Nationales Nervensägen unter Freunden: Warme Worte zum WM-Start (2006)
Zu Gast bei Zu Gast bei Freunden. So lautete das sehr positve Motto der Fußball-WM 2006 in Deutschland, die später zum „Sommermärchen“ mutieren sollte. Bevor davon die Rede sein konnte, erschien dieser Beitrag im Online-Magazin Einseitig.info und stellte meine Genervtheit dar, die die allgegenwärtigen Nationalsymbole beim mir auslösten und auch in diesen Tagen (2014) wieder ausgelöst werden. zu Ehren des Gastgebers
– Aus allen Richtungen wird mir Vorfreude auf die Fußball-WM befohlen und ich bin tatsächlich froh, wenn sie endlich losgeht, die WM unter all den zahlenden Freunden – aber ich bin noch viel froher, wenn sie endlich vorbei ist, zumindest, wenn die deutsche Mannschaft endlich das Turnier verlässt. – Schande über diesen Wunsch!
An der Mannschaft unter Trainer Klinsmann liegt es nicht. Sie ist jung bis unbekümmert, recht bunt besetzt – der Bayernanteil ist trotz des kurzfristig hinzugerechneten Neubayern Podolski angenehm gering – und sie könnte mit dem Charme eines vielgeliebten Verlierers sogar fast das Herz eines Fans erweichen, das viel heftiger für den lokalen Heimatverein, als für die Auswahl seiner unübersichtlichen Nation schlägt. Also meines. Doch es wird meinem Herzen wohl unmöglich gemacht, dieses sympathische Gefühl herauszubilden. Daran kann und wird die Mannschaft und ihre vielköpfige Übungsleitung kaum etwas ändern. Da kann sie die Spiele vorne noch so offensiv und hinten noch so offen gestalten. Woran es liegt, möchte ich im Folgenden begründen.
Vorab für ungeduldige Seelen:
Es ist das allgegenwärtige Schwarz-Rot-Gold. Es ist das Problematisieren eines vermeintlichen Fehlens des Nationalgefühls als Problem. Das ständige Hymnenspielen. Es ist die Werbung. Es ist das „Wir“.
„Zu Gast bei Freunden“, das war 1972 aktueller als heute.
Es fällt mir erst in diesen Tagen bundesdeutscher Farbenballung auf: Einst war Deutschland ein recht angenehmes Land, das aufgrund seiner Angst verbreitenden Vergangenheit gelernt hatte, unbeschwert, freundlich, weil von nationalem Gehabe unbelastet mit seiner eigenen Gegenwart und europäischen Zukunft umzugehen. Sein Ruf verbesserte sich stetig. Man erinnere sich allein an den herrschenden, sich selbst zurücknehmenden Geist zu Beginn der olympischen Spiele in München (der leider von einer terroristischen Tat in den Schatten gestellt wurde).
Man nehme die Eröffnungsveranstaltung: Das Einmarschieren der Mannschaften wurde nicht wie es von Deutschlands militärischer Gleichschrittstradition erwartet wurde, vorbildlich für alle folgenden Sportveranstaltungen von Weltrang, von einer geschmeidigen Big-Band begleitet. Nicht allein damit wurde ein Deutschlandbild in die Welt getragen, das sich vom stets nach hinten, in eine vermeintlich glorreiche Vergangenheit gerichteten Nationalismus herrlich abhob. Deutschland präsentierte sich 1972 freundlich, locker, modern und optimistisch – international, offen und ordnete seine eigene Fahne der olympischen unter. Die „heiteren Spiele“ Münchens hätten auch die „zu Gast bei Freunden“ sein können.
Ich höre Vorwürfe der Verherrlichung, womöglich von Unwahrheit, wenn ich so etwas sage. Spreche ich vom eben dargestellten Bild, klingt es zutiefst undeutsch. Es ist von dem sich selbst bestätigenden Begriff des ewig grübelnden Miesmachers weit entfernt. Es klingt gar nicht so, wie uns heutige Medienvertreter und Werbestrategen immer wieder das alte Vorurteil aufgreifend vorkauen. Dabei kann ich diese Menschen gut verstehen und will auch gar nicht der Deutschen Hang zum kritischen Geist verschweigen. Worauf hätte auch die zuerst belächelte und nun zum Volksgut erhobene Du-Deutschland-Kampagne aufspringen sollen? Jene Aktion, die täglich in Fernsehdiskussionen nachhallt, deren Zweck es ist, aus dem Fehlen eines Nationalstolzes ein Problem zu machen.
Im Schlepptau der Kampagne müssen wir nun auch naive Bildbände voller schöner deutscher Plattheiten und Textbände fadenscheiniger Begründungen ertragen, die allen In- und Ausländern erklären wollen, warum man ausgerechnet Deutschland und dessen Bürger lieben sollte. Gerne wird angeführt, dass man im Ausland angesprochen wird, warum wir Deutschen nicht endlich den Rucksack der Vergangenheit in die Ecke schmeißen und warum wir zum Beispiel keinen Nationalfeiertag mir Pauken und Trompeten begehen und allen erzählen, wie toll wir sind. Könnte man in diesem Falle nicht einfach und mit fester Stimme antworten: „Lieber Freund, wir brauchen das nicht!“ Deutschland hat in jüngerer Zeit bewiesen, dass Selbstkritik der wichtige erste Schritt zur Besserung ist.
Das Problem ist die Diskussion an sich und nicht das Fehlen des Nationalgefühls, wie es in oft unerträglichem Maße Franzosen oder Amerikaner demonstrieren, wahrscheinlich zur Kompensierung eigener Ängste, aus Trauer um verlorene Macht oder einfach aus einem Gefühl der Minderwertigkeit heraus. Das Problem ist die Diskussion selbst.
Wir benötigen keine Neiddebatte, wo „wir“ – ungern benutze ich diese Verallgemeinerung des „Wir“, denn allzu viele von „uns“ sind anderer Meinung – besser sind und es besser haben. „Wir“ sind auch ohne ständiges Voraugenhalten der deutschen Trikolore (einer gescheiterten Revolution) Exportweltmeister geworden. Das Markenzeichen „Made in Germany“ funktionierte in schwarzweiß und den allergrößten internationalen Ruhm hat uns in jüngerer Vergangenheit das „Nein“ zum Irakkrieg eingetragen. Gerade ein offensiv friedliches Deutschland gab der Welt damit nämlich ein Zeichen von erwachsenem Selbstbewusstsein und vom Erfolg des Lernens aus der Geschichte. Endlich einmal eine brauchbare und zum Vorbild genügende deutsche Tugend, sei sie primär oder sekundär, die dem einen oder anderen Klassiker gefallen hätte.
Würde Heinrich Heine heute leben, hätte er vielleicht aus seinem Vorwort zum „Wintermärchen“ wiederholt: „Pflanzt die schwarzrotgoldne Fahne auf die Höhe des deutschen Gedankens, macht sie zur Standarte des freien Menschtums, und ich will mein bestes Herzblut für sie hingeben.“ – Doch ihm wäre – da bin ich mir sicher – angesichts der allgegenwärtigen Forderung, welches Bewusstsein Deutschland in Folge teurer Imagekampagnen, großer Koalitionen und Fußballweltmeisterschaften unbedingt nötig hätte, übel geworden.
Die Deutsche Hymne hat eine schöne Melodie und ihr Text ist friedlicher Natur, man höre sich dagegen beispielsweise einmal die italienische an. Bei ihrem Text wird einem, wenn sie im flotten Operettentakt vorgetragen wird, angst und bang. „Lasst uns die Reihen schließen, wir sind bereit zum Tod, wir sind bereit zum Tod, Italien hat gerufen!“ Francesco Tottis ständig wiederholtes Sterben im Strafraum des Gegners bekommt so eine wirklich martialische und damit verständliche Dimension der erfolgreichen Pflichterfüllung.
Wie friedlich demokratisch klingt dagegen „Einigkeit und Recht und Freiheit sind des Glückes Unterpfand.“ Doch wer hört schon hin? Bei beiden Texten. Wer wartet nicht auf das Ende und den Anfang des Spieles, wenn eine Operndiva, eine Schlagersängerin oder manchmal auch Heino – Vorsicht ist in seiner Wahl der Strophen geboten! – einen sportlichen Wettstreit eröffnet? Was hat das mit dem Spiel zu tun? Auch ohne staatliche Erkennungsmelodie würden die Fans „ihre“ Sportler, meist in Berufsausübung, erkennen, bejubeln oder auspfeifen.
(Ganz nebenbei und jenseits der WM: Was soll das Nationale beim Abschluss der Eishockey-Liga, beim Finale des DFB-Pokals? Man hat es doch während der Saison nicht gebraucht. Es geht wirklich ohne – manch ein Verein hat seine eigene Hymne. Wenn Amerikaner stehend, mit der Hand am Herzen, ihr nationales World-Series-Finale im Brennball – Verzeihung! – im Base-Ball eröffnen, dann ist es ihre Sache. Sie werden wissen, warum sie eine Veranstaltung, die Spaß bereiten soll, wie die Ankunft ihrer fern der Heimat gefallenen Krieghelden feiern. Deutschland braucht das nicht. Hier weiß man, dass der Gewinn einer Fußball-Bundesliga-Meisterschaft in Texas oder Bangladesh nichts zählt. Hinterher wird trotzdem getrauert oder gefeiert. Völlig unmilitärisch. Mit „We are the Champions“, “Olé, Olé, Olé” und „You´ll never walk alone“ – da ist sogar die eigene Sprache vergessen, denn Fußball ist nicht nur auf´m Platz international – es zählt die Ehre des Vereins, das eigene Hochleben und die Nation bleibt außen vor. Sie stört nur. Bei Einer EM oder WM kommt hinzu, dass es sich um Wettkämpfe zwischen Sportverbänden und glücklicherweise nicht zwischen Staaten handelt. Diese würden Wettkämpfe gern mit Kriegen gleichsetzten. Warum also wehen nicht die Wimpel dieser Verbände an den Autos und Fensterbänken?)
Die/Meine persönliche Beziehung zur Nationalmannschaft ist etwas schwierigerer Natur. Aufmerksame Leserinnen und Leser werden es ahnen.
In Deutschland wurde lange eine gewisse Zurückhaltung geübt. Angefeuert wurde schon, aber in der Regel mit Rücksicht auf den Nachbarn. Vielleicht weil das Nationale, „Deutschland“ laut im Chor gerufen, einen bösen Unterton hatte; vielleicht, weil es noch verhältnismäßig wenige national geprägte oder einfach unsensible Rufer in den Stadien gab, die den Ruf „Deutschland“ auch noch mit „Sieg“ kombinierten. Das hat sich, die WM wird meine Befürchtungen belegen, leider geändert. Hinzu kommt, dass vor einigen Jahren noch das „Wir“ und das Bezeichnen der Mannschaft als „unsrige“ durch einen Reporter noch verpönt war, wenn es nicht sogar untersagt war. Gut, bei im Stadion oder an der Glotze mitleidenden Zuschauern hätte ich noch ein gewisses Verständnis, wenn es ihnen ab und an herausrutschte. Der Fan ist Teil der Mannschaft. Er fühlt sich zumindest so und ein Stadionbesuch verlangt Identifikation. Nur ein schönes Spiel sehen zu wollen, klingt immer verlogen.
Doch heute wird diese Identifikation übertrieben. Alle Rundfunkmenschen, Filmsternchen, TV-Talkmaster und Schlagersänger reden von „unserer“ Mannschaft, davon, dass „wir“ Weltmeister werden, egal wie gering das Interesse am Fußball ist. „Ich“ und „du“ sind Deutschland, Papst oder Kaiser. Wenn ein Deutscher Weltmeister im Hallenjojo würde, dann wäre auch „ich“ Hallenjojoweltmeister und fände den Sport schon immer ungemein interessant. Dagegen ist Fußball natürlich eine andere Hausnummer. Jetzt haben „wir“ gefälligst alle gemeinsam mit „unserer“ Wackelabwehr mitzuzittern. Denn jetzt geht es mehr als um eine schnöde Meisterschaft. Es geht um die deutsche Identität im publikumswirksamsten Sport der Welt. Um das globalisierte „Ich“, nein „Wir“. Es geht vielleicht um die Ehre, als Gastgeber den angereisten Freunden gegenüber nicht versagen zu dürfen und um ein Wunder wie in Bern, als „wir uns“ wieder wie „Einer“ fühlten. Im Fußball – damals noch nicht in der Politik.
Schlimm, wenn sich ein sportlich-legitimer Erfolgswunsch einer alles umfassenden Nationalkampagne in einer mir unerträglichen Weise unterordnen muss. Ihr Ziel bleibt mir, wenn es außer der großzügigen Verteilung von Werbebudgets noch eines gibt, verborgen. Besser: Ich will ein Ziel lieber gar nicht kennen. Schlimm, wenn ich an die bedrohlichen Lettern auf der Titelseite der Bildzeitung denke, sollte die deutsche Mannschaft im Achtelfinale ausscheiden, ohne mit genügend wehenden Fahnen unterzugehen. „Klinsi macht uns zum Gespött!“ „Deutschland, ein Trümmerhaufen“, „Die peinliche Vorstellung unserer Jungs“. Ob die Bildzeitung im letzten kolportierten Zitat noch dieses Pronomen verwendet, will ich bezweifeln. Schnell würde das Versagen jedenfalls nicht mehr zu „unsrigem“, sondern zum persönlichen der Spieler oder Trainer. Zum Glück dürfte das Schmerzensgeld „unserer“ Stars über das Gröbste dieser Schmach hinweghelfen. Klinsi weiß schon jetzt, warum er lieber seinen Wohnsitz in Kalifornien behält und den Bundestrainerjob als Episode in der Ferne sieht. So weit – bis zum Ausscheiden der deutschen Mannschaft – ist es noch nicht. Deutschland (das ganze Land?) war schon immer eine Turniermannschaft. …
Bis dahin – meine Hoffnung liegt in dieser Terminierung – müssen meine Augen die ständige Belästigung durch die Farben SRG (Schwarz-Rot–Gold) ertragen. Jener farblichen Ausmalung des eingehämmerten „Wir“.
Überall SRG! „Warum auch nicht?“ wird man mich fragen. „Die Briten, Franzosen, Holländer und vor allem die Amis machen es doch auch.“ „Na, und?“ werde ich antworten. „Müssen wir denn alles nachmachen – oder gar verschlimmern?“
SRG auf der Chipstüte, SRG in jedem Schaufenster vom Baumarkt bis zum Friseur, SRG auf sonst gar nicht so konservativen Zeitschriften, SRG in Autoscheiben hängend oder klebend, SRG auf Duschgels, SRG in der Bettenabteilung und sogar in Fenstern teurer Designerläden, schlichtweg SRG in allen Lebenslagen. – Ginge es um die Fußballweltmeisterschaft und wollte man den Gastgeber rühmen, würde das Schwarzweiß des DFB-Wappens genügen. Auch geht es nicht um eine Veranstaltung der Fifa. Es geht allein um SRG.
Nicht nur der kommerzielle Bereich ist farblich grell verseucht, auch der private. Besonders in Stadtteilen, die man unseren befreundeten Gästen lieber als no-go-area verheimlicht, wird in diesen Tagen neben der Ferrari-Flagge massiv SRG gehisst. Meist auch noch in der Version mit dem kantigen Adler in der Mitte. Die ist günstig am Hauptbahnhof zu erwerben, aber eigentlich allein den Bundesbehörden vorbehalten. Ist die für die private Verwendung nicht sogar verboten?
Ach, da wird niemand kleinlich sein. Hauptsache SRG. Auch Aldi und seine Mitbewerber bieten mehrere Quadratmeter große Banner, deren Einsatz nicht mehr allein zu befürchten ist. Deutschland ein schwarzrotgoldenes Heer, Verzeihung: Meer.
Einzig die brasilianische Fahne hat noch geringe Chancen auf Wahrnehmung und Behauptung. Das liegt einzig und allein an der Favoritenrolle der brasilianischen Mannschaft und dem Glauben an ihre Unbezwingbarkeit. Nach dem Motto: Wenn schon nicht SRG, dann bleibt „uns“ wenigstens die Identifikation mit den Siegern.
Dann darf die WM in der no-go-Trabantenstadt auch nach dem Achtelfinale noch unter maßgeblicher Beteiligung der nicht ganz so feindlichen Fremden weitergehen. Und in intellektuell dominierten Wohlstandsvierteln beginnt mit etwas Glück wieder die Pflege der deutschen Bescheidenheitstugend vergangener Jahre zu wachsen. – Ein zugegebenermaßen frommer Wunsch nach Erholung unter Freunden.
09.06.2006 – © Dirk Jürgensen – Veröffentlichungen des Textes, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.