1

Woodward F. Odometer

Des Dichters Dosenfleisch

Verzeiht, Madame, Ihr schlaft.

Ihr wurdet nicht gewahr, wer mir soeben schrieb.

Sicher, werdet Ihr mir sagen, seid Ihr dereinst erwacht, mir schrieben alltäglich viele Menschen.

Menschen, welche niemals die Sonne unserer Welt erblickten und zu keiner Zeit starben, Menschen, welche nicht einmal die Planeten einer verträumten oder versoffenen Phantasie belebten.

Wahrlich, Madame, Ihr seid, ich muß es vermuten, wie so oft im Recht.

Der Anschreiben sind es derer unzählige am Tage, wie auch in der Nacht, so daß ich lügen müßte, wenn ich deren Inhalt wiedergeben sollte. Und deren Inhalt ist in stetem Wechsel profan wie frivol.

Spam im PostfachSo ist es mir, mein Schimpf möge Ihr zartes Ohr verfehlen, beschwerlich, inmitten eines Sauhaufens die Perlen zu entdecken.

Man bietet mir Assurancen für alle Lebens- wie Sterbenslagen, von denen mehr Ihr denn ich profitieren könntet, wären sie denn ehrlich gemeint.

Man bietet mir Occasionen verschiedenster Art, darunter auch Medicines, die unser beider Leben und meiner Kraft und Größe zugute gereichen sollen.

Ihr könntet, würdet Ihr wachen, mir sagen, ob ich’s nötig habe.

Ihr würdet es nicht, seid Ihr doch immer so freundlich zu mir – doch Ihr schlaft – und ich spare den geldlichen Lohn meiner Mühen auf eine neue Gelegenheit, auf neue Waren, auf Geschenke, die Euren Hals verzieren und unsren Bauch befüllen.

Auch machen Frauen mir Avancen, senden mir eindeutigste Ansichten von sich, von denen ich Euch niemals im Angesicht erzählen könnte. Ich schwöre bei meiner Ehre und Eurem Vertrauen, sie nicht zu kennen!

Es sind gar ab und an, Gott bewahre, auch Kerle dabei – aus aller Herren Länder und aus nächster Nachbarschaft geben sie ihr zweifelhaftes Adressat ab, um in persona mit mir…

So laßt mich abbrechen, Madame, bevor ich mich vollends echauffiere, mich im schauderlichen Lichte präsentiere.

Bevor Euer süßer Traum zum Nachtmahr wird, wende ich mich ab von meiner Post, um kurz Euer Antlitz zu betrachten.

So beruhige ich mich rasch, so möchte ich Ihnen nun erzählen, wer mir in Tatsache soeben schrieb:

Woodward F. Odometer.

Ich möchte es mit dem Hauch der klanglichen Verehrung wiederholen. Woodward F. Odometer, heißt der Absender einer Nachricht an mich.

Ja Madame, mein Kindchen, Ihr ward in England und habt daselbst in deren Sprache den Dickens gelesen.

So wird Euch der Name bekannt erscheinen.

Nicht genau ward er Ihnen begegnet sein, doch ähnlich wenigstens.

Nun denn, dieser Name mit diesem Klang, dieser Mensch, möge es ihn wirklich oder nur ersonnen geben, muß wohl aus solchen Romanen entsprungen sein – oder für einen noch zu schreibenden froh erfunden und doch wieder entwischt sein.

Woodward, sein erster Vorname, ist der angelsächsischen Übersetzung nach ein Förster, doch gibt es einen, der diesen Namen als den seiner Familie trägt, einen, der der Waldesruh entgegen, ein stetes Hetzen nach Neuem betreibt und manchen Staatenlenker im fernen America mit schneller Nachricht schier verzweifeln ließ. Robert Woodward.

Dieser hier ist ebenfalls kein Mann des Waldes, trägt den Woodward nur vornweg, doch sein Stamm ist der der Odometer und zur Verzierung gab man ihm ein F in die Mitte.

Der schnelle Reporter,

die Gerätschaft zur Wegesmessung

und ein F.

Es dürfte wohl ein Kürzel sein: für furioso, für´s Englische fast – also im Deutschen flink und schnell – für der Kochfrau Flotte Lotte, für die Fuge, jener Kunst der geordneten – doch niemals zu langsamen – Flucht, für ein flüchtig-fließendes Fluidum.

Doch ach, Falso!

Wie höre ich den Lateiner schrein?

Ex falso quodlibet – aus Falschem folgt Beliebiges!

So ist es wohl.

Bezüglich Woodward F. Odometer:

Was ist die Bedeutung von Geschwindigkeit im Namen, jener Flüchtigkeit von Schall und Rauch und wieviel ist die Deutung wert?

Bezüglich meiner Wenigkeit: die Menge der Post, das Nichtlesen, das Löschen des Sichtbaren, häufiger denn das Lesen, das Fehlen der Zeit – kann Zeit denn fehlen, ist sie denn nicht immerdar und in Facto nur irrend genutzt?

Warum nur, schlägt der Odometer unserer winzigen Existenz am End nicht um, beginnt er nicht von neuem?

Neuem?

Werden wir als Greis doch eh zum Kinde!

Hat Heron von Alexandria erahnt, als er das Gerät zur Messung des Weges ersann, wie alle Taxa-, Pedo- und Zyklo- vereint mit der entseelten Macht des Chronometers seit Generationen zum Fluche uns erwuchsen? –

Oh, Madame, worauf hab ich mich, worauf hat die Menschheit sich nur eingelassen?

Das Gewicht der Fragen, in Summa die Erfindung der Sorgen, die Idee, mir wüchsen alle Meter über den Kopf, scheint´s dem Selbstzwecke verschrieben. Sie drückt mich nieder, will mich dem Lager, nicht dem der stinkenden Gruft der letzten Matratze fürwahr, sondern dem Eures blumigen Kissens entgegenbringen – so gar nicht niederdrückend – wahrhaft ein lusthafter Gewinn.

Allseits Besänftigung!

Die Fragen klingen in dieser Wendung ab und es überkommt auch mich endlich jene Trägheit, die meine Augen nicht mehr lesen läßt, was geschrieben steht; allein dem Laufe der Gedanken folgend, ergo nicht gelenkt vom Willen, nicht dem Verstande dienend sehen, was unser am Tage verborgener Geist und Richter ganz tief im Innern zu sehen wünscht.

So lösche ich alle Lichter, alle elektrisierten Quellen der Ablenkung, wie es die Gewohnheit kennt.

Kaum entkleidet, kaum des Flaums Eurer Zartheit gewahr, beginnen sich die Gedanken zu entfernen.

Düsternis oder Helle, Erkenntnis oder Leere?

Das wird der ferne Morgen nach dem Schlaf mir sagen.

Im Kopf; ein letzter Fetzen, eine Geschichte entsteht, die wie begonnen, schon beendet scheint. Ein dünnes Fähnchen Wissen umstreift mein Hirn.

Woodward F. Odometer, ja, er starb, das sehe ich nun klar, ganz langsam. Er starb den Tod kühner Forscher auf ihrer am Ende elenden Suche nach dem magnetischen Pole oder der Nordwestpassage.

Doch nicht das ewige Eis, nicht die Entzündung erfrorener Glieder, nicht die Macht erdrückender Schollen, nicht der Skorbut, der Biß eines wilden Bären macht ihm den Garaus.

Er starb an Bleivergiftung. Erlegen der Kontamination seines mit flüssigem Lot versiegelten Dosenfleisches.

Fürchtet Euch nicht, Madame.

Ich schlafe nur. … Gleich! …

Und Morgen, da werd ich ihn befüllen, den Korb mit all den Briefen – mit Kraft und virtual.

 

Ersterscheinungsdatum: 7.8.2006 – zuerst auf Einseitig.info

© Dirk Jürgensen – Veröffentlichungen des Texts, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.