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Können Zeitreisen helfen? – Tausend und ein Morgen von Ilija Trojanow

Wir brauchen Utopien – Teil 9

von Dirk Jürgensen …

Wir, die Menschen, brauchen Utopien, um uns das Ziel einer besseren Zeit setzen zu können. Als ich diese kleine Reihe unterbrach, war Angela Merkel noch Kanzlerin, die Pandemie stand uns noch bevor und die Kriege dieser Welt fanden noch etwas weiter von Mitteleuropa entfernt statt. Die Warnungen vor dem Klimawandel wurden noch nicht durch Ansätze von Entschiedenheit angegangen. Nun haben wir eine Regierung, die zur Zeit ihrer Anfänge durchaus utopische, also positive, Entwicklungen möglich erscheinen ließ. Die wählenden Menschen schienen sich entschieden zu haben, einen Wandel zu ermöglichen. Skeptisch machte mich schon damals die Beteiligung der FDP an dieser Regierung, die für Utopien nicht empfänglich sah. Inzwischen fühle ich mich bestätigt.

Eine so lange Vorrede, um endlich auf ein Buch zu kommen, das noch einigermaßen aktuell den Buchmarkt bereichert. Es geht um „Tausend und ein Morgen“ von Ilija Trojanow.

Endlich, sagte ich, als ich von seinem neuesten Werk hörte, macht sich ein heutiger Autor an eine Utopie heran und geht nicht den Weg des Einfacheren. Des Einfacheren, weil Spannung und Action in einer Dystopie viel näher liegen, als in einer idealen heilen Welt der Utopie.

Trojanow - Tausend und ein Morgen

Vielleicht ist das der Grund, warum Trojanow die Form eines Zeitreiseromans wählte und den Ausgangspunkt der Zeitreisen nicht in einer gegenwärtigen Dystopie, sondern in einer zukünftigen utopischen Welt fand. Die Reiseziele der „Chronautin“ (In der Zukunft des Romans ist das heute so arg diskutierte Gendern kein Thema mehr. Der Plural wird feminin gebildet.) liegen in der Vergangenheit. Und entgegen der in der Filmreihe „Zurück in die Zukunft“ immer wieder propagierten Einsicht, dass man ins Raum-Zeit-Kontinuum nicht eingreifen dürfe, ist es die Aufgabe der Reisenden, in die Vergangenheit einzugreifen und sie früher auf einen besseren Weg zu bringen. Begleitet und beraten werden sie dabei von einer künstlichen Intelligenz namens GOG. Stets nach dem Leitspruch, der Geschichte als das beschreibt, was anders hätte verlaufen müssen. Ein humaner Ansatz, der eine Menge Leid auf dem Weg der Menschen zum Besseren soll.

Leider, das darf hier wohl verraten werden, sind die Reisen ins „Damalsdort“, in verschiedene Epochen unserer Vergangenheit und unserer nahen Zukunft nicht von Erfolg gekrönt. Zu komplex, zu unvorhersehbar ist das Verhalten, sind die Interaktionen der einzelnen Menschen und Gesellschaften, denen die Reisenden bei den Piraten des 18. Jahrhunderts, im revolutionären Russland um 1917/1918, bei den Olympischen Spielen 1984 in Sarajewo und im einem religiös aufgeheizten indischen Metropole treffen. Immerhin können die Chronautin ihre Reisen wiederholen, neue Versuche des Eingriffs in die Entwicklungen unternehmen. Vielleicht irgendwann mit Erfolg.

Selbst die beste aller Welten lässt Trojanow nicht ganz ohne Makel, nicht ganz ohne bedenkliche Entwicklungen sein. Die Verselbstständigung der künstlichen Intelligenz, das Streben Einzelner, die der friedlich heilen, beinahe sektenhaften Gesellschaftsordnung, zu stören oder gar zu zerstören, werfen Schatten.

Es bleibt der Literatur noch viel Arbeit, um weitere, noch bessere Utopien zu entwickeln. Schließlich bedeutet Utopie nicht automatisch, dass das entworfene Gesellschaftsmodell das Ende einer Entwicklung sein muss. Das sollte man den Kritiker/innen einer utopischen Idee immer wieder erklären.

Mit Ilija Trojanow hat sich endlich ein Autor seriös an den Aufbau einer Utopie herangewagt und ist nicht dem so leider überwiegenden Drang verfallen, die dystopischen Verhältnisse unserer Gegenwart weiter zu steigern. Dystopien bieten uns zwar Grusel und Action, sie bieten jedoch kein Bild davon, wie das Ziel einer Politik, eines Zusammenlebens aussehen kann, das sich anzustreben lohnt.
Anders als die Chronautin des Romans kennen wir keine Möglichkeit, in die Vergangenheit einzugreifen, es wenigstens zu versuchen. Selbst die Gegenwart scheint uns täglich die falsche Richtung zu weisen. Länder werden von anderen überfallen, religiöse Konflikte werden zum Terror, die Umwelt, das Klima entgegen aller wissenschaftlicher Einsichten nicht positiv beeinflusst, Demokratien befinden sich unterstützt von Populisten im Modus der Selbstzerstörung.

Ich empfehle das Lesen Ilija Trojanows „Tausend und ein Morgen“ und hänge direkt die Hoffnung daran, dass sich noch viel mehr Autorinnen und Autoren aufgefordert fühlen, an ihren Utopien zu arbeiten, um dem Dystopie-Überschuss endlich etwas entgegenzusetzen.

Ilija Trojanow: Tausend und ein Morgen.

Bei S. Fischer erschienen.




Katalog

Schwarzweißfotografien von Dirk Jürgensen

Das Cover des Bildbands "Katalog" mit Schwarzweißfotografien von Dirk Jürgensen

Jetzt isser raus, der Katalog! Ich habe mein neues Fotobuch schlicht und einfach Katalog genannt, denn es zeigt eine umfassende – wenngleich natürlich nicht vollständige – Mischung meiner Schwarzweißfotografie vergangener Jahre. Hauptsächlich handelt es sich um Bilder, die grob der Straßenfotografie zuzuordnen sind.

Für 15 Euro kann ab sofort unter der ISBN-13: 9783752640854 überall bestellt werden, wo es Bücher gibt – online, aber viel lieber natürlich im Buchladen Eures Vertrauens. Ein E-Book biete ich auch an.

Die Lieferung kann vorübergehend etwas Zeit in Anspruch nehmen, da der Produzent derzeit Schwierigkeiten in seiner neuen Druckerei ausgemacht hat. Also früh genug an Geburtstage und Weihnachten denken!

Ich hoffe beim bevorstehenden Kunstwalk im Medienhafen (14.5.2023) und erst recht bei Kunst ab Werk auf dem Areal Böhler (3. und 4. Juni) einige Exemplare mitbringen zu können. Ein Ausflug nach Düsseldorf lohnt sich also wieder einmal.

Und übrigens: Sollte mein Katalog den Appetit auf einen FineArtPrint für Eure Wand anregen, schreibt mir eine kurze Nachricht. Ich werde dann prüfen, welche Formate möglich sind und wähle für den individuellen Druck ein edles Papier aus, das eine Qualität hervorbringt, die einen Bildband an Intensität immer schlagen wird.

Dirk Jürgensen

 





Scham in Zeiten von Corona

Kein Klopapierwitz

von Dirk Jürgensen …

Die Flugscham für mich kein Thema
mehr. Weil es kaum noch Flüge gibt. Was mich neuerdings persönlich
emotional sehr berührt, ist meine Klopapierscham.

Papierfabrik - Foto: © Dirk Jürgensen - Düsseldorf

Nicht nur vor, sondern auch während
dieser Seuchenzeit habe ich Toilettenpapier immer erst gekauft, wenn
ein gewisser Meldebestand von drei oder vier Rollen erreicht war.
Früher war das kein Problem. Ich bin einfach in den Discounter
meiner Wahl gegangen, habe ein Paket des übrigens heutzutage gar
nicht mehr kratzigen Papiers mit dem Blauen Umweltengel gegriffen und
bin damit völlig ohne einen Hintergedanken nach Hause spaziert.
Heute ist es so, dass mir, wenn ich meine täglich erforderliche
Fitnessrunde drehe, Leute mit Klopapierpaketen unter dem Arm
auffallen. Gut möglich, dass all die Berichte über Plünderungen
und die hinterher unvermeidlichen Klopapierwitze meine optische
Sensibilität gesteigert haben. Aber die tatsächlich meist leeren
Regale für Hygienezellstoffe können meine Wahrnehmung nur
bestätigen.

Letztens, die Neugier trieb mich dort hin, denn ich war eigentlich auf der Suche nach einem Paket günstiger und dennoch leckerer Vollkornnudeln, wartete nur noch ein einsamer Zweierpack mit dieser ganz teuren, zwischen den 15 Lagen wahrscheinlich mit Watte gepolsterten, edlen Parfümen aufgewertete Ware auf eine am Popo empfindsamen Käuferin oder einen entsprechenden Käufer. Ich wagte zu widerstehen, schließlich war mein Meldebestand noch nicht erreicht. Eine Panik wollte partout nicht aufkommen.

Das ist heute beim Anbrechen der
fünftletzten Rolle anders geworden. Als ehemaliger Handelsschüler
weiß ich, dass der Meldebestand aufgrund längerer Lieferzeiten
durchaus früher als gewohnt eintreffen kann. Was tun? Würde ich
jetzt gegen jede umweltpolitische und preisliche Überzeugung
zugreifen und dieses umweltschädliche, zuerst die Wälder
vernichtende und hinterher den Abfluss verstopfende Zeug nehmen? Oder
werde ich Glück haben und mein Recyclingpapier ergattern können,
weil die Klopapierwitze inzwischen bei jeder Prepperin oder jedem
Prepper angekommen sind oder das Kinderzimmer aufgrund der
Rollenstapell keines mehr ist? Doch gehe ich einmal von diesem
Glücksfall aus, was werden die Leute denken, wenn ich mit meinem
Paket unter dem Arm den Laden verlasse?

»Ach guck mal, Alfred. Da ist wieder
so ein Hamsterer. Der hat sein Lager wohl noch immer nicht voll.«

Ja, die Klopapierscham hat mich
ergriffen. Ich werde wohl jedem Passanten aus sicherer Entfernung
erklären, dass ich die eine gekaufte Packung wirklich für den
sofortigen Anbruch vorgesehen habe. So oder so bleibt die Situation
peinlich. Ich sehne mich nach der Zeit vor Corona zurück. Eine Zeit,
in der mir egal war, was die Leute über mich sagten.

PS: Übrigens erwarte ich nach der Corona-Krise eine neue. Eine ökonomische Schieflage, in die die Papierindustrie geraten wird. Die Hamster haben dafür gesorgt, dass der deutsche Klopapierumsatz in kurzer Zeit um 700% gestiegen ist. Da die aktuelle Seuche keinen signifikanten Einfluss auf den Stoffwechsel hat, wird nicht mehr als vor ihrem Ausbruch geschissen, wird es nach Beendigung der viralen Krise also sehr lange dauern, bis die riesigen Vorräte verbraucht sind. Das bedeutet, wenn es mit der Wirtschaft postcoronal wieder aufwärts geht, werden die Aktien der Toilettenpapierbranche ins Bodenlose fallen.

Ich allein werde diesen Industriezweig mit meiner weiterhin auf den Meldebestand beruhenden Nachfrage kaum retten können und höre schon jetzt den Ruf nach Staatshilfen, schließlich ist die Produktion von Klopapier systemrelevant!

Egal, ob wir uns nach Corona den
dringend notwendigen radikalen Umbau des Kapitalismus vornehmen, oder
nicht. Wir sollten gewarnt sein, denn geschissen wird immer!




Corona, die linke Bazille

Vom Virus lernen

von Dirk Jürgensen …

Ich weiß, diese Überschrift ist
irreführend, denn eine Bazille ist ein Bakterium und weist mit den
Viren keinerlei verwandtschaftliche Beziehung auf. Für den
naturwissenschaftlich falsch verwendeten Begriff bitte ich um
Verzeihung. Aber ich konnte nicht anders, denn er zeigt in eine
Richtung, in die unsere Gedanken während der verordneten Zwangspause
und besonders nach der hoffentlich recht bald überstandenen Pandemie
gehen sollten.

Corona ist ein antikapitalistisches Virus

Dabei ist die Lungenkrankheit Covid-19 beziehungsweise SARS-CoV-2, wie Corona weniger anschmiegsam ebenfalls firmiert, ein völlig Ideologiefreies Wesen. Es hat kein Hirn, es hat keine Zunge die ideologische Leitsprüche formulieren kann. Dennoch lässt es mit beinahe wunderbarer Leichtigkeit die Börsenkurse und Ölpreise sinken, es zeigt, wie wenig rational unser Konsumverhalten gesteuert ist, wie fatal die Gewinnorientierung im Gesundheitswesen ist und dass es jenseits der allgemein duldsam hingenommenen Wachstumsreligion Alternativen geben muss oder gar gibt. Kurz gesagt bringt es vollkommen unmotiviert unser ökonomisches System ins Wanken. Ganz nebenbei besetzt es sogar den lange nur noch von »ewiggestrigen Linken« verwendeten Begriff der Solidarität wieder positiv. Beinahe könnte man also vermuten, Corona sei der potentielle Zünder einer Revolution, wie sie Marx und Engels nicht erträumen konnten.

Manchmal bedarf es eben nur eines
völlig unschuldigen und planlosen Auslösers. Auch der Urknall vor
ungefähr 14 Milliarden Jahren wird nicht zum Ziel gehabt haben, dass
wir uns mindestens alle zwei Jahre ein neues Handy genehmigen können.
Anhand der Opfer weltweit kann man leider nicht von einer friedlichen
Revolution sprechen, denn jedes Todesopfer ist eines zuviel. Dennoch
und gerade angesichts der Be- und Überlastung unserer Sozial- und
Gesundheitssysteme weltweit können wir Menschen Lehren aus der
Pandemie ziehen. Wenn wir es denn wollen. Nur drei mehr oder weniger
bedeutende Beispiele:

Corona versus BWL im Krankenhaus

Vor Corona wurde das deutsche
Gesundheitswesen immer weiter nach betriebswirtschaftlichen Maßstäben
zusammengespart. Auch der heute so gelobte Gesundheitsminister ist
ein Vertreter dieser Marktorientierung. Das Virus hat für ein
hoffentlich nicht nur kurzfristiges Umschwenken gesorgt, denn
Gewinnmaximierung hat im Gesundheissystem nichts zu suchen.
Eventuelle Sparmaßnahmen müssen immer gleichzeitig eine Optimierung
der Versorgung bewirken. Nur dann sind sie sinnvoll. Ebenso darf es
kein Mehrklassensystem in der Gesundheitsversorgung und
Krankenversicherung geben. Die pharmazeutische Industrie muss sich am
Gemeinwohl und nicht am Börsenkurs orientieren. Die medizinische
Versorgung ist zu wichtig, um sie den Mächten des Marktes
auszusetzen. Pflegekräfte müssen ihrer gesellschaftlichen Relevanz
in einer alternden Gesellschaft entsprechend gut bis sehr gut bezahlt
werden. Dass jede Altenpflegerin gesellschaftlich bedeutender als
eine ganze Clique von Börsenmaklern ist, ist schließlich eine
Binsenweisheit. Die aktuell im Netz verabredeten Applausaktionen sind
nett gemeint, helfen jedoch nur, wenn sie ein Zeichen für einen
ausdauernden Sinneswandel sind. Der Bereich der Alten- und
Krankenversorgung muss zum Leuchtturmprojekt für die notwendige
Neuordnung des Wirtschaftssystems werden. Hier wie übermall muss die
Gemeinwohlorientierung als ökonomisches Prinzip vorangestellt
werden. Wachstum ist nur im Sinne eines Zugewinns an Lebensqualität
zu verstehen. Zufriedenheit darf nicht länger als Wachstumsbremse,
sie muss als Abbild von Lebensqualität zum Ziel des Handelns erklärt
werden. Wie gesagt, Corona ist eine im positiven Sinn linke Bazille.
Doch nicht nur das.

Corona ist Klimaaktivist

Ganz nebenbei beweist Corona, dass die
Gesundung des Klimas und das Erreichen der gesteckten Klimaziele
möglich ist, dass es ein grünes Virus ist. Sollte die Pandemie noch
einige Monate andauern, könnte das Jahr 2020 als echtes Jahr des
Fortschritts für die Umwelt in die Geschichte eingehen. Kein
Klimastreik, kein öffentlicher Auftritt Greta Thunbergs, keine
monatelangen Verhandlungen zwischen Klimaaktivistinnen und
Wirtschaftsbossen hätte das jemals erreichen können. So wichtig die
Bewegung der Fridays for Future war und bleiben wird, so beweist erst
die Zeit der Seuche, woran es in der globalen Umweltpolitik hapert.
Es fehlt die Bereitschaft des Menschen, sich in seinem Konsum zu
mäßigen. Plötzlich bleiben die meisten Flugzeuge am Boden,
Urlaubsreisen mit kleinerem CO2-Fußabdruck oder der
Ersatz von Geschäftsreisen durch Vidokonferenzen werden interessant,
der globale Handel mit eher überflüssigen Gütern wird ein bisschen
infrage gestellt, die Vorteile einer lokalen Produktion wichtiger
Güter – Europa ist in diesem Sinne schon als lokal zu betrachten –
werden erkannt. Erst wenn die Pandemie überstanden ist, werden
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre nicht nur negativen
Auswirkungen nachweisen können. Ich bin gespannt, ob wir mit den
Ergebnissen der entsprechenden Untersuchungen etwas anzufangen
wissen.

Corona lässt Blasen platzen

Der Kapitalismus, das wissen wir noch von der Bankenkrise vor ein paar Jahren, neigt zur Bildung von Blasen, die irgendwann platzen. Kommen wir in diesem Zusammenhang zum Fußball und damit zu einem griffigen Sinnbild für eine dieser Blasen, die Corona zum Platzen bringen kann. Der allein von vermeintlich rettungslosen Romantikern gescholtene »moderne« Fußball, so stellen wir gegenwärtig fest, ist auf die Fernsehübertragungen reduziert tatsächlich bedeutungslos. Die ins Aberwitzige gestiegenen Spielergehälter und Ablösesummen werden nicht mehr zu bezahlen sein, wenn die ebenso jedem Vernunftsgedanken widersprechenden Beträge für die Übertragungsrechte ausbleiben. Wie lange es mit der Pandemie noch dauert, ist nicht abzusehen. Abzusehen ist jedoch der mögliche Ablauf einer Katastrophe, wie sie den Romantikern unter uns sogar Hoffnung schenken kann:

Der moderne Fußball im Zeichen von Corona - Foto: © Dirk Jürgensen - Düsseldorf

Die Pandemie verhindert Spiele –
Geisterspiele, also Spiele ohne Publikum in den Stadien, sind
aufgrund fehlender Stimmung weniger attraktiv – Bezahlsender wie
Sky verlieren ohne Fußballübertragung ihren Zweck und damit ihre
Abonnenten – Bezahlsender ohne Abonnenten können nichts mehr für
die Übertragungsrechte bieten – Vereine und Ligen müssen ihre
Etats kürzen – überzogene Ablösesummen werden einfach nicht mehr
gezahlt und die Spielergehälter gleichen sich an – eine Liga wird
ohne Solidarität der Vereine untereinander nicht bestehen können,
da sie ohne Gegner sinnlos ist – reine Kommerzprodukte, die dem
Solidaritätsgedanken widersprechen, dürften ihre Geldgeber
verlieren oder sie gründen eine eigene kleine, vielleicht
internationale Liga – die verbliebenen nationalen Ligen werden
ausgeglichener und damit spannender – die Romantiker haben
gewonnen. Das ist doch utopisch, werden die Anhänger (noch)
finanzkräftiger Vereine einwenden. Ja, das ist es.

Von Corona lernen

So hat mich das Beispiel des ruhenden Fußballs in der Corona-Krise endlich wieder auf das Thema der so notwendigen Utopien zurückgebracht, das mich seit Jahren umtreibt. Es darf natürlich nicht bei diesem Beispiel bleiben, denn Utopien – Modelle für eine bessere Gesellschaft, für ein besseres Wirtschaftssystem, für mehr Zusammenhalt und Toleranz – haben wir in allen Lebensbereichen und Weltgegenden bitter nötig.

Aktuell sollen wir zur Vermeidung
weiterer Ansteckungen möglichst zuhause bleiben. Jenseits der hart
arbeitenden Menschen in den Krankenhäusern, Arztpraxen und
Supermärkten fährt die Gesellschaft um einige Stufen herunter. Die
lange geforderte Entschleunigung ist endlich da. Wer in diesen Tagen
aus dem Fenster blickt, kann aufgrund der freiwilligen oder
erzwungenen Ausgangssperren und des »Social Distancings« selbst in
einer sonst hektischen Großstadt eine zunehmende Gelassenheit
wahrnehmen. Es ist kurzum die beste Zeit, Post-Corona-Utopien zu
entwickeln, die wir möglichst bald unseren politischen
Vertreterinnen und Vertretern beibringen sollten, wenn diese es denn
angesichts des Drucks der Lobbyisten zulassen. Ansonsten müssen wir
also selber ran. Falsch wäre es jedenfalls, nach überstandener
Pandemie in die alten Verhaltensmuster und die von fragwürdigen
Zeitgenossen erzeugten Ängste vor Fremdem und Neuem zurückzufallen.

Nach den Terroranschlägen vom 9. September 2001 hieß es angesichts des großen Entsetzens in wiederkehrender Tonspur, nichts würde mehr so wie vorher sein. Eine Aussage, die schnell zur Plattitüde wurde. Nichts Entscheidendes hat sich seitdem wirklich geändert – zumindest nicht im Positiven. Sollte dieser Spruch nach dem Besiegen des Corona-Erregers wieder im Mediengewirr auftauchen, müssen wir sehr wachsam sein. Corona als Zäsur zu verstehen, wäre ein Zeichen der Hoffnung und des Aufbruchs.




Jürgensen x 3 im Müllerhuus

Die 23. Kunsttage in Ditzum

 von Dirk Jürgensen …

Am letzten Oktoberwochenende ist es wieder soweit. Das kleine Fischerdorf Ditzum am Dollart in Ostfriesland verwandelt sich zum inzwischen 23. Mal ein Kunstdorf. In entspannter Atmosphäre schlendern zahlreiche Kunstinteressierte von Haus zu Haus, denn Privathäuser, Geschäfte, Lokale und sogar die Kirche des Ortes verwandeln sich für zwei Tage in Galerien.

Magnus Jürgensen vor einem seiner Bilder - Foto: © Dirk Jürgensen - Düsseldorf
Magnus Jürgensen vor einem seiner Bilder – Foto: © Dirk Jürgensen – Düsseldorf

Die offizielle Eröffnung der Kunsttage findet am Samstag (26.10.2019) um 12.00 Uhr in der ev.-ref. Kirche in Ditzum statt. Dort wird die Düsseldorfer Kunsthistorikerin Melanie Florin die Besucherinnen und Besucher, die ausstellenden Künstlerinnen und Künstler mit ihrem Vortrag auf ein spannendes Wochenende einstimmen. Um 13 Uhr werden dann, verteilt über das ganze Dorf, 31 ganz unterschiedliche künstlerische Positionen zwischen Malerei, Fotografie skulpturalem Schaffen zu besichtigen – und natürlich auch zu erwerben – sein. Aus den nahen Niederlanden werden in diesem Jahr 19 Kunstschaffende erwartet, die meisten davon sind Mitglieder der »Stichting Beeldend Kunstenaars Aa en Hunze«.

An dieser Stelle sei nicht ganz
uneigennützig auf das hingewiesen, was im Ditzumer »Müllerhuus«
passieren wird:

Nach einem fotografischen Alleingang
Dirk Jürgensens im vergangenen Jahr heißt das Motto 2019 »Jürgensen
x 3«: Maria Jürgensen wird Beispiele ihrer Gemälde, Zeichnungen
und Textgestaltungen, Magnus Jürgensen wird teilweise großformatige
Gemälde und Beispiele seiner Druckgrafik, Dirk Jürgensen
Fotografien aus seiner Serie »30 Sekunden« präsentieren.

Zahlreiche Kontraste, wie auch
überraschende Verbindungen zwischen den Werken sind garantiert.
Ebenso könnte es noch mehr oder weniger spontane Programmpunkte
geben, die das »Müllerhuus« zu einem Fixpunkt auf der Kunstroute
durch Ditzum machen dürften.

Die Türen der Ausstellungen der Ditzumer Kunsttage werden am Samstag (26.10.2019) von 13.00 Uhr bis 18.00 Uhr und am Sonntag (27.10.2019) von 11.00 bis 17.00 Uhr geöffnet sein.

Weitere Informationen finden Sie auf der Hompage der Gemeinde Jemgum, zu der Ditzum gehört.

Wir – Jürgensen x 3 – können
sicher auch im Namen aller anderen Ausstellenden sagen, dass wir uns
schon jetzt sehr über die zahlreichen Gespräche mit
Kunstinteressierten freuen.




Besser leben mit dem Rücken zur Wand

Gedanken über den Rücktritt und
andere Schritte

 von Dirk Jürgensen …

Wer mit dem Rücken zur Wand steht,
kann nicht zurücktreten. Diesen Satz sollten nicht nur
Politikerinnen und Politiker einen Moment wirken lassen.

Denn er ist in seiner bildhaften Bedeutung überraschend richtig, nur verstehen wir ihn in seiner alltäglichen Verwendung anders.

Wer mit dem Rücken zur Wand steht, hat
die wohl sicherste Position inne, muss nicht allein auf sein
Vertrauen bauen.

Wand © Dirk Jürgensen

Wie bitte?

Ich stehe immer hinter dir, kann eine
Drohung sein.

Nur wer mit dem Rücken zur Wand steht,
hat einen Dolch im Rücken nicht zu fürchten. Gefahr kann allein von
vorne kommen. Nicht einmal ein Absturz in hinter uns lauernde
gefährliche Tiefen – nicht Untiefen, schließlich wären diese gar
nicht tief – ist möglich.

Gut, wer mit dem Rücken zur Wand
steht, kann nur die Flucht nach vorne oder zur Seite antreten. Das
mag zunächst ein Nachteil im Sinnes eines gerne im Mittelpunkt
Stehenden sein, der die jederzeit mögliche ausweichende Bewegung in
alle Richtungen als Sinnbild der Freiheit versteht und für den die
Sicht auf die Dinge eine notgedrungen kurzfristige ist. Eine Freiheit
bis zur Beliebigkeit. Das Fähnchen im Wind. Liberal im liberalen
Sinne, ist, in Erinnerung an den großen Loriot, eben nicht nur
liberal. Der Standpunkt in der Mitte ist recht instabil und erfordert
eine immer schneller werdende Rotation. Aus allen Richtungen droht
ein Hinterhalt, und die aus Überforderung wachsende Sehnsucht nach
einer sicheren Wand im Rücken, einem Rückhalt, wird verständlich.

Früher wurden Kinder zur strafenden
Demütigung in die Ecke gestellt. Eine Ecke besteht sogar aus zwei
Wänden. Dabei hat man schon mit dem Gesicht zu nur einer Wand
stehend Freund wie Feind unsichtbar in seinem Rücken – sieht nur
die Wand, die selten transparent oder ein Spiegel ist, spürt
Unsicherheit. Außer ihr hat dieser bedauernswerte Mensch nichts und
niemanden, der sich schützen vor ihm aufstellt. Jeder Schritt zurück
führt tiefer ins Ungewisse, was im vorangestellten Beispiel der
Rohrstock des Lehrers die Häme der ganzen Klasse war.

Ein Zurücktreten wäre mit dem Gesicht
zur Wand zwar möglich, doch an einen Gewinn an Gewissheit, an
Sicherheit und das Verhindern eines für beide Seiten schmerzhaften
Anrempels ist nur nach einer Drehung zu denken. Hoffnung böte
höchstens ein offenes Hintertürchen. Das fehlt meistens. Der
Fortschritt bei einem zur Wand gerichteten Blick bedeutet ohne
vorherige Drehung kostet bestenfalls eine platte Nase. Da ist sie
wieder, die beruhigende Wirkung eines Rückens zur Wand. Wer wünscht
sich schon am Ende seines Lebens, dass die einzige hinterlassene Spur
ein blutiger Abdruck der Nase an einer Wand ist?

Wer mit dem Rücken zur Wand steht,
kann nicht zurücktreten. Und, das möchte ich den letzten
Zweiflerinnen und Zweiflern ans Herz legen, ist wirklich für alle
Seiten von Vorteil. Unsere anonyme Musterperson kann beim Versuch
seines physikalisch eigentlich unmöglichen Rücktritts – also
nicht einmal aus Versehen – niemandem auf die Füße treten.

Wer mit dem Rücken zur Wand steht, hat
die ganz große Zukunft vor sich.

Wer zurücktritt, wer nach hinten
ausweicht, hofft möglichst bald die Wand im Rücken zu spüren, sein
Gesicht weiterhin in Würde zeigen zu können, sein Gesicht nicht zu
verlieren. Wer zurücktritt, hofft damit bestenfalls dem Doch
entgangen zu sein. Julius Cäsar hätte einst wohl besser mit dem
Rücken zur Wand gestanden.




120 Sekunden für eine gemischte Tüte

Ein gelesener Film mit Büdchen

 von Dirk Jürgensen …

Musikvideos gibt es reichlich. Wie sieht das eigentlich mit Lesungsvideos aus? Ich meine damit keine abgefilmten Lesungen mit jeweils einem Glas Wasser vor einem Publikum auf unbequemen Stühlen zwischen den Regalreihen eines Buchladens. Es geht um den Versuch, eine Geschichte aus den gemeinsam mit Maria Jürgensen und Michael Schumacher entstandenen Büdchengeschichten – einem mit einigen Chansons gewürzten literarischen Bühnenprogramm unter dem Titel „Die gemischte Tüte“ – etwas anders als gewohnt zu präsentieren. Die Musik fehlt, dafür sind die Bilder hinzugekommen.

Meine Geschichte der „120 Minuten für eine gemischte Tüte“ wurde von Magnus Jürgensen visualisiert. Man findet ihn, nein, seine Filme unter mjuer.de und anderswo im weltweiten Internet. Projektanfragen können an ihn gerichtet werden.

Das Copyright für den Text, für das gesprochene Wort liegt bei mir, Dirk Jürgensen, das für die Visualisierung bei Magnus Jürgensen. Die Weiterverbreitung sollte also immer mit diesem Hinweis geschehen.




Menschenskind in Ditzum

Bilder, eine Lesung und Musik

– Die anlässlich der 22. Ditzumer Kunsttage im Müllerhuus gezeigte Ausstellung mit Bildern von  Dirk Jürgensen aus der Serie »Meerblick« entstanden an der Ostsee, an der Nordsee, auf Lanzarote und an der Atlantikküste zwischen dem Baskenland und Galicien. Nicht fröhliches Strandleben, sondern die Wucht der Naturgewalt, die metaphorisch auch für die emotionale Bewegung im menschlichen Dasein steht, sind Gegenstand der Betrachtung. So finden sich gleichermaßen ruhige, getragene, nachdenkliche Stimmungen auf den Fotografien wieder, wie auch aufgewühlte, stürmische, fröhliche und bedrohliche. Nicht umsonst gilt das Meer als Allegorie für das Leben und die in ihm verborgenen Sehnsüchte. Menschenskind-DitzumEine zweite Sequenz von verfremdeten Fotografien nennt sich „Seltsame Wesen“, die ohne Verwendung langer Brennweiten, ohne direktes Anvisieren von Menschen am Düsseldorfer Rheinufer, in Parks und Straßen der Stadt entstanden. Menschen wurden aus dem Kontext ihrer Umgebung, die Teil und Bedingung ihres Agierens waren, herausgenommen und stehen in dieser Nicht-Umgebung, ihrer Gesichtszüge beraubt, auf das Wesentliche, das Menschsein reduziert, für sich.

Am Samstag, den 27.10.2018 um 18:00 Uhr greift der Künstler gemeinsam mit zwei Autoren das Thema „Menschenskind“ im Müllerhuus noch einmal auf. Das Trio aus Dirk und Maria Jürgensen und Michael Schumacher liest und singt über all das, was Menschen bewegt. Gewürzt werden Missgeschicke, Begegnungen, Skurrilitäten und Erinnerung mit einer guten Prise Chanson und einer großen Portion Melancholie und Witz.




Eine gemischte Tüte

Geschichten um ein Büdchen

Die Trinkhalle, die Bude, das Späti oder Büdchen, der Kiosk, wie auch immer wir diese Institution einer Großstadt nennen, ist ein Ort, um den sich unzählige Erinnerungen und Geschichten ranken. Einige davon erzählen wir – Michael Schumacher, Maria und Dirk Jürgensen – in unserem neuen Programm. Die Premiere findet am 22. September in Neuss statt.

Eine gemischte Tüte




Der Markt ist definierter als der Verstand

Vom Komparativ der Gangstas

 von Dirk Jürgensen …

Es kann gut sein, dass ich aufgrund altersbedingter Schwerhörigkeit den Bang nicht gehört habe und mich auf diesem Wege im erweiterten Kollegahskreis erkundigen muss. Aber wozu soll das Internet denn sonst gut sein?

Sprache verändert sich. Auch und gerade auf der Straße, in der Hood eben. Wo eine Frau heute als Bitch bezeichnet wird, wurde sie einst nur leicht abgeschwächt sexistisch Keule oder Alte genannt. Bemerkte man in ihrem Umfeld einen neuen Freund, handelte es sich um ihren aktuellen Stecher, obwohl man gar nicht einschätzen konnte, ob dieser zu seinen vermuteten koitalen Fähigkeiten keine weitere aufweisen konnte. Ja, Sprache verändert sich, wird verändert und das Verständnis hinkt hinterher. Nicht nur im Milieu der Karussellbremser.

So spüre ich nicht erst seit dem großen Presseecho auf die bekannte Preisverleihung bei einem bestimmten Wort Unverständnis. Sprache verändert sich und Worte erhalten neue Bedeutungen. Normal. Das ist so, seit – so lautet meine aus wissenschaftlicher Luft gegriffene Vermutung – seit die erste aufrecht gehende Frau das Bedürfnis äußerte, mit ihrem männlichen Mitbewohner des Baumes oder der Höhle sprechen zu müssen. Heute arbeiten die Medien, die Politik, die Werbung, die Kunst gemeinsam mit der Jugend an der Veränderung unserer internationalen Sprachen und an der Neudefinition von Begriffen.

Neudefinition, Definition, definieren. Da haben wir ihn, den Begriff, den ich bis in der jüngeren Vergangenheit stets mit recht großer Sicherheit begreifen, definieren konnte. Das ist nun nicht mehr so.

Bislang war ich mit diesen erfolgreichen Erklärungen sehr zufrieden, die so ähnlich bei Wikipedia nachzulesen sind:

Eine Definition (lateinisch definitio »Abgrenzung«, aus de »(von etw.) herab / weg« und finis »Grenze«) ist je nach der Lehre, der hierbei gefolgt wird, entweder

  1. die Bestimmung des Wesens einer zu erklärenden Sache,
  2. die Bestimmung eines Begriffs,
  3. die Feststellung eines tatsächlich geübten Sprachgebrauchs, also wie ein Wort oder Begriff zu verstehen ist oder
  4. die Festsetzung oder Vereinbarung eines solchen in der Sprachwissenschaft,
  5. als Legaldefinition die Bestimmung eines Rechtsbegriffs in der Rechtswissenschaft.

Die in dieser Erklärung fehlende Neudefinition der »Definition« ist mir vor einiger Zeit in einem Werbespot aufgefallen, als es um eine vermutlich einzigartige Wimperntusche ging, von der behauptet wurde, dass sie die Wimpern der Zielgruppe definieren könne. Nicht betonen, besonders hervorheben, schöner machen, nein »definieren« soll das Zeug. Der Wimperntusche wurde von den Werbetätigen also eine linguistische oder juristische Unterscheidungsfähigkeit zugesprochen.

Ich denke, die kosmetische Farbe mag noch so hochwertige Inhaltsstoffe aufweisen und Schönheitswunder vollbringen, aber an dieser Stelle geht es wohl doch zu weit. Denn weder erklärt mir dieses Produkt das Wesen der Wimpern als solche oder was Wimpern im allgemeinen Sprachgebrauch beschreiben, noch hilft sie dem um Gerechtigkeit ringenden Richter bei einer sachgerechten Entscheidung.

So habe ich mich anlässlich dieses Textes zu einer weiteren Recherche verführen lassen. Wie ich dabei erfahren konnte, ist besonders in den einschlägigen Muckibuden der Republik davon die Rede, man müsse seinen Körper oder zumindest spezielle Muskeln und Muskelpartien »definieren«. Unbedarft, wie ich nun einmal bin, wollte ich total vergreister Gestriger schon den sich an den dortigen Folterinstrumenten Gefesselten gerne empfehlen, sich nicht dieser körperlichen Quälerei auszusetzen, sondern einen kleinen Ausflug in die Stadtbücherei zu wagen. Dort könne man sich ein einigermaßen populärwissenschaftliches Werk ausleihen, das die Leserin und den Leser in die Welt der Anatomie geleitet. Und das zu einem Preis, bei dem kein Fitnessabo standhalten könnte. In derartigen Büchern würde der Bizeps als Skelettmuskel des Oberarms und der Schließmuskel des Popos als Ringmuskel defininiert. Ganz ohne Schweiß. Vermutlich könnte beim Überfliegen der Einleitung bereits der ganze menschliche Körper definiert werden. Vielleicht in dieser Art:

Der (menschliche oder auch tierische) Körper ist die materielle Einheit, die Masse eines Lebewesens, in dem sich alle Knochen, Organe usw. befinden.

Definitionen bedürfen also eher geistigen als körperlichen Trainings und ein somit definierter Körper benötigt zur Untermauerung ihrer Abgrenzung von anderen Dingen keine Eiweißzufuhr. Man kann die Quantität und Qualität des Trainings definieren. Man kann den Körper als muskulös oder schwammig definieren, doch allein die Aussage, ein Körper, ein Muskel oder ein Wimpernhaar sei definiert, sagt überhaupt nichts aus. Ihr sollte bei Interesse immer die Frage folgen, als was dieses Objekt der Definition definiert ist. Auch kann man das Wort „Definition“ niemals im Komparativ gebrauchen. Etwas kann definiert werden, jedoch niemals definierter sein als. Oder neuerdings doch?

Sicher haben Sie längst bemerkt, worauf mein Beitrag hinaus möchte und Sie werden sagen, dass ich anhand meiner Rechercheergebnisse durchaus selber feststellen könnte, was ein selbsterkorenener Gangstarapper in seinem gelebten Traum, als echter Gangster im Knast zu sitzen oder bei einer Schießerein unter Gleichgesinnten ums Leben zu kommen, damit ausdrücken möchte, wenn er seinen Körper für definierter als den eines Opfers des Naziterrors (seines Opfers?) hält. Er hält ihn in erschreckender Banalität für durchtrainierter. Das ist ebenso doof wie respektlos. Und hätte es in meiner Jugend bereits die Variante dieser eher bildungsfernen Kunstrichtung des Sprechgesangs gegeben, wäre der Sixpack unter der Goldkette des Rappers wohl mit dem aufgedunsenen Bauch eines in Biafra verhungernden Kindes in Konkurrenz getreten. Beide Vergleiche sind gleichermaßen geschmacklos, menschenverachtend, frei von jeder Empathie, auf den bloßen Skandal aus und vor lauter Dummheit strotzend hemmungslos.

Die Frage ist natürlich, ob die auch noch mit einem Musikpreis ausgezeichneten Gangstas tatsächlich so bildungsfern sind, wie sie sich geben, oder ob sie in Wirklichkeit mit Intelligenz und Absicht ihre Botschaften in die Hirne ihrer kritiklosen Jünger setzen, die der Einfachheit halber Provokation für Revolte halten und faschistoide bis faschistische Parolen als vollkommen normal empfinden / begreifen / definieren.

Bei genauerer Überlegung ist es übrigens nichts Besonderes und der vor Kraft fast platzenden Ausdrucksweise der Rapper nicht gerecht werdend, seinen vom Wohlstand geprägten Körper für schöner oder irgendwie besser als den eines Verhungernden zu halten. Eine besondere Leistung, auf die man stolz sein kann, steckt ganz sicher nicht dahinter. Ganz im Gegenteil, sie ist lächerlich.

Es ist jedoch verharmlosend, die verwendeten Rhymes als bloße Hülsen, als sinnentleerte Sprüche anzusehen, die erst dann beängstigend wirken, wenn man sie zu definieren versucht. Sie sind allein schon daher beängstigend, weil sie nicht einmal Ironie beinhalten, ihre Autoren und Interpreten an keiner Stelle zur Selbstironie fähig sind, sie leichtfertig oder absichtlich Abgrenzung legitimieren. Zudem in einem Kontext, der vor antisemitischen Plattitüden und Parolen, Sexismus, Schwulenhetze, Gewaltphantasien und Entmenschlichung nicht zurückschreckt.

Der schlimmste Horror ist, dass all das auch noch marktkonform ist. Es findet Kunden, generiert Millionenumsätze und sichert damit den monetären Erfolg. Das suggeriert Qualität, wo keine ist. Kein anderes Ziel als die Unterstützung des jeweiligen Marktwertes und ökonomischen Erfolgs hat der Echo. Um diese Form der kapitalistisch orientierten Schwarmdummheit also im Komperativ der prämierten Gangstas auszudrücken:

Der Markt ist definierter als der Verstand.




Zurück zum Eisbein?

Wieviel Deutschland gehört zu Deutschland?

 von Dirk Jürgensen …

Angst vor dem Minarett?

»Alle Religionen seindt gleich und guht, wan nuhr die Leute, so sie profesieren, erliche Leute seindt, und wen Türken und Heiden kähmen und wolten das Land pöbplieren, so wollen wier sie Mosqueen und Kirchen bauen.«

Der Fußball gehört nicht zu Deutschland, der ist in England zuhaus.

Die Gotik gehört nicht zu Deutschland, sie ist in Frankreich entstanden.

Die Nudel gehört nicht zu Deutschland, vielleicht noch nicht einmal zu Italien, denn sie wurde in China erfunden.

Die Kartoffel, das weiß jeder, gehört keinesfalls zu Deutschland, denn die kommt aus Südamerika.

Der Wein gehört auch nicht zu Deutschland, der stammt aus dem Kaukasus.

Das Christentum gehört nicht zu Deutschland, das entwickelte sich aus dem Judentum im römisch beherrschten Israel.

Der Mensch gehört nicht zu Deutschland, der kommt aus Afrika. Es könnte sogar sein, dass nicht einmal die Bayern nicht zu Bayern gehören, denn die stammen vermutlich von den Elbgermanen ab. Die lebten vorher entlang der Elbe bis hinunter nach Böhmen und Mähren. Da wird also ein gehöriger Anteil auch nicht zu Deutschland gehören.

Ja, wieviel Deutschland gehört eigentlich zu Deutschland? Wollen wir angesichts dieser »Problematik« in letzter Konsequenz wirklich auf Sushi, Döner und Pizza verzichten und wieder regelmäßig zum Eisbein greifen – ohne zu wissen, ob das Spenderschwein überhaupt aus Deutschland stammt?

Immer, wenn wir etwas genauer hinschauen, gehört kaum etwas zu Deutschland, das sich heute in innerhalb der Landesgrenzen befindet. Aber trotz dieser Zugehörigkeitsverwirrung gibt es dieses Land noch und es leben Menschen darin. Manche sogar einigermaßen gerne und ohne ständing danach gefragt zu werden, ob sie dazugehören, dazugehören wollen oder nicht. Dabei ist es ganz einfach:

Wenn auch nur einer der hier Lebenden an die Wiederauferstehung des Großen Kürbisses glaubt, dann gehört auch sein Glaube zu Deutschland, wie auch der Spott der Übrigen dazugehört.

Große Geister der Geschichte, Kunst und Technik gehören zu Deutschland, wie ein schreckliches historisches Erbe mit seinem vegetarischen Despoten, eine Reihe kaum verständlicher Dialekte und Sprachen, eine Zeit des Friedens und der Aussöhnung mit den ehemaligen Feinden zu Deutschland gehört. German Angst, german Zuverlässigkeit, made in germany und leider – ich sage das nur schweren Herzens – gehört sogar Pegida zu Deutschland.

Sicher würden wir uns freuen, wenn nur positive, jedem Einzelnen genehme Dinge zu Deutschland gehörten, aber das kriegen wir doch nicht einmal mit unseren ganz eigenen, persönlichen Eigenschaften zwischen Fett- und Magersucht hin. Wie soll das denn mit Deutschland klappen?

Im Geiste der Aufklärung und Toleranz waren wir schon einmal viel weiter, als es unser aus seiner eigenen Heimat Bayern vertriebene Heimatminister Seehofer vermuten lässt.So wurde in Preußen einst die Frage aufgeworfen, ob römisch-katholische Schulen aufgrund ihrer Unverträglichkeit abgeschafft werden sollten. Die dazugehörige Eingabe kommentierte Friedrich der Große:

»Die Religionen Müsen alle Tolleriret werden und Mus der Fiscal nuhr das Auge darauf haben, das keine der andern abrug Tuhe, den hier mus ein jeder nach seiner Fasson Selich werden.«

Ob es nun richtig war und ist, als Staat überhaupt religiös ausgerichtete Schulen und eine derart seltsame Orthographie zu dulden, sei dahingestellt, aber dieser Grundsatz der Toleranz, nach dem »jeder nach seiner Fasson glücklich« werden soll, bietet uns eine angenehm allgemeinverständliche Kurzfassung des kathegorischen Imperativ Kants, dessen Ethik ganz sicher zu Deutschland gehört. Und als im Jahr 1740 auch noch Vertreter der Stadt Frankfurt am Main in Potsdam anfragten, ob denn gar ein Katholik in einer evangelischen Stadt Bürgerrechte erhalten dürfe, erhielten sie vom Alten Fritz die passende und von großer Entspanntheit geprägte Antwort:

»Alle Religionen seindt gleich und guht, wan nuhr die Leute, so sie profesieren (= ausüben), erliche Leute seindt, und wen Türken und Heiden kähmen und wolten das Land pöbplieren (= bevölkern), so wollen wier sie Mosqueen und Kirchen bauen.«

Bekanntlich war Friedrich der Große Preuße. Ist es damit logisch, dass eine derart fortschrittliche Einstellung auch heute noch nicht zu Bayern gehört? Zu Deutschland – zum von den Deutschen bei jeder Gelegenheit so gern herbeizitierten »gesunden Menschenverstand« – sollte sie jedoch unbedingt gehören. Aber gehört Bayern – siehe oben – zu Deutschland? Es kommt immer drauf an.

Ich habe übrigens in meiner Heimatstadt Düsseldorf noch niemanden fragen hören, ob denn der Buddhismus und der in Japan hauptsächlich ausgeübte Shintoismus zu Düsseldorf gehören. Hoffentlich liegt es nicht allein daran, dass die hier lebenden Japaner – die sogar immer wieder mit Stolz als Bereicherung der Landeshauptstadt erwähnt werden – einfach nur viel wohlhabender sind, als die meisten zugereisten Moslems. An der engen Verbindung des Shintoismus zum ultrarechten Nationalismus Japans, der viele seiner Anhänger noch immer die »Heldentaten« aus dem Zweiten Weltkrieg verherrlichen lässt, liegt es wohl nicht. Geld, ja diese Religion gehört zu Deutschland.

Eine Placebodiskussion

Doch genug davon. Ich tappe selber immer wieder in diese Falle, obwohl ich mir darin sicher bin: Wir sollten uns besser darüber klar werden, dass dieses ständige Fragen danach, ob irgendwelche Dinge, Glaubensrichtungen, Ideen oder sexuelle Praktiken zu Deutschland gehören, nur dazu da ist, Placeboprobleme zu schaffen, die von der Behebung tatsächlicher Missstände ablenken. Wer sich mit der Diskussion darüber, ob der Islam zu Deutschland gehört, die Zeit vertreibt, wird in all der Ausgrenzung von Realität kaum noch in der Lage sein, unsere sterbenden Sozialsysteme zu reformieren, sie zu neuem Leben zu erwecken.
Erst wenn alle etwas von ihnen haben und nicht nur Versicherungen und deren Anteilseigner, wenn beispielsweise ein Gesundheitsminister Spahn seine Politik nicht nach seinen gewinnorientierten Freunden in der Lobby ausrichtet, wenn Konzerne sich über Steuerzahlungen am Gemeinwohl beteiligen, haben wir in Deutschland endlich mehr Kraft und Muße, unsere Toleranz und die Integration von Minderheiten und schweigenden oder schimpfenden gefühlen wie tatsächlichen Mehrheiten in ein solidarisches Leben etwas intensiver zu pflegen. Denn sie gehört zu Deutschland, weil ich es so will, weil ich zu Deutschland gehöre, obwohl es mir manchmal verdammt schwerfällt.




Alles auf Anfang

  von Maria Jürgensen …

Langsame Menschen folgen ihrem Sarg entlang der von der Sonne beschienenen, schiefen Fachwerkhäuser zum Friedhof in der Neubausiedlung des Dorfes. Der Weg dorthin ist lang. Von den alten Bäumen auf dem Gottesacker ist nur noch eine Weide übrig, die träge ihre Äste in der Julisonne hängen lässt. Regen tut Not. Der Vater steht am Grab und senkt den Kopf und kann gar nicht mehr aufhören zu weinen. Dabei tut er das sonst nie. Der kleine Bruder hat ihren Garten geplündert, sämtliche Blumen enthauptet und ihre Köpfe gemeinsam mit ihr in der Grube versenkt. Die Schwester, nicht mehr jung, aber auch noch nicht alt, steht still in ihr enges, schwarzes Kleid gepresst. Sie umklammert den Brief, den sie zum Abschied geschrieben hat. Mit einem entsetzten Schritt nach vorn lässt sie ihn nach unten stürzen und in der braunen Erde danach dürsten, gelesen zu werden. Augenpaare beobachten die Übriggebliebenen und verbieten sich selbst ihre Neugier und Frage danach, wie sich anfühlt, was sie sehen. Man spricht nicht über das Sterben und schon gar nicht über den Tod. Niemand spricht die Sprache, die benennt, was geschieht. Sie könnte ihn beschwören, herbeirufen und ehe man sich versieht, steht er vor der eigenen Tür.

Käfer © Maria JürgensenManchmal irrt er sich und macht kehrt. Meist betritt er ohne Klopfen das Zimmer. Und dann entschuldigt er sich nicht einmal für das plötzliche Hereinplatzen und die Unhöflichkeit. Der Tod schreitet auf dich zu, umarmt dich, lang und intensiv, bis du außer Atem bist. Oder er nimmt dich kurz und stürmisch, dass du dich ihm widerstandslos hingibst. Er klammert sich an deine Brust, an dein Herz und lässt es nicht mehr los, bis es erstickt vor lauter Liebe. Und dann bist du sein. Auf ewig sein.

Alles hört auf, sagt die Schwester. Von einem Augenblick zum anderen ist nichts mehr, wie es vorher war. Da reißt dir einer ein Stück aus deinem Leben und du weißt gar nicht, wohin du dich zuerst wenden sollst. Nichts ist mehr, wo es vorher war. Niemand kann die Lücke füllen. Aber das ist auch ein schöner Gedanke, sagt der Freund, denn dann weißt du plötzlich, dass jeder auf dieser Erde seinen Platz hat und ihn ausfüllt, was immer er oder sie auch macht. Aber dieser Scheißtod hockt da immer noch herum und winkt Champagner trinkend und selbstzufrieden „von dieser Scheißwolke“, sagt die Schwester und heult. Da hat sie recht, denkt der Freund, „der Typ ist ein verdammtes, egoistisches Arschloch“ und ist froh, dass er ihn nicht besonders gut kennt.

Die Mutter hatte sich verloren in ihrer Liebe zum Tod. Im Dezember hatte er sie aufgesucht, ihr seine Aufwartung gemacht, wie schon einige Jahre zuvor. Damals ließ er sie gehen, hatte sie aber nicht vergessen können, ebenso wenig wie sie ihn. Diesmal wolle er bleiben und sie nicht mehr verlassen, hatte er verkündet und sich in ihrem Dünndarm eingenistet. Sie hatte ihm erklärt, wie schwer es ihr fiele, sich ihm ganz zu überlassen, denn, was solle aus jenen werden, die hier blieben und ohne sie auskommen müssten. Und auch die Hoffnung könne sie nicht ganz aufgeben. Da nahm er immer nur ein Stück von ihr mit sich fort. Zuerst die Freude, dann den Mut, dann die Kraft, die Stimme, den Gang, die Schrift, den Hunger, die Zeit, bis sie bereit für ihn war. Sie sah ihn nach der Operation im Spiegel des Badezimmers. Durch den Schlauch ihres Katheders floss die Hoffnung gallig, grün aus ihr hinaus.

Nun stehen sie am Rand und warten, dass sich der Abgrund wieder schließt. Langsame Hände ziehen sie millimeterweise von ihm weg, versinken lieber gemeinsam mit ihnen in Erinnerungen. Sie sehen Kommunionsschleifen im Haar und Kleider aus Papier, weil das Geld zu knapp für Textiles war. Sie erzählen von Besäufnissen auf Hochzeiten und Dorffesten und haben nur Gutes zu berichten, nur Gutes. Brote werden geschmiert, Kuchenstücke gereicht. Die Sprache ist zurück, der Tod glotzt mit glasigen Feieraugen von seiner Wolke und schmollt. Der Vater, der Bruder, die Schwester, der Freund schwimmen in den Bächen der Stimmen, die sich im Raum des Klosters beim Leichenschmaus verteilen und lassen sich von ihren Wellen tragen. Hier ist alles so wie immer. Irgendwo in den Fensterscheiben spiegelt sich ein Ich und pustet einen Wind vor Erleichterung, doch nicht mutterseelenallein zu sein. Ich bin ein Stückchen zurück in der Welt.

Lupinenfeld © Maria JürgensenWas war übrig, hatte sich die Schwester, die Tochter ihrer Mutter war, gefragt, als sie im Krankenhaus neben der Toten gesessen hatte. Die lag kahlköpfig, steinern, mit ineinander verkanteten, bläulich angelaufenen Fingern auf dem Bett. In ihrem Bauch rumorte es, als arbeite der Tod noch die lebendigen Reste auf, die er noch nicht erreicht und für sich vereinnahmt hatte und wolle bei seinem bisherigen Rhythmus bleiben. Er nahm sich alles, Stück für Stück für Stück für Stück. Hier lag ein Körper, unbeseelt und nackt, der am Tag zuvor noch gedacht, gefühlt und mit fremden Ton gesprochen hatte. Was ist übrig?

Am Tag nach der Beerdigung steht die Schwester unter der Dusche, schrubbt ihren Schopf und spürt der Katastrophe nach, die sich wie ein Schleier über ihre Vergangenheit legt. Aus der Unschuld des Kindes wird die Schuld der Tochter. Sie fragt sich, woran oder womit sie sich schuldig gemacht hat und weiß keine Antwort. Aber bestraft fühlt sie sich, vom Dach gestoßen, im Flug befindlich, wie der Brief, der ungelesen im Grab versinkt. Es bleibt wohl immer Unausgesprochenes, denkt sie und reibt sich die Schenkel trocken.

Die Lücke ist eine Wunde, die schmerzt und immer wieder aufreißt, kaum, dass sie verheilt ist. Manchmal überfällt es die Schwester und gewesene Tochter während der Fahrt zur Arbeit, wenn sie in die Landschaft sieht, aufs Feld, auf dem ihre Mutter als Bäuerin säte und erntete. Dann bricht das Sehnen aus ihr heraus und sie vermisst es, Kind zu sein, geborgen im Schoß dieser Frau. Dann hat sie frisch gewaschenes Haar und gemähte Wiese in der Nase. Es kann immer alles passieren, weiß sie nun. Alles steht auf Anfang.


© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.




Menschenskind

 von Maria Jürgensen …

Jeder gesunde Mensch erzähle sich die Geschichte seines Lebens selbst, doziert der Mann im weißen Kittel und Thijs Vanderbeke bemüht sich darum, ihn wiederzuerkennen. Vertraulichkeit. Seinen Blickkontakt suchen. Aufmunterndes Nicken. Er pocht mit dem Kugelschreiber auf den Schreibtisch und Thijs folgt seinem Rhythmus. Denk.Nach. Denk.Nach.Denk.Nach.

Der Arzt erläutert, der Faden zu seiner Geschichte sei lediglich gerissen und es gelte, die einzelnen Versatzstücke wieder miteinander zu verknoten. Das brauche Zeit und Geduld. Immerhin seien Teile seines alten Lebens in seiner Erinnerung vorhanden und er habe nicht alles verloren. „Es gibt viel Anlass zur Hoffnung, Herr Vanderbeke,“ betont er, „Sie werden bald wieder segeln, um die Welt reisen und Ihre Reportagen schreiben können.“ Kursverlust. Eine gerissene, alte, undichte Maschine, die sich nicht mehr zusammenhalten lässt, das ist er. Schraube locker. Jemand hat auf eine Taste gedrückt und das Band angehalten.

Ein Boot segelt übers Wasser. Jemand lässt ein Lot hinunter. Schwärze. Früher. Jetzt. Helene. Später. Alles eins. Man weiß, wer man ist, wenn man darüber nachdenken kann. Denk.Nach.Denk.Nach. Hände schütteln. Wie hieß er doch gleich?

Vrouwenpolder © Jürgensen - DüsseldorfEr bewegt sich nicht. Blut läuft aus seiner Nase. Am neunten Juni Zweitausendsechzehn wird Thijs Vanderbeke, jemand, der weiß, wo es langgeht, mit einer Gehirnerschütterung in ein Krankenhaus in Panama eingeliefert. Der unerschütterliche Fels in der Brandung ist auf einen unerschütterlichen Fels in der Brandung getroffen. Ein weiches Gesicht mit großen, graugrünen Augen sieht ihn besorgt an, als er nach dem Unfall in einem breiten, drahtig knirschenden Bett erwacht. Vier Wochen Schwarz. Jeder Tag ist ein neuer Tag, an dem er sich nicht mehr an den vorherigen erinnern kann. Helene. Sie streichelt seine Stirn und seine Hände. Er fragt sie nach dem Aufwachen, ob sie wisse, was mit seinem Auto passiert und ob er Schuld am Unfall gewesen sei. „Segelboot“, antwortete sie nur, „es war dein Segelboot, Schatz.“ Schatz, denkt er. Einmal hat der Arzt den Versuch unternommen, sie einander ausführlich vorzustellen. Es konnte ja nicht sein, dass er seine eigene Frau vergaß. Wäre es nicht denkbar, dass das genauso wie vieles andere, was mit zunehmendem Abstand zum Geschehen wieder in seinem Gedächtnis auftauchte, plötzlich wieder da war? Das Gefühl für sie, die Liebe und Vertrautheit, ihr Name? Offenbar ist gerade dieser Gedanke für alle so unerträglich, dass sie sich an die Illusion klammern, eine simple Geschichte, eindringlich vorgetragen, verankere verlorene Identität und Gefühl. Helene will Hafen und Halt sein. Sie passe auf ihn auf, versichert sie ihm trotzig und er fragt sie täglich nach ihrem Namen. „Helene, verdammte Hacke,“ schreit sie ihn eines Morgens an. Da schreibt er ihren Namen auf ein Stück Papier, das er immer mit sich herumträgt. HELENE. Das hilft. Immerhin. Er vergisst immer weniger, auch den Zettel nicht. Und auch nicht den Kuss nach dem Aufstehen. Auf der Kommode neben dem Bett stehen jeden Tag frische Blumen. Sie spielen Scrabble. Sie lässt ihn Comics lesen, weil er bewegte Bilder auf Bildschirmen noch nicht verarbeiten kann. Beim Autofahren schließt Thijs die Augen und sieht ein Boot und ein Lot. Sie streichelt seine Arme und nimmt seine Hände. Ab und zu besuchen ihn die Freunde von früher. Er erinnert sich an die Gesichter und daran, wie sie sich kennenlernten. Thijs vermeidet Namen. Manchmal ist er sicher, seinen eigenen vergessen zu haben. Jeder nimmt eingehend Notiz von ihm und bleibt irritiert zurück, weil er irgendwie immer fehl am Platz wirkt und ihre Fragen nach seinem Befinden nicht wirklich beantworten kann. Das müssen andere für ihn tun. „Ich bin immer allein, selbst wenn jemand um mich herum ist“, sagt er zu Helene. Sie antwortet nicht. Aber er sieht, dass er sie arg verletzt hat. Dabei will er ihr nur erklären, dass sein innerer Monolog ständig abreißt. Es ist, als führe man ein Gespräch und vergäße im nächsten Augenblick, dass es überhaupt stattgefunden hat. Man kann nichts daraus mitnehmen, nichts lernen. Nicht sein. Er steht still, bewegt sich nie vom Fleck.

Der Unfall liegt inzwischen Monate zurück. Das Leben findet in unserem Inneren statt, sagt Helene und Thijs solle nachdenken, sich verdammt nochmal erinnern, sonst gehe ihr noch das letzte Bisschen verloren. Ich weiß, denkt er, ich weiß. „ Bist du nun tot oder bist du lebendig? Wer bist du überhaupt?,“ fragt sie. Das müsse ihn doch interessieren. Manchmal stampft sie mit den Füßen auf. Thijs joggt ums Haus. Er spielt Scrabble. Scrabble. Scrabble.

Das Schiff verliert das Gleichgewicht und Thijs mit ihm. Die Kajütenkante trifft seinen Hinterkopf. Er bleibt rücklings auf Deck liegen. Der Krankenwagen braucht eine Ewigkeit. „He’s bleeding like hell, for Gods sake,“ sein Steuermann legt eine Hand auf Thijs‘ Brust und ist erleichtert, als sein Atem sie hebt und senkt. Plattgewalzte Sprachfetzen säen sich in sein Hirn. Hear…me. Tell…here…rock…may…leak. Eine feine Quarte. Tonfolge A bis D. Sie sind da. Finally. Das Band schnurrt sanft vor sich hin, ein Motor tuckert in die Stille, erstirbt. Ruhe sanft in der Nacht. Ein paar Handgriffe genügen. Zwei Helfer heben ihn auf eine Trage, schließen ihn an ein Beatmungsgerät an und bringen ihn auf die Intensivstation des Fernando Perreira Krankenhauses in Colón. Fünf Tage, von denen kein einziger Fetzen Leben mehr übrig ist in seinem Kopf. Danach wird er nach Kortrijk ins Krankenhaus überführt. Helene ist bei ihm. Schatz, denkt er. „Ich würde dir gern alles erzählen,“ sagt er einem Freund,“aber ich weiß nichts mehr. Die Details musst du meine Frau fragen.“ Vier Wochen mit Wasser und Blut an Stellen im Gehirn, wo es nicht hingehört. Aber eine Gehirnblutung ist es nicht, sagt Helene. Auch einen bleibenden Gehirnschaden wird es nicht geben, weiß sie dem Freund zu berichten. Aber er erinnere sich nicht. An sie. Schon an ihre Vergangenheit. Da sei vieles da. Nicht alles. Die Erinnerung sei löchrig. Meist fehlten ihm die Namen und die Empfindungen dazu. Es ist, so sagt Thijs, als läge alles verklebt auf einem Haufen und könne nicht mehr voneinander getrennt werden. Als sei alles ein riesiges Bündel Papier, durchnässt vom Regen und mit verschwommenen Buchstaben. Ständig sei er auf der Suche nach den richtigen, den passenden Worten. Er erinnere sich an den Getränkeautomaten, der schräg gegenüber des Krankenhausfensters in einem Laden gestanden habe, sagt Helene. Vertraulichkeit. Seinen Blickkontakt suchen. Aufmunterndes Nicken. Sie pocht mit dem Zeigefinger auf die Sesselkante, schaut den Freund an. Denk.Nach.Denk.Nach.

Buchstaben © Jürgensen - DüsseldorfEr schreibt Tagebuch. Jeden Tag spaziert er zur Kommode, nimmt das Buch heraus und liest nach, was er am Tag davor gemacht hat, wer ihn besucht hat, was er isst. Thijs vergisst, dass er das, was da steht, tags zuvor hineingeschrieben hat. Aber er erkennt seine Handschrift. Scrabble. Helene streichelt seinen Arm und küsst ihn. Auch das schreibt Thijs auf. Sie ist seine Frau. Thijs weiß noch nicht, seit wann sie sich eigentlich kennen, kann sich aber an die Hochzeit erinnern.

Helene muss wieder zur Arbeit. Von irgendetwas müssen sie ja leben. Er kann noch nicht an den Computer zurück und schreiben. Das Tagebuch ist das, was er so gerade schafft. Sie hat einen Herd gekauft, der sich automatisch ausstellt, wenn er vergisst, die Platten auszuschalten.

Sein Nacken schmerzt. Es sind die ersten Schmerzen, an die er sich am nächsten Tag noch erinnern kann, seit er den Unfall hatte.

Und auch am übernächsten Tag weiß er noch, dass der Schmerz zwischen seinen Schulterblättern saß, sich dann allmählich hinaufzog bis in seinen Hinterkopf und sich gegen Abend verflüchtigte.

Thijs unternimmt nach dem Mittagessen am Montag oder Dienstag oder Mittwoch oder….einen kurzen Spaziergang am Strand von Vrouwenpolder, wo die Muscheln unter seinen Füßen knirschen und blutende Kerben in seine Versen ritzen. Das Meer dehnt sich in seiner ganzen Pracht vor ihm aus, die Möwen lärmen. In den Dünen begegnen ihm Wildpferde, eine weiße Dammhirschkuh und zwei Füchse. HELENE. Den Weg nach Haus trägt er in seiner Westentasche, notiert auf einem Blatt Papier.

Als Helene von der Arbeit zurückkommt, liegt er auf dem Sofa und träumt, von einem, der am Strand spazieren geht und einem, der ihm jeden Tag sagt, wer er ist. Da ist ein Boot auf dem innehaltenden Meer. Es sucht einen Weg zum Ankerplatz,ohne auf die Felsen oder eine Sandbank zu fahren. Wie ein Stück Holz, das man mit dem kleinen Finger über das Wasser dirigiert, gleitet das Schiff schwerfällig und teilt das Wasser vor sich in Wellen. Der Steuermann lauscht auf seine Anweisungen. Thijs hält ein Lot ins Wasser und blickt aufmerksam nach unten. Er sieht sein Spiegelbild. Und Aus.

Jeder einzelne, so sagt der Arzt im weißen Kittel, bezieht seine Identität aus der Unterscheidung vom anderen. Distinktion, so sagt Dr. Jan-Kees Leopold Molenaar genannt Mootje, sei wichtig, damit jeder Mensch er selbst werden könne. Deshalb sei es wichtig, dass Thijs seine Freunde um sich habe, Menschen überhaupt. Denn erst im Wechselspiel von Gemeinsamkeit und Abgrenzung kristallisiere sich das Eigene heraus. Das sei bereits als Kind so gewesen. Mit dem Wachsen entferne man sich zunehmend von den Eltern und erlange Persönlichkeit. Helene. Graugrüne Augen. Schatz, träumt er.

Die Haustür geht und schlägt ins Schloss. Helene streichelt seinen Arm. Thijs erwacht. Es war mein Segelboot, denkt er. Sein Nacken und sein Kopf schmerzen. Morgen muss er zu Dr. Molenaar und ihm erzählen, wie es ihm geht.

„Ach, Helene… Menschenskind!“ sagt er, gähnt, erhebt sich, nimmt den zusammengefalteten Zettel vor der Couch auf und steckt ihn wieder in die Westentasche seiner Jacke, die über der Sessellehne hängt. „Thijs, du weißt meinen Namen, ohne nachzuschauen!“, ruft sie erfreut und nimmt ihn in die Arme. Schatz, denkt er. Das fühlt sich gut an.


© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.




Das Fahrrad

 von Maria Jürgensen …

An der Universität nannte man ihn Oblomov. Cornelis Adrianus Maria de Wit, genannt Kees hatte erfolgreich das zwanzigste Semester in Niederlandistik, Germanistik und Anglistik hinter sich gebracht und würde, wenn es so weiter ging, noch einige mehr hinzuzufügen. Der schöne Kees war niemand, der sich leicht verführen ließ. Nicht mal von seinen Eltern, die ihm das Landleben als Inbegriff menschlicher Existenz beschrieben. „Du lebst mitten in der Natur, wirst von ihr getragen und unterwirfst dich ihrem Gesetz. Du arbeitest in und für sie. Das ist das Schönste, was es gibt!“, erklärte sein Vater, der in Ede bei einer Landbaukooperative der Viehzüchter angestellt war und nebenbei einen eigenen Hof betrieb. Ständig in Bewegung zu sein, früh aus den Federn und mit den Händen in der Erde, das war sein Element. Kees aber entfloh der Provinz, entschied sich gegen sie und für die große Stadt. Schon als Kind liebte er es, Dinge in ihre Einzelteile zu zerlegen, sich ganz darin zu verlieren und gemächliche Spaziergänge zu unternehmen, bei denen er stets ein Fernglas bei sich trug. Er schaffte es als Ausnahmetalent und lesehungriger, aber liebenswerter Eigenbrötler trotz Widerwillens seiner Eltern an die Hochschule. Was seinem Vater der Boden, den er beackerte, waren ihm Bibliotheken, Buchhandlungen, Theater, Museen und Konzertsäle.

Das Fahrrad © Jürgensen - DüsseldorfKees war der einzige Student ohne Fahrrad. Dafür hatte er viele Freundinnen, die weniger an ihm als Mann interessiert waren, als dass sie Mitleid mit ihm hatten. Corine Fonteijn brachte ihm regelmäßig einen Topf Suppe mit. Astrid Aanbeek kaufte ihm einen Wecker, den er sogar nutzte, obwohl er häufig erst gegen zwei oder drei Uhr mittags aufstand. Ab und zu besuchte er sogar eine der nachmittäglichen Vorlesungen oder Seminare und verstrickte sich nach Herzenslust in Diskussionen mit den Professoren. Das bereitete ihm vor allem dann eine diebische Freude, wenn gewisse Herren zuvor eine weibliche, in ihren Augen zu ehrgeizige und kluge Studentin überheblich gemaßregelt hatten, sie vor dem Rest der Zuhörerschaft zu blamierten suchten und mit ihrem Wissen prahlten. „Du Wurm,“ dachte er dann und zahlte mit gleicher Münze zurück. Dabei legte er einen Eifer an den Tag, den man ihm, dem Phlegmatiker, gar nicht zugetraut hätte. Die Damen liebten ihn für seine Galanterie und Unterstützung in eigener Sache. Sobald sie jedoch mit ihm nur drei Sätze des Dankes gewechselt hatten, endete das ganze wieder mit Suppe, Weckern oder der Anregung, doch mal ein bisschen „aus den Pötten“ zu kommen. Er gab sich wirklich soviel Mühe, wie er meinte an Mühe aufwenden zu können. Schließlich fand er, dass die Damen mit allem, was sie sagten recht und viel Interessantes zu sagen hatten. Nicht eine Sekunde lang zweifelte er daran, dass er sein Süppchen wirklich selbst kochen und das Fahrradfahren lernen würde. Bei dem Vorsatz blieb es.

Kees wohnte in einem Mehrparteienhaus, das seiner Tante gehörte. Die recht geräumige Wohnung des alten Kaufmannshauses mit stattlichem Kamin, hohen Packhausbalkendecken und einem geweißten Steingutboden hatte an jedem Platz seine Bestimmung. Wohnen, Schlafen, Kochen, Arbeiten, Gäste, selbst wenn sie nie kamen, brauchten jeweils einen eigenen Bereich. Man kann sagen, dass jeder der fünf Räume seiner eigenen Ordnung gehorchte, obwohl die recht eigenwillig war. Wenn die Birne im Arbeitszimmer ihren Geist aufgab, saß er im Dunkeln, hing seinen Gedanken nach und wartete, bis er müde wurde und es Zeit war, zu Bett zu gehen. Erst im Schlafzimmer schaltete er wieder das Licht an und fand spielend durch das Labyrinth von Büchern, die überall in der Wohnung herumstanden und lagen, den Weg dorthin.

Nach dem Aufstehen ging er meist in die Stadt, oft, um noch ein Buch zu kaufen, immer, um einen Earl Grey zu trinken. Während die anderen Studenten ihre Liebschaften pflegten, zu Ende studierten und einen Beruf oder gar eine Berufung fanden, harrte Kees aus und korrigierte mit äußerster Brutalität und Präzision die Dissertationen seiner Mitstudenten. Kaputte Birnen tauschten die Freundinnen für ihn aus. Klausuren schrieb er, ohne dafür lernen zu müssen und er schrieb sie nur, um das Geld, das seine Eltern ihm als zusätzliches Salär neben seinem bescheidenen Einkommen als Korrektor gewährten, nicht zu verlieren. Ihnen gegenüber musste er Rechenschaft ablegen. Denn so sehr sie auch von seiner Auffassungsgabe und Klugheit beeindruckt waren, so gut kannten sie seine Neigung zur Faulheit und zum Müßiggang, wie sie es nannten. Die für die Prüfungen verliehenen Seminarscheine zeigten immer die volle Punktzahl. Er vergaß regelmäßig, sie im Sekretariat abzuholen, bis man ihn daran erinnerte. Das echte Leben schob er vor sich her.

Das echte Leben hieß Gerda und zog samt Fahrrad bei ihm ein. Es hatte einen großen Gepäckträger vorne und hinten und eine Flaschenhalterung am Querstreben zwischen Sitz und Lenker, in die sie eine mit Korb isolierte Flasche eingehakt hatte. Es war schwarz, fast zu groß für seine Besitzerin, aber ausgestattet mit einem edlen, ledernen Brooks-Sattel und einer Fahrradglocke, die Gott samt Petrus von jeder Wolke geholt hätte. Gerdas Vater war Deutscher und gemeinsam mit der niederländischen Mutter in Düsseldorf ansässig gewesen. Nun waren beide tot und Gerda wollte im Land ihres Vaters leben. Die zweite Muttersprache ging ihr wie selbstverständlich von der Zunge. Sie hatte jedoch die Angewohnheit, das ein oder andere rheinische Schimpfwort im Redefluss unterzubringen. So auch, als Kees ihr die Tür öffnete, um von nun an in der ersten Wohngemeinschaft seines Lebens Mitbewohner zu sein. Was er denn für ein „Knaaskopp“ sei, fragte sie ihn, als er, verschlafen und zerknittert um acht Uhr vormittags verdrossen auf das Klingeln der Türglocke antwortete und drückte ihm die Korbflasche mit Tee in die Hand. „Mein Freund, der Earl für Dich, zum Wachwerden, Liefje.“ Er hatte am Telefon von acht Uhr am Abend gesprochen. Eigentlich sollte sich Gerda nur als potentielle Untermieterin für das ehemalige Gästezimmer bei ihm vorstellen, doch sie brachte neben dem Fahrrad auch gleich ihr ganzes Gepäck und einen neuen Elektroherd mit und das auf eine so selbstverständliche Art und Weise, dass er sich aus lauter Bequemlichkeit den Widerspruch sparte und ihr sofort ihr Zimmer zeigte.

Er hatte sich zur Vermietung entschlossen, nachdem er zu der Erkenntnis gekommen war, größere finanzielle Freiheit bringe ihm größere Gelassenheit und fördere das präzise Betrachten seiner Lebensumstände und die Planung seiner Zukunft. Dafür sei es langsam, sehr langsam mal Zeit. Die kluge, winzige und sehr flinke Dame mit dem wachen Geist, wuselte durch die Wohnung und organisierte in Nullkommanichts Koch- und Putzpläne, schrieb Einkaufszettel und To do Listen und sang morgens so laut, dass an Schlafen bis in die Mittagsstunden nicht zu denken war. Seit Gerda bei ihm wohnte, herrschte geistiges Chaos bei ihm und er hatte alle Mühe, die neue Situation zu verkraften. Doch war es nicht nur fehlender Antrieb, der ihn daran hinderte, sie wieder zu ändern. Es keimte eine unerwartete Neugier in ihm, als sei Gerda ein Objekt, dass es, wie alles sonst, im Detail zu beobachten und sezieren galt. Ein solches Interesse am weiblichen Geschlecht war ihm neu.

Zunächst fiel ihr nicht auf, dass Kees seine Freundinnen um die Erfüllung der jeweilig anstehenden Aufgaben bat, da sie sich tagsüber außer Haus befand, um ihrer Arbeit als Betreuerin und Übersetzerin deutscher Autoren im Verlag De Bezige Bij nachzugehen. Dann traf sie Corine Fonteijn mit der Mülltüte, als die gerade die Haustür verschloss. Ob sie die Freundin vom „Muuzepuckel“ sei, fragte sie und Corine sah sie verständnislos an. „Ich hab nur die Küche geputzt,“ antwortete sie, „ich mach das gern für uns Keesje. Der kriegt das doch nicht auf die Reihe. Dafür liest er meine Hausarbeit Korrektur. Du bist die neue Gerda? “ Die lud Corine daraufhin erst mal zu Kaffee und Kuchen ins „De Juf“ ums Eck ein. Die angesengten Topflappen, die als Dekoration über der Kaffeetheke hingen, hätten als ein Symbol für die kommende, leise Verschwörung gelten können. Die beiden aßen Aardbeienkwarktart und Citroenmeringue, tranken Eistee und Earl Grey und füßelten zur Probe mit den ziselierten Fußbeinen der groben Tische. Das Ende vom Lied war, dass Gerda Kees am nächsten Tag ein Fahrrad kaufte und Corine und sie sich regelmäßig bei wechselnden kulinarischen Verführungen zum Tratschen über den Mitbewohner trafen, um sich in Sachen Lebensertüchtigung Gedanken zu machen. „Wir kitzeln aus dir schon noch ein Höppemötzje heraus,“ meinte der Hyperquirl in Kees‘ Leben und sah ihn kampflustig an. Kees brachte das nicht aus der Ruhe. Doch als sie ihm unterstellte, lediglich kein Talent zum Radfahren zu haben und sich deswegen nicht zu trauen, juckte ihm der Pelz. Großspurig stieg er auf das glänzende Gefährt und fiel ihr prompt vor die Füße. „Strike,“ sagte sie und ließ ihn liegen. Er rieb sich die Knie und übte von da an jeden Morgen, nachdem sie das Haus verlassen hatte, das Gleichgewicht auf zwei Rädern. Als er eines Morgens radelnd mit Brötchen vom Bäcker kam, als sie gerade zur Arbeit gehen wollte, staunte sie nicht schlecht. „Bengelsche, Du kannst es! Ich bin beeindruckt!“ und ließ sich zu einem zweiten Frühstück überreden.

Das Fahrrad veränderte alles. Einundzwanzigzweiundzwanzigdreiundzwanzig. Die Umdrehung der Pedale wurden zum neuen Rhythmus seines täglichen Lebens. Einundzwanzigzweiundzwanzigdreiundzwanzig, raus aus den Federn und wenn er schon mal draußen war, konnte er auch mal eben mit dem Rad zur Uni. Auch wenn das eigentliche Ziel, das Besorgen neuer bezahlter Korrekturaufträge gewesen war, verband er es – einundzwanzigzweiundzwanzigdreiundzwanzig – hin und wieder mit einem Abstecher ins Studentensekretariat und sorgte dort für Aufsehen, da er pünktlich seine Leistungsnachweise abholte. Und wo er gerade dabei war, konnte er sich auch endlich für die Zwischenprüfung anmelden. Kurz vor Schluss, aber gerade noch rechtzeitig, um vier Wochen später ein amüsantes Prüfungsgespräch mit zwei Professoren zu führen und das Examen mit Auszeichnung zu bestehen. Einundzwanzigzweiundzwanzigdreiundzwanzig kam ihm Gerda nach der Arbeit am Prüfungsabend entgegen und holte ihn zu einem Ausflug ab. Solche machten sie in letzter Zeit häufiger.

Gerda sah das Motorrad nicht, als sie aus der kleinen Straße in Richtung SintJan-Straat fuhr. Einundzwanzigzweiundzwanzigdreiundzwanzig Sekunden bis zum Tod. Der ließ sich keine Zeit. Der Motorradfahrer wich aus, schlingerte und wurde von einem Auto erfasst, das mit überhöhter Geschwindigkeit auf der Gegenspur fuhr. „Wie im Flug,“ murmelte
Kees wie paralysiert. Gerda ließ ihr Fahrrad fallen und rannte zum Verletzten, doch jede Hilfe kam zu spät. Sie schrie „Oh, mein Gott, ich bin schuld!“, sie weinte und brüllte gleichzeitig den Autofahrer nieder, der ungläubig am Straßenrand stand und die Beulen an seinem VW begutachtete. Wenig später erschienen Krankenwagen und Polizei und beruhigten Gerda, die Vorfahrt gehabt hatte. Das tröstete sie zwar wenig, nahm ihr aber wenigstens ein wenig von ihrem Schuldgefühl. Die trüben Augen der Leiche, die unter dem Helm zu sehen gewesen waren, verfolgten Gerda und Kees lange.

Gerda blieb im Bett und meldete sich krank. Kees hingegen stieg sofort wieder aufs Rad. Einundzwanzigzweiundzwanzigdreiundzwanzig. Sechzig Umdrehungen pro Minute. Herzrhythmus. Seines schlug noch. Er war am Leben. Er war nicht tot und Gerda lebte ebenfalls.

Jedes Mal, wenn er wieder zu Hause eintraf, lag Gerda immer noch oder wieder in ihrem Bett. Ihre dunklen Haare lugten zersaust und stumpf unter einer karierten Decke hervor. Nase und die Augenlider waren rot und geschwollen. „Du bist mein kleiner Oblomov,“ flüsterte Kees dann und strich ihr über das Haar. Einmal antwortete sie: „Wie kann das sein?“, ihr Gesicht der Wand zugewandt. „In einem Moment ist er noch da und im nächsten Moment ist er weg!“ „So ist das Leben,“ antwortet Kees ihr. „Es ist in einem Moment da und im nächsten ist es weg. Aber dazwischen….“ Er sprach das Ende des Satzes nicht aus und dachte nur: „….gibt es Gerda.“ „

Als hätten sie Rollen getauscht, war es nun Kees, der To do Listen schrieb, den Haushalt meisterte und sogar seinen Freundinnen mitteilte, dass er nun ganz gut allein zurechtkomme. Gerda fand ihren Rhythmus schwer zurück und verkroch sich daheim in ihrer Kammer. Als sechs Wochen ins Land gegangen waren, in denen Kees auf der Beerdigung des Motorradfahrers gewesen war, als Zeuge vor Gericht ausgesagt und dort auch Gerda zur Seite gestanden hatte, in denen er ihr Attest geregelt und ihr alle drei Tage frische Blumen mitgebracht hatte, denen sie kaum Beachtung schenkte, in denen er intensiv arbeitete und schrieb, kaufte er ein neues Fahrrad. Gerda hatte das ihre nicht mehr haben wollen und es Corine geschenkt. Das neue war stabil, hatte einen orangenen Rahmen und einen großen metallenen Transportbehälter an der Lenkerseite. Am Gepäckträger flatterte ein gelbes Fähnchen und auch die Glocke hatte diese Farbe. Niemand würde sie damit je wieder übersehen können.

So viele rheinische Schimpfworte wie an diesem Tag aus ihrem Mund kamen, hatte er selten von ihr gehört, obschon sie damit nie geizig gewesen war. Gerda weigerte sich strikt, wieder auf ein Fahrrad zu steigen.

„Und sie bewegt sich doch,“ dachte er und blieb hartnäckig.
Eines Morgens begab er sich mit Gerdas Korbflasche in ihr Zimmer und stellte sie auf ihren Nachttisch. „Zum Wachwerden, Oblomov,“ sagte er. Und dann begann Kees, Gerda ausführlich und nachhaltig das Leben zu erklären. Sein Leben. Er erzählte von seinen Eltern, wie er als Kind gewesen war, wie wichtig Bücher für ihn waren und warum er gerne Earl Grey trank. Er erzählte vom Langsamsein und davon, wie viel Freude es ihm mache, stundenlang etwas zu beobachten und ihm möglichst viel Beachtung zu schenken. „Das ist wie Niederknien,“ sagte er. „Und dann kamst du mit deinem Fahrrad, Herzchen.“ „Und dann kam ich,“ antwortete sie und wandte sich ihm zu. Und an diesem Tag war ich …., fuhr er fort, „einundzwanzigzweiundzwanzigdreiundzwanzig…. komplett.“


© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.




Der Berg hat gelesen

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https://www.youtube.com/watch?v=EgJ76mUAQ50

Video/Motion Design: Magnus Jürgensen


Ein herrliches Fest der Worte!

Es hat wirklich Spaß gemacht, oben auf dem Oelberg in Wuppertal-Elberfeld.

Leider sind in diesem Film aus der Alten Backfabrik nicht alle Autorinnen und Autoren zu sehen und vor allem zu hören, die es verdient gehabt hätten. Aber dennoch dürften die Bilder Lust auf einen Besuch dieses sehr überraschenden Teils Wuppertals mit seinem vielfältigen und spannenden Literaturprogramm machen. Spätestens in zwei Jahren wird der Berg wohl wieder lesen.




Termine

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https://www.youtube.com/watch?v=HAoGGIbBcSY

Video/Motion Design: Magnus Jürgensen


Programm der Alten Backfabrik01.10.2017

Der Berg liest

–> Maria Jürgensen, Dirk Jürgensen und Michael Schumacher sind drei von 24 Autoren, die im Rahmen von“Der Berg liest – Das Lesefestival“ in der alten Backfabrik aus ihren Werken lesen. Gesungen wird auch.

Michael Schumacher – liest ab 12 :30 Uhr aus „Zeitlinien“

Maria Jürgensen – liest ab 13 Uhr aus ihrem Menschenskind-Programm und singt

Dirk Jürgenesen – liest um 13 Uhr 30 und 21 Uhr aus „Norderschauholm“.

Eintritt frei

Beginn: 10 Uhr

Ort: Alte Backfabrik, Marienstraße 52a, 42105 Wuppertal

Dieser Termin ist leider Geschichte. Hier gibt Eindrücke von diesem herrlichen Fest der Worte.


Menschenskinder - © Entwurf: www.wittinghofer.de31.10.2017

Menschenskind

–> Drei Autoren und ein Pianist erzählen uns etwas vom Leben. Gewürzt werden Missgeschicke, Begegnungen, Skurrilitäten und Erinnerung mit einer Prise Chanson und einer großen Portion Melancholie und Witz.

Mit von der Partie sind Detlef Burket (Pianist und Sänger), Dirk Jürgensen (Autor), Maria Jürgensen (Autorin und Sängerin), Michael Schumacher (Autor).

Eintritt frei

Beginn: 19 Uhr 30

Ort: Sebastianushaus, Sebastianusplatz 9, 41516 Grevenbroich-Hülchrath


05.11.2017

Lesesession Borken

–> Gewandte Vorleser und Autoren tragen ihre Lieblingstexte vor, die entweder aus eigener Feder oder dem Bücherschrank stammen. Das Ganze wird begleitet von Musik. Maria Jürgensen und Michael Schumacher sind diesmal ebenfalls bei Claudia Wiemer in Borken zu Gast.

Eintritt frei

Beginn: 17 Uhr

Ort: FARB Forum Altes Rathaus Borken, Wilbecke 12, 46325 Borken