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Deprimierende Ferien

Urlaub in Zeiten des Klimawandels

Man sollte seinen mühsam aufgesparten Jahresurlaub nicht zu lange zuhause verbringen.
Das Sommerwetter hält sich nicht an die Bedürfnisunterschiede zwischen Arbeits- und Freizeit.
Eine wochenlange Schönwetterphase findet ihr Ende stets kurz vor oder nach dem ersten Urlaubstag.
Die Klimakatastrophe fällt auch in Mitteleuropa immer in das jeweils ungeeignete Extrem.
Grundsätzlich bin ich kein Spieler und grundsätzlich weiß ich, dass die Einzahlung der Lottogebühren auf ein Sparbuch auf Dauer die klügere Variante ist.
Doch „grundsätzlich“ wird immer von einem „aber“ begleitet. Aber mit der Abgabe des Urlaubsscheins werde ich immer wieder zum Zocker.
Es wird schon gut gehen.
Man kann ja, wenn die Reisekasse mal wieder nicht ausreichend gefüllt ist, auch in der Heimatregion so viel Neues entdecken, so unendlich viel unternehmen.

Also – was sollte es sonst? – regnet es.

Gestern, an einem sonnigen Tag, war etwas Wichtiges, lange Aufgespartes zu erledigen gewesen und heute sollte mit dem Rad gefahren werden. Eine richtige Tour über den ganzen Tag. Egal wohin. Einfach weg.

Aber es regnet.

Die fetten Tropfen platschen an die Scheiben und das Licht eines einheitlich grauen Himmels draußen befördert mich in meinem Zimmer mit seinem Dämmerzustand in den meinen.

Zeit vergeht, ohne, dass ich merke, wie sie vergeht. Zäh allemal, doch ich mag den Vorgang nicht mit einem Blick auf eine Uhr kontrollieren.
Am Abend werde ich mich wieder ärgern, dass der Urlaubstag so wenig effektiv, „erholungs- oder ablenkungseffektiv“ verlaufen ist. Dieser Anspruch an einen Tag ohne Arbeit ist krank, macht Urlaub auch wieder zur Arbeit, zugegeben. Aber irgend etwas muss passieren.
Im Haus ist es auffallend ruhig, denn die Klugen unter meinen Nachbarn – vermutlich alle – sind zur Arbeit gefahren, sonnen sich neben den bekannten Waldbrandgebieten an mediterranen Stränden oder trekken sich durch unbekannte Pampas, Dschungel oder längst beschriebene Jakobswege.
Auch diese private Neiddebatte hilft mir nicht.
Im Gegenteil.
Und die fehlenden Passanten auf dem Bürgersteig unter mir, die auffällig vielen freien Parkbuchten daneben stützen die Entwicklung meiner beginnenden Depression zusätzlich.

Außer dem eben erwähnten Regenplatschen und dem blödsinnig zitternden Espenlaub der Pappeln an der Straßenseite gegenüber, zeugt nichts von bewegtem Erdenleben.
Ich habe irgendwann in einem ansonsten vergessenen Buch von Terry Pratchett gelesen, wie sich zwergenhafte Wesen die Entstehung von Wind erklären:
Die Blätter, die Äste oder die ganzen Bäume bewegen sich und machen den Wind!
Das ist leicht nachzuvollziehen.

Man achte beim Verspüren eines Windhauchs auf den nächststehenden Baum und siehe da, er bewegt sich tatsächlich noch und immer wenn er damit aufhört hat, spürt man keinen Wind mehr. Demnach sollte man diese Pappeln abholzen, dann fiele der Regen gerade herunter und meine Fensterscheiben – sie zu putzen bedeutete die Aufgabenstellung für den ersten Urlaubstag – blieben länger sauber.

Ach, ist das alles komisch.

Ich bemerke, dass ich, obwohl ich genügend Zeit dazu gehabt hätte, in den vergangenen drei Tagen keine Fernsehnachrichten gesehen, keine Tageszeitung gelesen und kein Radio gehört habe.
Das werbedurchtriebene Tagsüberprogramm im Fernsehen würde mich aus meiner eben noch angedeuteten Depression wahrscheinlich zu einem lokal begrenzten Amoklauf bewegen. Da, wie ich eben erwähnte, das Haus und auch die Straße menschenleer ist, wäre die Gefahr für die Menschheit zwar verhältnismäßig gering, doch möchte ich kein Risiko eingehen.
Die Postbotin könnte noch unterwegs sein.
Die von der echten, der ursprünglichen, der alten gelben Post meine ich.
Der möchte ich nichts anhaben. Um die seltsamen Gestalten dieser neuen, grünen, orangenen, blauen oder sonstwie gefärbten Briefverteildienste, die ihren Leuten in einigen Fällen nicht einmal firmeneigene Fahrräder zur Verfügung stellen können, wäre es womöglich gar nicht schade.
Nein, nein, nein – so war das nicht gemeint. Aber die sind im Wechselspiel zwischen Preis und Leistung so billig, dass sie die letzten Meter von der Haustür zum Briefkasten den Hausbewohnern überlassen und schmeißen die Post einfach auf den Boden. Einen logischerweise wichtigen Brief findet man dann viel zu spät und mehr oder weniger zufällig beim Einsammeln der ebenfalls dort herumliegenden Werbebroschüren und Wochenzeitungen.
Früher, da war alles einfacher, komfortabler und zuverlässiger.
Ich weiß wovon ich schreibe.
Ich wurde einst anlässlich eines Studentenaushilfsjobs auf Grundgesetz und Briefgeheimnis vereidigt.
Kennt der Markt noch das Briefgeheimnis?
Gibt es das bei den Billigverteilern noch, oder scheitert das Lesen meiner Post am Zeitmangel oder der allgemein zurückweichenden Alphabetisierung?
Was habe ich als Kunde gewonnen, wenn ich jetzt meine unaufgeforderten Reklamebriefchen von fünf verschiedenen Briefträgern bringen lassen und somit auch fünfmal zum Türklingelknopf laufen soll?

Wenigstens habe ich mich jetzt aufgeregt und mich vom Nichtstun, vom geistigen Dümpeln abgelenkt.
Jetzt bin ich wieder da und dümple, stehe am Fenster.
Nicht einmal die gelbe Postfrau ist zu sehen.
Vielleicht regnet es auch ihr zu stark – oder sie kommt einfach etwas später als gewohnt, weil sie den Bezirk eines Kollegen mit erledigen muss, der sich schlauerweise unter südlicher Sonne aalt.

Ich könnte eine Zeitung lesen. Vielleicht ist meinem, wenn auch nicht von mir persönlich gewähltem, Oberbürgermeister wieder etwas eingefallen, wie er die aufkeimenden Subkultur der Stadt absterben und sich im Gegenzug wieder ein Denkmal setzen lassen kann, das in vermutlich zehn Jahren als Bausünde erkannt sein wird?
Eine Zeitung wäre nicht schlecht.
Sie könnte meine Aufregung pflegen, wenn ich schon nicht auf mein Fahrrad komme, um meinen arg verschwabbelten Körperbau mitsamt seines Blutkreislaufs aufzupeppen.
Wenn sie nicht aktuell ist, die Zeitung, macht sie keinen Spaß.
Und jetzt zum Büdchen laufen?
Anziehen und durch den Regen laufen?
Ach nein. Soviel Neues wird sowieso nicht drinstehen und ich kann nachher mal in der Online-Version nachsehen, ob sich der Kauf gelohnt hätte. …

In meinem Kopf und auch in meiner Umgebung ist es ruhig.
Wenn ich mich anstrenge, kann ich aus einer gewissen Entfernung einige Presslufthämmer hören.
Vermutlich liegen unter dem Bürgersteig inzwischen fünf verschiedene Generationen immer schnellerer Kommunikationsleitungen dreier verschiedener Netzbetreiber, von denen es zwei nicht mehr gibt. Erde, gar Mutterboden wird man unter dem Pflasterstrand nicht mehr finden. Die Stadt steht auf Kabeln und Rohren.
Es wird nur wenige Wochen dauern, bis endlich die sechste Leitungsgeneration auch vor meinem Haus verlegt wird.
Noch ist das Hämmern leise.
Sogar der Regen klopft etwas weniger heftig gegen die Scheiben.
Er ist aber noch da, wird auch den ganzen Tag bleiben. Sicher.

Ich schlurfe zur Stereo-Anlage.
Ich könnte, wie in alten Zeiten, eine CD einlegen, besser noch eine Schallplatte auflegen, mich einfach ins Sofa hauen, das Cover oder Booklet studieren und vollkommen unproduktiv genießend einfach Musik hören und phantasieren. Einfach so.
Warum mache ich das eigentlich so selten?
Eigentlich.
Eigentlich nie.
Was oder wer hindert mich?
Warum hindere ich mich daran?
Keine Ahnung.

Jetzt stehe ich nicht mehr an der Anlage, auch nicht wieder vor dem Fenster.
Ich stehe vor dem CD-Regal, dann beuge ich mich zu den Schallplatten hinunter, dann stelle ich mich – obwohl mich alle meine Deutschlehrer wiederholt vor dieser Art der Aufzählung warnten – vor die CD-Reihen. Auch die, nicht nur die Reihen der Schallplatten, sind inzwischen alphabetisch sortiert. Jahrelang habe ich es nicht geschafft, meine strenge, stilübergreifende Sortierung, die ich seit den Siebzigern im Vinylbereich einhalten konnte, auf die Ordnung der CDs zu übertragen.
Die Haptik, der körperliche Bezug zum Medium war ist der Schallplatte ein anderer.
Liebe und Haptik, Begreifen im eigentlichen, im wahrhaft körperlichen Sinn, haben wohl viel miteinander zu tun.
Meine Beziehung zur Platte war und ist emotional und die zur CD – schon diese ständig verwendete Abkürzung ist ein Beleg dafür – ist rational begründet.
Der Deppenapostroph zur falschen Andeutung eines Plurals macht die übertechnisierten Silberlinge auch nicht wärmer.
Die Musik selbst betrifft das Problem weniger, obwohl manche analoge Aufnahme tatsächlich schöner klingt.
Es geht um das Medium an sich, um den rituellen Vorgang des sorgsamen Ausderhüllenehmens, des bei vorsichtigem Suchen des Mittelpunktes Aufdenplattentellernehmens, der sanften Staubentfernung durch eine weiche Karbonbürste, wenn sich der Plattenteller in Bewegung setzt, des Anhebens und des Aufdiestartpositionbringens des Tonarmes und des langsamen Senkens des Systems auf die äußere Rundung der Spiralrille. Möglichst ohne Krrrck, lautem Klack oder Ratsch.
Welchen Wert hat dagegen das Einlegen einer CD in die Schublade eines Metallkastens?
Nein, vor lauter Romantikduselei kann ich mich nicht entscheiden.

Ich schalte das Radio ein und höre – es muss also noch Vormittag sein – auf dem voreingestellten Sender keine Musik:

„Ich glaube, wir haben wieder einen Hörer in der Leitung. Herrn Bergeshagener?“
„Hallo! Hallo? Berchtesgardener. Ich hoffe die Verbindung ist nicht so schlecht. Ich bin gerade im – äh – Autotelefon unterwegs.“
„Wir können Sie gut verstehen.“
„Wenn das mal nicht gleich wieder zurücknehmen müssen. Hahaha!“
„Ich verstehe nicht ganz…?“
„Seh´n Sie? Hab’ ich doch gesagt. Hahaha!“
„Hm, ähm, dann sagen Sie unseren Hörerinnen und Hörern bitte, was Sie zum Thema unser Sendung beisteuern möchten.“
„Ja, erstmal guten Tag ins Studio, Ich finde Ihre Sendung immer ganz hervorragend, Herr äh… Den Namen der Sachverständigen habe ich eben nicht verstanden.“
„Frau Doktor Farkenstedt und mein Name ist…“
„Guten Tag, Frau Doktor.“
Aus dem Hintergrund Frau Dr. Farkenstedt: „Guten Tag Herr Bechteshagen.“
„Berchtesgardener, aber egal. Ich finde Ihre Sendung immer ganz hervorragend und bin froh endlich einmal durchgekommen zu sein.“
„Wir freuen uns auch. – Nun zu ihrem Beitrag.“
„Ist in Ordnung. Ich will mich auch ganz kurz fassen …“
„Bitte.“
„ … muss aber trotzdem ein bisschen ausholen. Nur kurz. Also, vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren – ich war da selber noch in der Ausbildung – da ist – ich habe zuerst Schlosser gelernt und hinterher Betriebswirtschaft studiert – mir ein ähnlicher Fall – also – da konnte ich – Moment, da nimmt mir doch glatt einer die Vorfahrt…“

Aus! Aus! Aus!
Ich schalte das Radio aus!

Ich renne zum Fenster.
Es nieselt nur noch, obwohl sich das Zittern des Espenlaubs nicht verändert hat.
Aber tatsächlich, es ist noch Vormittag.
Das, was mich die Radiosendung vermuten ließ, bestätigt mein Blick auf die Uhr.
Der Tag – der Urlaubstag – liegt in seinem Wesentlichen noch vor mir.

Wer verbietet mir eigentlich, bei diesem Wetter mir dem Rad zu fahren?
Selbst die aufgrund ihres Dopings überempfindlichen Leistungssportler sagen kein Rennen aufgrund von läppischem Regen ab. Außerdem habe ich mir doch vor einigen Monaten noch eine zwar karnarienvogelbunte, aber wetterfeste Fahrradausrüstung bei Aldi, Lidl und Penny zusammengestellt.
Also, was soll´s?
Und wenn ich mir trotz der Kleidung eine Lungenentzündung hole, dann lege ich mich ins Krankenhaus oder ins Schlafzimmer, lasse mich pflegen und die hoffentlich zahlreichen Krankheitstage, für einen späteren Urlaub gutschreiben. Ich tippe nämlich auf einen schönen Altweibersommer oder wenigstens auf einen Goldenen Oktober.

Im Herbst ist Erholung angesagt! Und dann fahre ich ganz weit weg. Irgendwohin. Hauptsache, das Wetter …

© Dirk Jürgensen – Veröffentlichungen des Texts, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.

Diese in ihren fast genau so erlebten Komponenten komprimierte Geschichte, die erstmalig im August 2007 im Online-Magazin Einseitig.info erschien, las ich 2012 im Zakk-Lesezelt auf dem Düsseldorfer Bücherbummel. Ich leitete ihn mit dieser Vorrede ein:

„Erinnern Sie sich noch an den Sommer des Jahres 2007? Ich nicht. Nur bin ich bei meiner Textauswahl für den heutigen Tag auf meinen Text aus dem August 2007 gestoßen, der nichts Gutes über jenen Sommer erzählt. Sollte der Sommer in diesem Jahr auch nicht so doll werden, denken Sie immer daran: Es kann noch schlimmer kommen. – Meine Texte sind gerne ein meditatives Vomhölzchenaufsstöckchenkommen. Das funktioniert – so hoffe ich wenigstens – immer am besten, wenn alles irgendwie mies ist. In diesem Fall wurde ich während des Schreibens zu einer Art Oblomow Gontscharows. Ich bitte entsprechend um Ihr Mitgefühl!“

Am Ende der Lesung kam eine gut gelaunte Zuhörerin auf mich zu und erzählte mir, dass sie in meinem Beitrag ihren eigenen Mann sehr gut wiedererkannt hatte. Das erstaunte und beruhigte mich gleichermaßen enorm.