von Dirk Jürgensen ...
Von der Notwendigkeit utopischen Denkens
Wo liegt Utopia?
©Foto: Dirk Jürgensen – Düsseldorf
– Utopien sind wichtig. Sie markieren ein Ziel, Hoffnungen auf einen Ort, den es nicht gibt – noch nicht gibt. In unseren neoliberal geprägten Zeiten, die von einem kurzfristigen ökonomischen Pragmatismus unzähliger Einzelkämpfer geprägt sind, in denen jeder seine Chance zu haben glaubt, ist das Wort Utopie zu einer Art Schimpfwort verkommen, wie auch Idealismus zur Unvernunft mutierte. Gedanken an eine bessere Welt, an einen gerechten Staat werden gern als Hirngespinste
Man beachte angesichts meist in der Zukunft angesiedelter Utopien den Widerspruch! Dem ewig Gestrigen wird von vermeintlichen Vernunftsmenschen der Gegenwart die Unfähigkeit nachgesagt, das Normative des Faktischen hinzunehmen.
oder unverbesserlicher
Auch der widersinnig negative Gebrauch des Wortes Gutmensch passt in dieses Schema, das uns Solidarität und Gerechtigkeit aufgrund historischer und aktueller Erfahrungen des menschlichen Verhaltens als gescheiterte Träume erklären soll. Gerne wird diese Bezeichnung von eher rechtskonservativen Menschen verwendet, um die Bemühungen und Aussagen anders Denkender als absurd darzustellen. Der Autor dieser Zeilen wurde einst in einem Forum als „grün-bolschewistischer Gutmensch“ beschimpft und rätselt, froh, nicht als Schlechtmensch tituliert zu werden, noch immer, was einen solchen auszeichnet.
abgetan.
Was ist der Mensch ohne Träume, ohne Hoffnungen anderes als ein trauriges, willfähriges Instrument? Allenfalls kleine, beinahe armselige Träume und Hoffnungen von beruflichem und finanziellem Aufstieg sind als Antriebsmittel des Einzelnen in unserem kapitalistischen System verschiedener Ausprägungen zwischen USA, Europa, Russland und China erlaubt. Bloß nicht davon sprechen, dass ein Markt nur allzu gerne jene Teilnehmer gewinnen lässt, deren Methode es ist, andere übers Ohr zu hauen. Lieber mitmachen, sich anpassen, vor dem mühevollen Anstoßen von Veränderungen resignieren. Andere tun es schließlich auch und allein hat man keine Chance. Bloß nicht in gesellschaftlichem Format hoffen und träumen, gar die Förderung des Guten im Menschen als Aspekt des Fortschritts in Erwägung ziehen. Dazu fehlt uns die Zeit und die kostet bekanntlich Geld, unser wichtigstes Gut.
Etwas überraschend taucht in den letzten Jahren vermehrt der Begriff des
Eine Bezeichnung, die in Wirtschaftskreisen dieser Tage eine gewisse modische Umdeutung erfährt, wenn es darum geht, ausgetretene Pfade zu verlassen, wenn diese nicht mehr den gewohnten Einnahmeüberschuss erzielen lassen. Genauer betrachtet sollen diese Querdenker nur eingefangen, domestiziert und an die erforderlichen Abläufe angepasst und möglichst nur Teile ihrer Ideen verwendet werden. Zu entschieden quer würden diese Denker den Weg zum ökonomischen (welchen auch sonst) Erfolg versperren, der letzthin doch wieder der ausgetretene zu sein hat. Zudem ist der Querdenker im heutigen Wortgebrauch der Nachfolger des etwas in die Jahre gekommenen und lange arg strapazierten Visionärs, der letzthin nur eine erfolgreiche Geschäftsidee hatte.
auf. Dabei sind gerade Utopisten Menschen, die ihr Querdenken und ihre Visionen umfassend formulieren, statt ihre im vorherrschenden Zeitgeist schräg zu nennenden Einfälle nur auf einen Arbeitsablauf oder eine Marketingstrategie auszurichten. Utopisten haben im Gespräch mit Personalverantwortlichen keine Chance, sind zu unbequem in einer bei gleichzeitiger Gewinnoptimierung nach „Convenience“ strebende Welt, in der es zählt „
smart“, also pfiffig, flink, schlau, elegant, gerissen oder adrett zu sein.
Nach dem Wandel großer sozialistischer Projekte in Diktaturen, in Wirklichkeit gewordene
Machmal könnte man glauben, die Utopien wären uns verleidet, nachdem uns – natürich angesichts historischer und gegenwärtiger Erfahrungen – nur Dystopien präsentiert wurden. Diese Anti-Utopien kehren das Bild einer Utopie um, zeigen uns Diktaturen, Repression und totale Überwachung. Weitere Begriffserklärungen und Beispiele sind bei
Wikipedia zu finden.
, ihrem Zusammenbruch und dem darauf folgenden globalen Siegs des Kapitalismus, der uns alltäglich im Misstrauen gegenüber jeden Begriff schulte, der das Präfix Sozial- besitzt, erscheint es kaum möglich, ausgerechnet neue Sozialutopien zu entwickeln.
So leben wir
Dass es gar nicht so wenige sind, beweist ein Buch mit Film von Isabelle Fremeaux und John Jordan, das bei Nautilus unter dem Titel
Pfade durch Utopia erschien und von einer Reise kreuz und quer durch Europa zu ganz unterschiedlichen utopischen Projekten erzählt.
in einer Welt, in der uns Utopien fehlen und somit ohne ein Bild, auf dem es unsere Kindeskinder einst jenseits einer perfektionierten elektronischen Ausstattung ihres Lebensumfelds wirklich besser haben. Schließlich wird niemand behaupten, dass wir bereits heute in der besten aller möglichen oder gar wünschenswerten Welten leben. Oder doch? Hat das neoliberale Streben ein wünschenswertes Ziel jenseits des ökonomischen Prinzips (nach dem mit einem möglichst geringen Einsatz der größtmögliche Erfolg eingefahren werden soll) im allumfassenden Marktdenken?
Manager und Politiker erzeugen, verwalten und bekämpfen Krisen, langfristiges Denken findet keinen Platz im viel zu engen Terminkalender. Wir Kunden, Verbraucher, Arbeitnehmer, Wähler und Journalisten tragen eine große Mitschuld daran. Wir lassen es zu, weil auch wir es nicht besser wissen und nicht die Zeit nehmen, Ideen zu entwickeln.
So ist es wohl sinnvoll, sich an bereits verfasste Utopien und ihre Verfasser zu erinnern. Sie mögen uns manchmal etwas verstaubt, ihre Zukunftssicht technisch längst überholt vorkommen. Doch können sie uns helfen, neue Utopien, ein Ziel zu definieren, das uns glaubhaft und erstrebenswert erscheint. Gerne kann man die Lektüre mit Platons Politeia oder die erste wirkliche und dem Genre einen Namen gebende Sozialutopie von Thomas Morus Utopia beginnen, doch ich möchte auf ein in seiner Zeit außerordentlich erfolgreiches Werk aus dem Jahr 1887 erinnern, das erstaunlich aktuelle Züge aufweist und unbedingt lesenswert ist.
Originaltitel „Looking Backward: 2000-1887“
von Edward Bellamy wurde 2013 bei
Goldkonda in einer sorgsam zusammengestellten Ausgabe mit der Übersetzung von
Clara Zetkin neu herausgegeben.
Eine Besprechung des Romans Rückblick aus dem Jahre 2000 ist in Vorbereitung.
Ein Nachwort
Dieser Beitrag ist der Beginn einer Reihe, in der ich mich mit dem Fehlen neuer Utopien befassen und ohne chronologische Rüchsichtnahme auf bisher verfasste Utopien verweisen werde. Manchmal mögen meine Gedanken etwas unbedarft ins Unreine formuliert sein, aber einen wissenschaftlichen Anspruch verfolgen sie ohnehin nie. Vielmehr möchte ich angesichts einer von ökonomischer Kurzfristigkeit geprägten Zeit ohne humanistische, soziale Ideale zu utopischem Denken anregen. Denn ohne Ziel bereitet der Weg nur begrenzten Spaß.
Hier geht es weiter: Wir brauchen Utopien