2013 – Ein Jahr, wie wir es noch nicht kannten
Wir hatten die Wahl und wählten nicht
Wann war diese Bundestagswahl nochmal? Ist jedenfalls schon etwas länger her. Egal.
Das mit der neuen Regierung dauerte dann auch noch etwas. Und da sie nun dank des erwarteten Votums der SPD-Mitglieder endlich im Amt ist, wird sich im Land ohnehin nicht viel ändern. Mit einer Großen Koalition ändert sich nie viel. Weil ihr Hauptanliegen der Kompromiss ist. Eindeutige Richtungen jenseits des Mittelmaßes, gar grundlegende Überzeugungen oder Idealismus sind dem abträglich. Da hilft es auch nicht, dass Ursula von der Leyen jetzt von der Familie zur Verteidigung Deutschlands an den Hindukusch wechselte. Übrig bleibt hinterher eh die ewige Kanzlerschaft Angela Merkels und die Tatsache, dass die Wähler dem im TV-Duell der Kandidaten geäußerten Wunschbild ihres Vordenkers Stefan Raab entsprachen, und in ihrer entschiedenen Unentschiedenheit eine Große Koalition erzwangen. Nur der vermeintliche „King of Kotelett“ Peer Steinbrück mochte dem Entertainer nicht folgen und zeigte eine für einen Politiker seltene Konsequenz.
Natürlich müssen wir der neuen Regierung eine Chance geben. Doch ich gebe ihr keine große. Die Probleme auf und mit der Datenautobahn, die Helmut Kohl aufgrund seiner Unkenntnis einst zur Ländersache im Straßenwesen degradierte, ist jetzt Sache des Verkehrsministeriums, das in junger Tradition einem Vertreter der CSU zufallen muss. Ich werde den Gedanken nicht los, dass sich Alexander Dobrindt für das Ressort der Netzsicherheit allein aufgrund seiner optischen Modernisierung samt Nerdbrille unausweichlich gemacht hatte. Alternativ wäre das Netz höchstens dem für die Fischerei zuständige Ministerium für Landwirtschaft und Ernährung zuzuordnen gewesen. Viel zu tun bleibt Dobrindt zumindest im Gebiet der Datensicherheit nicht, denn bekanntermaßen hatte Ronald Pofalla die NSA-Affäre längst als beendet erklärt.
Wähler- und Nichtwählerbashing ist angesagt
Jeder mosert und keine macht was. Oder wie der 2013 trotz seines hohen Alters viel zu früh verstorbene Dieter Hildebrandt sagte: „Mich regt die Tatsache auf, dass sich niemand aufregt.“ Oder wie der ebenfalls in diesem Jahr und trotz seines Alters von 95 Jahren ebenfalls viel zu früh verstorbene Stéphane Hessel in unser aller Pflichtlektüre aufrief: „Empört Euch!“ – Nö, sagen die Bürger. Die machen ja doch, was sie wollen oder was die Banken wollen. Nö, ich geh nicht wählen und wenn, dann wähle ich die Merkel. Mit der bin ich nicht zufrieden, aber andere Parteien können es auch nicht besser und die Grünen wollen mit die tägliche Leberwurst vom Brot nehmen.
Nach dieser Entscheidungsschwäche seitens einer fast schon einfältig kreuzenden Wählerschaft gibt es einen löblichen Lichtblick, der uns aus den Stimmkabinen herausschimmerte: Ich meine damit den längst überfälligen Rausschmiss der FDP aus den Bundestag. Jener FDP, die zuletzt nur noch die marktradikale Partei war, die viele Jahrzehnte mehr Einfluss als Mitglieder besaß, deren Liberalismus einzig mit der Vorsilbe Neo beschrieben werden konnte und im Dienste einiger Lobbyverbände stand.
Im Fußball, wenn die Mannschaft keine Leistung bringt, wechselt man den Trainer aus, obwohl dieser keine Tore schießt oder verhindert. Wenn in einer Partei eigentlich die Mitglieder ausgetauscht gehören, weil sie die Partei in eine falsche Richtung haben treiben lassen, wird die Führungsriege ausgetauscht. So wechselte die FDP den zuvor geschassten, sehr dynamischen, doch wohl nicht sehr erfolgreichen Unternehmer Christian Lindner ein. Nur ein Beispiel aus Wikipedia sei erwähnt: „Im Mai 2000 gründete Lindner zusammen mit drei weiteren Partnern die Internet-Firma Moomax GmbH. Die Anschub-Finanzierung von ca. € 1.000.000 erfolgte mit öffentlichen Mitteln durch die Kreditanstalt für Wiederaufbau. Lindner war von 2000 bis 2001 Geschäftsführer und verließ dann das Unternehmen, das kurze Zeit später Insolvenz anmeldete.“ Kann passieren.
Nun scheinen sich die Atome dieser Gruppierung so langsam wieder vereinigen. Unbelastet von Regierungsverantwortung lässt es sich eben locker agieren und der Druck der Lobbyisten besser aushalten. Trotz der ihr zustehenden gesellschaftlich eher geringen Bedeutung mehren sich nun auch auffällig positive Berichte in der Presse. So titelte die Süddeutsche gar ein Interview mit Lindner „Wir sind keine Kapitalisten.“ Er meinte damit seine Partei. Vermutlich ein Witz. Einer, den die für den Deutschlandtrend der ARD vom Dezember 2013 Befragten noch nicht kannten. Dennoch meinten bedrohliche 59% der Befragten, „es wäre schade, wenn die FDP in der dt. Politik keine Rolle mehr spielen würde.“ Allerdings würden als Ergebnis der gleichen Umfrage nur 3% die Traute haben, die FDP zu wählen. Da kann ich mir das erneute Wählerbashing ja noch etwas aufsparen.
Atom, Atom, immer wieder dieses Atom
Während der GAU (der größte anzunehmende Unfall) im japanischen Fukushima sich 2013 und vermutlich darüber hinaus permanent durch GAP (größte anzunehmende Pannen) erweitert wird, verschwindet wegen der nur sanft gestreuten Nachrichten die Gefahr nach und nach aus unseren Köpfen. Die Atomlobby dreht wieder an dem Rad, dass die schwarzgelbe Regierung vor gar nicht langer Zeit zum Ausstieg aus dem Ausstieg veranlasste. Bald, so kann man befürchten, werden sich wieder ein paar Promis von der Nuklearindustrie einspannen lassen und uns erklären, wie kostengünstig und sicher der Atomstrom doch sei und „Mut und Realismus für Deutschlands Energiezukunft“ notwendig sei. Ob Oliver Bierhoff im Jahr der Fußball-Weltmeisterschaft unter ihnen sein wird, oder ob er seinen einstigen Mut heute als Leichtsinn versteht und Realismus als durchaus wandelbaren Begriff, ist nicht zu erwarten. Sechs Tage nach dem GAU, am 17. März 2011 hieß es im Hamburger Abendblatt noch, „Der Manager der Fußball-Nationalmannschaft unterzeichnete im vergangenen Jahr den Atom-Appell und sagte danach, er stehe dazu. Als das Abendblatt ihn gestern nach seiner aktuellen Gesinnung fragen wollte, ließ sein Sprecher ausrichten: Bierhoff sei ‚aufgrund verschiedener Termine nicht erreichbar‘.
Bayern geht in diesem Zusammenhang wieder einmal voran. Jene deutsche Provinz, in der offenbar der Stillstand angesichts rückwärts laufender Uhren schon als Fortschritt gilt, werden bereits Forderungen einiger Wirtschaftsvertreter laut, nach denen man das Kernkraftwerk Grafenrheinfeld länger als beschlossen laufen lassen solle. So fängt es an und die Energie-Lobby wird sich von einer Großen Koalition in Berlin „Kompromissbereitschaft“ erhoffen und an dieser arbeiten. Die Meldungen über eine viel zu teure Energiewende, die gerade der Kleine Mann auszubaden habe, werden sich im Zuge dessen mehren, denn die großen Konzerne wissen, dass sie haben. Bürger, Wähler und Stromkunden sollen die fehlende Flexibilität von Dinosauriern ausbaden, während die Firma TEPCO in Japan wieder eine Panne vertuscht.
Die NSA liest alles
Ob sie auch dieses Machwerk liest? Oder ob ich es noch mit ein paar Fährten, wie Bombe, Attentat, Anschlag, doofe Amerikaner, Taliban oder Whistleblower Snowden legen muss? Nein, die NSA liest alles. Sogar die SMS der Kanzlerin, was jedoch aufgrund der oben bereits erwähnten Beendigung des Skandals durch ihren Ronald Pofalla kein Skandal mehr ist. Ob sie versteht, was sie liest, ist ein ganz anders Thema. Daten werden gesammelt. Allüberall. Auch von anderen Geheimdiensten, von großen und kleinen Wirtschaftsunternehmen, von wem auch immer. Sie sollen der zu steigernden Sicherheit einer Mehrheit oder einer Minderheit dienen, sollen Werbung zielgenauer, somit einerseits effizienter und andererseits noch nerviger oder listig-unmerklich machen, den Konsum steigern.
Der Große Bruder unserer Zeit hat kein Gesicht. Darin unterscheidet sich unsere Wirklichkeit von Orwells Dystopie 1984. Nicht einmal seine Macht ist spürbar. Vielleicht ist sie – bis auf ein paar Spam-Mails mehr – auch (noch?) gar nicht vorhanden. Aber sie müht sich, wenngleich es sich um mehrere Brüder handelt. Die NSA ist da nur ein Baustein, ein Bruder, ein Teil all jener Organisationen zwischen Staat und Unternehmen, zwischen Facebook, Apple, die sich längst verselbständigt haben. Sie sammeln alles und bauen daraus ein Geflecht, das aus persönlichen Informationen, aus Kaufverhalten, aus Meinungen, aus Vorlieben, aus räumlichen Bewegungen oder Bewegungen virtueller Art, Kontoständen, Bildern und unzähligen anderen Knoten besteht. Das Geflecht lässt eine Realität entstehen, die sich durchaus von der Realität des Einzelnen unterscheiden kann oder gar muss. Ob ich mich in einem solchen Profil wiedererkennen würde? Manchmal, wenn mir vollkommen uninteressante Dinge angeboten werden, weil ich andere Dinge gekauft oder nur angesehen habe, bin ich mir sicher, dass ich mich nicht erkennen würde. Eine Ungenauigkeit, die vermutlich mit der noch zu kleinen Datensammlung zu begründen ist. Man arbeitet an der Verbesserung, an einer Verbesserung, die einseitig zu verstehen ist.
Die Folgen des Jahres 2013
So mache ich es mir im neuen Jahr 2014 zur Aufgabe, etwas subversiver, einen Deut anarchistischer zu sein. Ich werde im Internet, irreführende Fährten legen, bei Amazon zuerst 25 Artikel anschauen, die ich niemals kaufen werde, um hinterher einen ganz anderen Artikel zu erwerben. Oder gar nicht dort, sondern im Oldschool-Einzelhandel, nachdem ich mich im Internet über die Eigenschaften des Produkts informiert habe. In bar und ohne Kundenkarte oder Ratenvertrag. Ich werde unter falschem Namen Werbebroschüren der FDP anfordern, werde zahlreiche Facebook-Accounts anlegen und veröden lassen, werde bei allen Preisausschreiben mitmachen und Angelika Merkel als Teilnehmer eintragen und jede von mir verfasste E-Mail in Kopie der NSA zukommen lassen. Das erleichtert deren Arbeit etwas und mal ehrlich, soviel Service sind wir unseren Freunden schuldig.
Abschließend bemerkt
Wie jeder Jahresrückblick kann auch meiner nur einen winzigen Bruchteil dessen abbilden, was sich in einem Jahr ereignete, was an Interessantem übrig blieb. Um Vollständigkeit sollen andere Chronisten ringen. Bei allem Streben nach Informationsmasse, kann heute niemand einigermaßen sicher abschätzen, was in einhundert Jahren die digitalen Schulbücher im Rückblick auf die von uns erlebte Geschichte füllen wird. Noch nicht einmal bezüglich des jüngst ausgehandelten Koalitionsvertrags kann man am heutigen Tag sagen, ob vom für die SPD so essentiellen Mindestlohn am Ende des Jahres 2014 viel übrig sein wird, ob die SPD so couragiert sein wird, die Koalition aufzukündigen, wenn das ständige Bremsen seitens der CDU und besonders der CSU erfolgreich zu werden droht.
© Dirk Jürgensen – Veröffentlichungen des Textes und der Bilder, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.