut läuft aus seiner Nase. Am neunten Juni Zweitausendsechzehn wird Thijs Vanderbeke, jemand, der weiß, wo es langgeht, mit einer Gehirnerschütterung in ein Krankenhaus in Panama eingeliefert. Der unerschütterliche Fels in der Brandung ist auf einen unerschütterlichen Fels in der Brandung getroffen. Ein weiches Gesicht mit großen, graugrünen Augen sieht ihn besorgt an, als er nach dem Unfall in einem breiten, drahtig knirschenden Bett erwacht. Vier Wochen Schwarz. Jeder Tag ist ein neuer Tag, an dem er sich nicht mehr an den vorherigen erinnern kann. Helene. Sie streichelt seine Stirn und seine Hände. Er fragt sie nach dem Aufwachen, ob sie wisse, was mit seinem Auto passiert und ob er Schuld am Unfall gewesen sei. „Segelboot“, antwortete sie nur, „es war dein Segelboot, Schatz.“ Schatz, denkt er. Einmal hat der Arzt den Versuch unternommen, sie einander ausführlich vorzustellen. Es konnte ja nicht sein, dass er seine eigene Frau vergaß. Wäre es nicht denkbar, dass das genauso wie vieles andere, was mit zunehmendem Abstand zum Geschehen wieder in seinem Gedächtnis auftauchte, plötzlich wieder da war? Das Gefühl für sie, die Liebe und Vertrautheit, ihr Name? Offenbar ist gerade dieser Gedanke für alle so unerträglich, dass sie sich an die Illusion klammern, eine simple Geschichte, eindringlich vorgetragen, verankere verlorene Identität und Gefühl. Helene will Hafen und Halt sein. Sie passe auf ihn auf, versichert sie ihm trotzig und er fragt sie täglich nach ihrem Namen. „Helene, verdammte Hacke,“ schreit sie ihn eines Morgens an. Da schreibt er ihren Namen auf ein Stück Papier, das er immer mit sich herumträgt. HELENE. Das hilft. Immerhin. Er vergisst immer weniger, auch den Zettel nicht. Und auch nicht den Kuss nach dem Aufstehen. Auf der Kommode neben dem Bett stehen jeden Tag frische Blumen. Sie spielen Scrabble. Sie lässt ihn Comics lesen, weil er bewegte Bilder auf Bildschirmen noch nicht verarbeiten kann. Beim Autofahren schließt Thijs die Augen und sieht ein Boot und ein Lot. Sie streichelt seine Arme und nimmt seine Hände. Ab und zu besuchen ihn die Freunde von früher. Er erinnert sich an die Gesichter und daran, wie sie sich kennenlernten. Thijs vermeidet Namen. Manchmal ist er sicher, seinen eigenen vergessen zu haben. Jeder nimmt eingehend Notiz von ihm und bleibt irritiert zurück, weil er irgendwie immer fehl am Platz wirkt und ihre Fragen nach seinem Befinden nicht wirklich beantworten kann. Das müssen andere für ihn tun. „Ich bin immer allein, selbst wenn jemand um mich herum ist“, sagt er zu Helene. Sie antwortet nicht. Aber er sieht, dass er sie arg verletzt hat. Dabei will er ihr nur erklären, dass sein innerer Monolog ständig abreißt. Es ist, als führe man ein Gespräch und vergäße im nächsten Augenblick, dass es überhaupt stattgefunden hat. Man kann nichts daraus mitnehmen, nichts lernen. Nicht sein. Er steht still, bewegt sich nie vom Fleck.

Der Unfall liegt inzwischen Monate zurück. Das Leben findet in unserem Inneren statt, sagt Helene und Thijs solle nachdenken, sich verdammt nochmal erinnern, sonst gehe ihr noch das letzte Bisschen verloren. Ich weiß, denkt er, ich weiß. „ Bist du nun tot oder bist du lebendig? Wer bist du überhaupt?,“ fragt sie. Das müsse ihn doch interessieren. Manchmal stampft sie mit den Füßen auf. Thijs joggt ums Haus. Er spielt Scrabble. Scrabble. Scrabble.

Das Schiff verliert das Gleichgewicht und Thijs mit ihm. Die Kajütenkante trifft seinen Hinterkopf. Er bleibt rücklings auf Deck liegen. Der Krankenwagen braucht eine Ewigkeit. „He’s bleeding like hell, for Gods sake,“ sein Steuermann legt eine Hand auf Thijs‘ Brust und ist erleichtert, als sein Atem sie hebt und senkt. Plattgewalzte Sprachfetzen säen sich in sein Hirn. Hear…me. Tell…here…rock…may…leak. Eine feine Quarte. Tonfolge A bis D. Sie sind da. Finally. Das Band schnurrt sanft vor sich hin, ein Motor tuckert in die Stille, erstirbt. Ruhe sanft in der Nacht. Ein paar Handgriffe genügen. Zwei Helfer heben ihn auf eine Trage, schließen ihn an ein Beatmungsgerät an und bringen ihn auf die Intensivstation des Fernando Perreira Krankenhauses in Colón. Fünf Tage, von denen kein einziger Fetzen Leben mehr übrig ist in seinem Kopf. Danach wird er nach Kortrijk ins Krankenhaus überführt. Helene ist bei ihm. Schatz, denkt er. „Ich würde dir gern alles erzählen,“ sagt er einem Freund,“aber ich weiß nichts mehr. Die Details musst du meine Frau fragen.“ Vier Wochen mit Wasser und Blut an Stellen im Gehirn, wo es nicht hingehört. Aber eine Gehirnblutung ist es nicht, sagt Helene. Auch einen bleibenden Gehirnschaden wird es nicht geben, weiß sie dem Freund zu berichten. Aber er erinnere sich nicht. An sie. Schon an ihre Vergangenheit. Da sei vieles da. Nicht alles. Die Erinnerung sei löchrig. Meist fehlten ihm die Namen und die Empfindungen dazu. Es ist, so sagt Thijs, als läge alles verklebt auf einem Haufen und könne nicht mehr voneinander getrennt werden. Als sei alles ein riesiges Bündel Papier, durchnässt vom Regen und mit verschwommenen Buchstaben. Ständig sei er auf der Suche nach den richtigen, den passenden Worten. Er erinnere sich an den Getränkeautomaten, der schräg gegenüber des Krankenhausfensters in einem Laden gestanden habe, sagt Helene. Vertraulichkeit. Seinen Blickkontakt suchen. Aufmunterndes Nicken. Sie pocht mit dem Zeigefinger auf die Sesselkante, schaut den Freund an. Denk.Nach.Denk.Nach.

Buchstaben © Jürgensen - DüsseldorfEr schreibt Tagebuch. Jeden Tag spaziert er zur Kommode, nimmt das Buch heraus und liest nach, was er am Tag davor gemacht hat, wer ihn besucht hat, was er isst. Thijs vergisst, dass er das, was da steht, tags zuvor hineingeschrieben hat. Aber er erkennt seine Handschrift. Scrabble. Helene streichelt seinen Arm und küsst ihn. Auch das schreibt Thijs auf. Sie ist seine Frau. Thijs weiß noch nicht, seit wann sie sich eigentlich kennen, kann sich aber an die Hochzeit erinnern.

Helene muss wieder zur Arbeit. Von irgendetwas müssen sie ja leben. Er kann noch nicht an den Computer zurück und schreiben. Das Tagebuch ist das, was er so gerade schafft. Sie hat einen Herd gekauft, der sich automatisch ausstellt, wenn er vergisst, die Platten auszuschalten.

Sein Nacken schmerzt. Es sind die ersten Schmerzen, an die er sich am nächsten Tag noch erinnern kann, seit er den Unfall hatte.

Und auch am übernächsten Tag weiß er noch, dass der Schmerz zwischen seinen Schulterblättern saß, sich dann allmählich hinaufzog bis in seinen Hinterkopf und sich gegen Abend verflüchtigte.

Thijs unternimmt nach dem Mittagessen am Montag oder Dienstag oder Mittwoch oder….einen kurzen Spaziergang am Strand von Vrouwenpolder, wo die Muscheln unter seinen Füßen knirschen und blutende Kerben in seine Versen ritzen. Das Meer dehnt sich in seiner ganzen Pracht vor ihm aus, die Möwen lärmen. In den Dünen begegnen ihm Wildpferde, eine weiße Dammhirschkuh und zwei Füchse. HELENE. Den Weg nach Haus trägt er in seiner Westentasche, notiert auf einem Blatt Papier.

Als Helene von der Arbeit zurückkommt, liegt er auf dem Sofa und träumt, von einem, der am Strand spazieren geht und einem, der ihm jeden Tag sagt, wer er ist. Da ist ein Boot auf dem innehaltenden Meer. Es sucht einen Weg zum Ankerplatz,ohne auf die Felsen oder eine Sandbank zu fahren. Wie ein Stück Holz, das man mit dem kleinen Finger über das Wasser dirigiert, gleitet das Schiff schwerfällig und teilt das Wasser vor sich in Wellen. Der Steuermann lauscht auf seine Anweisungen. Thijs hält ein Lot ins Wasser und blickt aufmerksam nach unten. Er sieht sein Spiegelbild. Und Aus.

Jeder einzelne, so sagt der Arzt im weißen Kittel, bezieht seine Identität aus der Unterscheidung vom anderen. Distinktion, so sagt Dr. Jan-Kees Leopold Molenaar genannt Mootje, sei wichtig, damit jeder Mensch er selbst werden könne. Deshalb sei es wichtig, dass Thijs seine Freunde um sich habe, Menschen überhaupt. Denn erst im Wechselspiel von Gemeinsamkeit und Abgrenzung kristallisiere sich das Eigene heraus. Das sei bereits als Kind so gewesen. Mit dem Wachsen entferne man sich zunehmend von den Eltern und erlange Persönlichkeit. Helene. Graugrüne Augen. Schatz, träumt er.

Die Haustür geht und schlägt ins Schloss. Helene streichelt seinen Arm. Thijs erwacht. Es war mein Segelboot, denkt er. Sein Nacken und sein Kopf schmerzen. Morgen muss er zu Dr. Molenaar und ihm erzählen, wie es ihm geht.

„Ach, Helene… Menschenskind!“ sagt er, gähnt, erhebt sich, nimmt den zusammengefalteten Zettel vor der Couch auf und steckt ihn wieder in die Westentasche seiner Jacke, die über der Sessellehne hängt. „Thijs, du weißt meinen Namen, ohne nachzuschauen!“, ruft sie erfreut und nimmt ihn in die Arme. Schatz, denkt er. Das fühlt sich gut an.


© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.