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Können Zeitreisen helfen? – Tausend und ein Morgen von Ilija Trojanow

Wir brauchen Utopien – Teil 9

von Dirk Jürgensen …

Wir, die Menschen, brauchen Utopien, um uns das Ziel einer besseren Zeit setzen zu können. Als ich diese kleine Reihe unterbrach, war Angela Merkel noch Kanzlerin, die Pandemie stand uns noch bevor und die Kriege dieser Welt fanden noch etwas weiter von Mitteleuropa entfernt statt. Die Warnungen vor dem Klimawandel wurden noch nicht durch Ansätze von Entschiedenheit angegangen. Nun haben wir eine Regierung, die zur Zeit ihrer Anfänge durchaus utopische, also positive, Entwicklungen möglich erscheinen ließ. Die wählenden Menschen schienen sich entschieden zu haben, einen Wandel zu ermöglichen. Skeptisch machte mich schon damals die Beteiligung der FDP an dieser Regierung, die für Utopien nicht empfänglich sah. Inzwischen fühle ich mich bestätigt.

Eine so lange Vorrede, um endlich auf ein Buch zu kommen, das noch einigermaßen aktuell den Buchmarkt bereichert. Es geht um „Tausend und ein Morgen“ von Ilija Trojanow.

Endlich, sagte ich, als ich von seinem neuesten Werk hörte, macht sich ein heutiger Autor an eine Utopie heran und geht nicht den Weg des Einfacheren. Des Einfacheren, weil Spannung und Action in einer Dystopie viel näher liegen, als in einer idealen heilen Welt der Utopie.

Trojanow - Tausend und ein Morgen

Vielleicht ist das der Grund, warum Trojanow die Form eines Zeitreiseromans wählte und den Ausgangspunkt der Zeitreisen nicht in einer gegenwärtigen Dystopie, sondern in einer zukünftigen utopischen Welt fand. Die Reiseziele der „Chronautin“ (In der Zukunft des Romans ist das heute so arg diskutierte Gendern kein Thema mehr. Der Plural wird feminin gebildet.) liegen in der Vergangenheit. Und entgegen der in der Filmreihe „Zurück in die Zukunft“ immer wieder propagierten Einsicht, dass man ins Raum-Zeit-Kontinuum nicht eingreifen dürfe, ist es die Aufgabe der Reisenden, in die Vergangenheit einzugreifen und sie früher auf einen besseren Weg zu bringen. Begleitet und beraten werden sie dabei von einer künstlichen Intelligenz namens GOG. Stets nach dem Leitspruch, der Geschichte als das beschreibt, was anders hätte verlaufen müssen. Ein humaner Ansatz, der eine Menge Leid auf dem Weg der Menschen zum Besseren soll.

Leider, das darf hier wohl verraten werden, sind die Reisen ins „Damalsdort“, in verschiedene Epochen unserer Vergangenheit und unserer nahen Zukunft nicht von Erfolg gekrönt. Zu komplex, zu unvorhersehbar ist das Verhalten, sind die Interaktionen der einzelnen Menschen und Gesellschaften, denen die Reisenden bei den Piraten des 18. Jahrhunderts, im revolutionären Russland um 1917/1918, bei den Olympischen Spielen 1984 in Sarajewo und im einem religiös aufgeheizten indischen Metropole treffen. Immerhin können die Chronautin ihre Reisen wiederholen, neue Versuche des Eingriffs in die Entwicklungen unternehmen. Vielleicht irgendwann mit Erfolg.

Selbst die beste aller Welten lässt Trojanow nicht ganz ohne Makel, nicht ganz ohne bedenkliche Entwicklungen sein. Die Verselbstständigung der künstlichen Intelligenz, das Streben Einzelner, die der friedlich heilen, beinahe sektenhaften Gesellschaftsordnung, zu stören oder gar zu zerstören, werfen Schatten.

Es bleibt der Literatur noch viel Arbeit, um weitere, noch bessere Utopien zu entwickeln. Schließlich bedeutet Utopie nicht automatisch, dass das entworfene Gesellschaftsmodell das Ende einer Entwicklung sein muss. Das sollte man den Kritiker/innen einer utopischen Idee immer wieder erklären.

Mit Ilija Trojanow hat sich endlich ein Autor seriös an den Aufbau einer Utopie herangewagt und ist nicht dem so leider überwiegenden Drang verfallen, die dystopischen Verhältnisse unserer Gegenwart weiter zu steigern. Dystopien bieten uns zwar Grusel und Action, sie bieten jedoch kein Bild davon, wie das Ziel einer Politik, eines Zusammenlebens aussehen kann, das sich anzustreben lohnt.
Anders als die Chronautin des Romans kennen wir keine Möglichkeit, in die Vergangenheit einzugreifen, es wenigstens zu versuchen. Selbst die Gegenwart scheint uns täglich die falsche Richtung zu weisen. Länder werden von anderen überfallen, religiöse Konflikte werden zum Terror, die Umwelt, das Klima entgegen aller wissenschaftlicher Einsichten nicht positiv beeinflusst, Demokratien befinden sich unterstützt von Populisten im Modus der Selbstzerstörung.

Ich empfehle das Lesen Ilija Trojanows „Tausend und ein Morgen“ und hänge direkt die Hoffnung daran, dass sich noch viel mehr Autorinnen und Autoren aufgefordert fühlen, an ihren Utopien zu arbeiten, um dem Dystopie-Überschuss endlich etwas entgegenzusetzen.

Ilija Trojanow: Tausend und ein Morgen.

Bei S. Fischer erschienen.




Melanie Raabe – Die Kunst des Verschwindens

Sie hat mich nicht. Nein, sie hat mich nicht gekriegt mit ihrem Roman „Die Kunst des Verschwindens“.

Melanie Raabe – Die Kunst des Verschwindens

Ich weiß nicht genau, was ich nach Lesen des Klappentextes erwartet habe… kein literarisches Meisterwerk, gute Unterhaltung  und eine schlüssige Geschichte schwebten mir vor. Höher ist der Anspruch des Buches sicher nicht und man kann auch nicht unbedingt von Nichterfüllung meines Wunsches sprechen. Dennoch dachte ich beim Zuschlagen des Buches, weniger Brimborium hätte es auch getan.

Die Form ist nicht neu – erzählt wird aus zwei verschiedenen Erzählperspektiven. Wenn Nico, eine der beiden Protagonistinnen zu Beginn von einem mysteriösen Mann erzählt, den sie ihrem Freund beichten muss, gerät man auf die erste vieler falscher Fährten. Und auch die Beziehung zwischen Ellen, einer berühmten Schauspielerin und zweiten Hauptperson und ihrem vermeintlichen Freund bleibt zunächst nebulös. Und was hat das Fährunglück und der unverarbeitete Verlust der Mutter für Nico zu bedeuten? Beide Frauen begegnen sich scheinbar zufällig und haben gleich einen außergewöhnlichen Draht zueinander. Schon beim Betrachten einer Werbung an einer Hauswand, auf der die Schauspielerin abgebildet ist, glaubt Nico an eine Verbindung zwischen ihnen beiden. Ellen verschwindet, ohne ein Lebenszeichen zu hinterlassen und Nico macht sich auf die Suche nach ihr.

Ein Spur Krimi samt Leiche hier, eine Prise Mysterium plus Zufall dort, ein kleines bisschen Zuviel an überraschenden Wendungen und Figuren, die als Vermittler dienen müssen, um die Geschichte einigermaßen logisch bleiben zu lassen. Es bedarf recht vieler Erklärungen und Nebenschauplätze, um schließlich ein ziemlich konstruiertes Ende zu erreichen, in dem alle Fäden zusammenlaufen. Die Sprache – solide, aber nicht besonders raffiniert.

Für mich war’s ein Roman unter vielen und keiner, der mich lange begleiten wird. Sehr schade!

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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Ingeborg Bachmann und Max Frisch – Zwei Bücher über das ungleiche Paar

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...

Ingeborg Bachmann und Max Frisch lernen sich in Paris kennen. Nachdem Frisch das Hörspiel „Der gute Gott von Manhattan“ kennt, schreibt er ihr. Und als Max Frisch in Paris weilt, um der Aufführung seines Stückes „Biedermann und die Brandstifter“ beizuwohnen, trifft man sich. Statt ins Theater zu gehen, verbringen sie die Nacht redend auf einer Parkbank. Bachmann hat gerade den verheirateten Paul Celan verlassen und ist sich gar nicht sicher, was sie von Frisch will. Und auch Frisch ist nicht besonders eindeutig, als er den Kontakt mit Bachmann fortsetzt. Er sei nicht verliebt, schreibt er, aber er liebe sie. Nur wenige Zeit später zieht die Schriftstellerin zu Frisch in die Schweiz. Sie bewohnt eine eigene Wohnung, aus der man sie fast herauswirft, weil man eine „Hure“ nicht zu beherbergen gedenkt. Die Schweiz ist konservativ, engstirnig und Ende der 50er wenig begeistert von Paaren, die unverheiratet eindeutigen Tätigkeiten nachgehen. Schon das Aufhängen der Wäsche im Bademantel wird Bachmann angekreidet.

Ingeborg Bachmann und Max Frisch – Zwei Bücher über das ungleiche Paar

Bachmann hat zuvor lange Zeit in Rom gelebt, Philosophie, Psychologie, Germanistik und Rechtswissenschaften an den Universitäten Innsbruck, Graz und Wien studiert. Sie ist eine selbstständige und erfolgreiche Lyrikerin, Librettistin, Hörspielautorin, Rednerin, Journalistin und Übersetzerin. Gerade hat sie begonnen, sich eigener Prosa zuzuwenden. Sie raucht wie ein Schlot, trinkt wie ein Maurer und nimmt Tabletten um zu schlafen oder in Schwung zu kommen. Sie ist mit vielen Künstlern, vornehmlich Männern befreundet. Mit dem Komponisten Henze zum Beispiel, für den sie die Texte zu seinen Opern schreibt. Mit Enzensberger, Grass, Walser, ihrem Lektor, Reinhard Baumgard, später Johnson und vor allem nach wie vor mit Paul Celan. Sie reist, ist umtriebig und unbestreitbar begabt und klug.

Bachmann erkämpft sich jedes Wort, schreibt mühsam, hat mit manch einer Blockade zu kämpfen. Ihre Texte sind unverkennbar Bachmann, stark, bildhaft, besonders. Sie lebt für sprachliche Perfektion. Und sie schreibt meist nachts.

Max Frisch hat seinen Durchbruch noch vor sich, erntet bereits Anerkennung für die ersten Werke, schließt sein Architekturbüro und kann bald von der Schriftstellerei leben. Als sein Roman „Stiller“ erscheint, kennt ihn bald die ganze Welt. Er ist frisch geschieden, hat Kinder und lebt nach wie vor in ihrer Nähe. Die Schweiz empfindet er als Heimat, lebt gerne dort, wandert, gilt als bodenständig und verwurzelt. Frisch macht Bachmann einen Heiratsantrag, den sie vehement ablehnt. Als seine Faru bräuchte sie seine Erlaubnis, um zu arbeiten. Sie sei keine selbstständige Frau mehr und würde immer im Verhältnis zu ihm gesehen. Es sei bereits jetzt schwierig, sich als Frau auf einem von Männern dominierten Parkett zu bewegen. Sie gebe das Erreichte nicht auf. Das führt zu einem großen Eklat und Frisch fühlt sich verletzt.

Frisch und die Frauen – ein großes Thema und eines, das seine Unfähigkeit zur Beständigkeit in Liebesdingen zeigt. Er liebt den Anfang und erliegt nur zu oft dem Charme einer Dame, mit der er auch dann, wenn er in einer Beziehung ist, ohne schlechtes Gewissen seine Nächte verbringt. Selbst wenn es eine Vereinbarung mit den ständigen Partnerinnen gibt, so zeigt er sich den ausgesuchten Frauen gegenüber in der Regel wenig empathisch. Gleichzeitig ist er unfassbar eifersüchtig und unterstellt seinen Frauen, insbesondere Bachmann, der viele Männer unverkennbar zugetan sind, nicht treu zu sein. Das hält er schwer aus und macht so manche Szene.

Bachmann und Frisch ziehen zusammen, denn sie können trotzdem nicht voneinander lassen. Das geht nicht lange gut. Man einigt sich schließlich darauf, in Rom einen neuen Lebensmittelpunkt zu etablieren und bewohnt dort zuletzt ein prachtvolles Anwesen, in dem Bachmann so gut wie nie verweilt. Frisch arbeitet in festen Intervallen über Tag und sie kann, obwohl sie ihren eigenen Arbeitsbereich hat, sein Getippe kaum ertragen. Noch schwerer macht es ihr sein Misstrauen. Sie flieht. Zum Einkaufen. Zum Friseur. Auf eine Lesung. Zu Freunden. Ihre Abwesenheit wiederrum nährt Frischs Eifersucht und macht ihn einsam. Zwar hat man sich inzwischen auf eine offene Beziehung geeinigt, die keine Liebe zu anderen zulässt. Doch die Praxis sieht anders aus.

Bachmann beginnt eine Beziehung zu Hans Magnus Enzensberger und Paolo Chiarini. Als schließlich Tankred Dorst seine Freundin Marianne Oellers zu einem Essen bei Frisch und Bachmann mitbringt, umgarnt der Schriftsteller offen die wieder mal sehr viel jüngere Frau. Da ahnt Bachmann noch nicht, dass diese Affäre endgültig das Ende der Beziehung zu Frisch bedeutet. Das Unglück geschieht. Oellers und Frisch werden ein Paar. Max Frisch trennt sich und Ingeborg Bachmann kann es nicht fassen.

Sie muss in die Klinik, wird operiert. Ihre Seele ist beschädigt und sie verwindet die Trennung kaum. Alkohol,-, Zigaretten,- und Tablettenkonsum nehmen zu. Sie schreibt, unter anderem ihren Todesarten-Zyklus, von dem nur „Malina“ vollendet wird. Der letzte Satz lässt sich allzu leicht auf das Verhältnis anwenden. Denn dort steht: „Es war Mord.“ Sie klagt Frisch an, vor allem, nachdem „Mein Name sei Gantenbein“ veröffentlicht wird. Frisch hatte ihn ihr zur Freigabe geschickt. Offenbar hat sie sogar vorab Teile gelesen und sie gutgeheißen. Jetzt glaubt sie sich in der Protagonistin Lila wiederzuerkennen. Möglicherweise ist das ihre Art, das Entsetzen über Frischs neue Beziehung loszuwerden, das Scheiden voneinander zu verwinden.

Am 17. Oktober 1973 stirbt Ingeborg Bachmann an den Folgen eines Brandes und an unerkannten Entzugserscheinungen in Rom. Der Brand wurde durch eine brennende Zigarette ausgelöst. Frisch kann noch Jahrzehnte später schwer über die Beziehung zu Ingeborg Bachmann reden. Man habe es nicht gut gemacht, konstatiert er. Viel von dieser Frau findet Einzug in sein Werk. Doch das tun auch all seine anderen Beziehungen.

Bettina Storks Buch „Poesie der Liebe“ ist ein Roman über diese Liebe, sofern man diese Abhängigkeit voneinander denn so nennen mag. Die Aufmachung des Buches ist nun wirklich nicht meins. Zwar ist „Poesie der Liebe“ ein Zitat von Frisch, jedoch wirkt das Titelbild eher wie das Cover für eine Schmonzette. Das ist schade.

Der Roman ist unterhaltsam und verarbeitet viele Details aus dem Leben der beiden Künstler auf einem Niveau, das ihn für eine breite Leserschicht interessant macht. Zwar wird in Storks Buch die Ambivalenz der Charaktere nicht ganz so deutlich, wie in einer Biographie, aber dafür die Interaktion in der Paarkonstellation deutlich.

In Ingeborg Gleichaufs Buch „Ingeborg Bachmann und Max Frisch – Eine Liebe zwischen Intimität und Öffentlichkeit“ ist diese Diskrepanz, die in der Beziehung herrscht, sehr viel artikulierter. Sie nähert sich der Gefühlswelt der beiden an und unterlegt deren gemeinsamen Lebensweg mit ihrer Interpretation. Sehr fundiert, sehr fein, hervorragend formuliert.

Für beide Bücher in jedem Fall eine dicke Empfehlung. Macht Lust auf mehr!

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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Robert Seethaler – Der Trafikant

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...

Ich mag Robert Seethalers Bücher. Allein schon, weil man die Melodie des Österreichischen mitliest, seine Sprache elegant und weich daher kommt.

Mein erstes Buch, das ich von ihm gelesen habe, war „Ein ganzes Leben“. Der Seilbahnfahrer Andreas Egger blickt dort auf dem Sterbebett auf sein Leben und die große Liebe zu Marie zurück.

Robert Seethaler – Der Trafikant

In „Der Trafikant“ wird die Geschichte von Franz Huchel erzählt Er findet als 17jähriger Lehrjunge von Otto Trsnjek in einer Trafik in Wien eine Anstellung. Eine Trafik, das ist ein Kiosk, ein Späti, ein Büdchen, wie es andernorts genannt wird.

Otto Trsnjek, ein kaltschnäuziger, erfahrender Händler und Sozialist, bringt Franz die Grundlagen für den Beruf des Trafikanten bei. Dazu zählen Höflichkeit, die Lektüre aller einschlägigen Zeitungen und damit Kenntnis des Weltgeschehens sowie Kenntnisse über Rauchwaren aller Art.

Der Start ins Trafikanten-Leben ist aufregend und die Ansichtskarten an Franzens Mutter, die prompt eine Antwort erfahren, künden von diesem neuen Lebensgefühl und auch von den Geheimnissen, die Franz vor seiner Mama hat. Sigmund Freud ist einer der Stammkunden des kleinen Lädchens, vor dem sich Otto mit dem Metzger streitet. Denn der ist ein Nazi und sieht es gar nicht gern, dass in der Trafik Juden ein und aus gehen.

Zwischen Freud und Franz entsteht eine außergewöhnliche Freundschaft, bei der Franz von seiner ersten Liebe zur Variététänzerin Anezka erzählen kann. Unschuldig und zart beginnt sie mit einem Ausflug in den Prater, setzt sich heftiger in einem Etablissement fort, in dem Witze über Hitler erzählt werden und in dessen Hinterhof Franz von Anezkas Aufpasser angegangen wird und gipfeln in seiner ersten sexuellen Erfahrung mit jener Frau, als Franz sich auf die Suche nach ihr macht und von ihr verführt wird.

Doch das Glücksblatt wendet sich mit der Machtergreifung der Nazis. Ottos Trafik wird beschmiert und verwüstet. Anezka trifft unschöne Entscheidungen und schließlich passiert weitaus Schlimmeres mit Otto, mit Anezka, mit Franz und der Trafik. Denn der Metzger ist ein Schweinehund, der fürwahr mehr als nur eine Ohrfeige verdient, die ihm der Lehrjunge schließlich verpasst. Franz muss all seinen Mut aufbringen, manches Abenteuer bestreiten und zu seinen Überzeugungen stehen. Am Ende gibt es viele Opfer.

Spannend, herzergreifend bis zum letzten Satz.

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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Mirjam Kristensen – Ein reiches Leben

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...
Mirjam Kristensen – Ein reiches Leben

Mirjam Kristensen, „Ein reiches Leben“: Was ist Lüge, was ist Wahrheit? Wer trägt Verantwortung?

Ein Verkehrsunfall geschieht, der oder die VerursacherIn flüchtet. Die Protagonistin behauptet, Zeugin gewesen und zur Hilfe geeilt zu sein. Sie nimmt etwas vom Unfallort mit und verbirgt es. Doch ist alles wahr, was sie ihrem Nachbarn gesteht und ist alles wirklich so gewesen, wie sie es erzählt?

Wir lesen zwei Versionen des Geschehens und beide sind sie wahr. Schuld ist das Thema dieses Buches, der Unfall eine Allegorie. Die Grenzen verschwimmen und machen den Reiz der Geschichte aus.

Lesen lohnt.




Maylis de Kerangal – Das Portrait eines Kochs

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...
Maylis de Kerangal - The Cook

Das Original gibt’s auf Französisch. Ich habe die englische Übersetzung gelesen.

Die Autorin Maylis de Kerangal beschreibt da die Obsession eines Kochs Essen zuzubereiten. Sie tut das, indem sie einerseits sensibel und gekonnt Sensorik und Technik beschreibt, Genuss und Publikum nicht aussparend, andererseits aber auch nicht die harten Umstände, die die Profession begleiten.

Ein tolles, kleines Büchlein, das sich in einem Stündchen verschlingen lässt. Empfehlung!

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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Judith Hermann – Daheim

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...

„Daheim“ erzählt die Geschichte einer Entwurzelten, einer Nomadin.

Judith Hermann – Daheim

Sie lebt getrennt vom Ehemann, dem sie kleine Briefe aus dem Alltag schreibt und der Tochter, die der Mutter wechselnde Koordinaten ihrer jeweiligen Aufenthaltsorte sendet. „Ihre Koordinaten entfernen sich, sie tritt in ein Gewässer ein, das ungefähr ist und auf der Landkarte nicht vermerkt. Als wäre die Welt eine Kugel, die aufbricht, sich in ein Universum ergießt“. Sie sei ein Trabant, der, wie alle, um die eigene Sonne treibe. Ihre sei, so sagt sie, ihr Mann und ihr Kind. Beinahe hätte sie einen Kreuzfahrtschiff-Zauberer und dessen Frau, der sie an einer Tankstelle anspricht, als zersägte Jungfrau nach Singapur begleitet. Von der einsamen Wohnung und dem Blick auf Straße und Tanke der Jugend reicht ihr Blick bis in die Jetztzeit, ihr Dasein als Frau mittleren Alters, die im Norden zaghaft Kontakte knüpft, Provisorien zu Institutionen werden lässt und eine Liebesaffäre mit einem eigenbrötlerischen Schweinefarmer und Bruder ihrer Freundin beginnt.

Transitorisches bleibt, Vorläufiges, Belangloses, die Suche nach Heimat, das Spiel mit Nähe und Distanz, immer gibt es eine Überraschung. Der Tod trifft die zwanzigjährige Übergangsfreundin des Bruders, dem die Protagonistin in der halbherzig geführten Gaststätte hilft. Die Tochter bleibt eine Ahnung, der Ehemann Sammler der Dinge, der Historie, bis er ihr einen Weltempfänger schickt, begleitet von den Worten: „Ich versuche das Archiv aufzulösen, weil die Welt sich auflöst. Es gibt Sachen, die du gebrauchen kannst, die wir gebrauchen werden, damit wir uns nicht aus den Augen verlieren.“

Am Schluss steht sie wieder da, die Freiheit, dahin zu gehen, wohin einen das Herz trägt.

Mir hat die Geschichte viel Freude gemacht: Spannende Charaktere, Dauermelancholie, eine schön erzählte, verschachtelte Geschichte, karge, gekonnt genutzte und poetische Sprache.

Daumen hoch!

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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Daniela Dröscher – Lügen über meine Mutter

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...

Gleichermaßen Hausfrau, Pflegerin, Mutter, nie genügende Ehefrau und aufopfernde Sekretärin – dienend bis zum Schluss, das ist das Bild, das LeserInnen von der Protagonistin in „Lügen über meine Mutter“ erhalten.

Ist es Überzeichnung oder eine Realität, wie sie vielfach bis heute vorherrscht? Nun handelt es sich hier um die autofiktionale Aufarbeitung von Dröschers Elternhaus. So manch einem in dieser Familie sollte man im Nachhinein kräftig in den Hintern treten.

Erzählt wird sowohl aus der Sicht eines sechsjährigen Kindes, als auch aus der Perspektive der erwachsenen Tochter dieser Mutter. Dröscher entblättert das nicht untypische Leben einer Frau in den 70er, 80er und 90er-Jahre des just zurückliegenden Jahrhunderts.

Daniela Dröscher – Lügen über meine Mutter

Zwei Kinder, die Pflege für die demente Oma, die Sorge um Benachteiligte und das Engagement in der Nachbarschaft, als drittes Quasikind der Vater, der sich selbst naturgemäß völlig anders sieht, all das schultert die Dame des Hauses. Sie duldet die Herabsetzungen und Demütigungen durch ihren Mann. Sie ist auch dann noch Handelnde, als ihr Körper sich vor Schmerzen krümmt. Sie macht, trägt die Last, entscheidet sich mehrfach heimlich gegen ein Kind mit ihrem Mann und treibt ab. Der ist schlicht ein Riesenarschloch. Für seine Fehler verantwortlich zeichnet – zumindest seiner Ansicht nach – die Frau, insbesondere ihr „wenig präsentables Äußeres“ und die fehlende Disziplin, die sie bei ihrem Körper und auch sonst an den Tag legt. Seine Wünsche haben Vorrang, ihre sind zu teuer, zu unsinnig, zu unbedeutend, zu dumm und – das ist schwer erträglich – sie wehrt sich kaum. Während er im Cabrio zum Tennisplatz düst und einen auf dicke Hose macht, bringt sie die Oma zu Bett. Statt sich zu verweigern, wenn dieser Idiot mal wieder nach einer Diät verlangt, statt diesen Clown endlich zu verlassen, als sie finanziell unabhängig ist, hält sie durch, sucht die Schuld bei sich, investiert das Geld ins neue, repräsentative Haus, in seine Autoträume und in ihren scheiternden Chef, Menschen, die es angeblich „brauchen“, bis nichts mehr vom Erbe übrig ist. Sie isst heimlich, versagt sich offenen Genuss. Der Kinder wegen oder was auch sonst der Grund dafür sein mag – sie bleibt und packt lediglich einen kleinen Koffer, als sie endlich, nach Volljährigkeit ihres letzten Kindes und Tod der Oma, Ehemann und Haus verlässt. Die Tochter übernimmt die Sichtweise ihres Vaters, bis in die heutige Zeit hinein und schämt sich für den dicken Hintern ihrer Frau Mama.

Der Scheindialog, den sie mit ihr führt, ist lasch, wenig engagiert, wenig selbstkritisch. Weight Watchers erscheint „fast wie eine Therapiesitzung“ heißt es an einer Stelle. Diese stets noch geltende gesellschaftliche Ablehnung dicker Menschen ist etwas, das mich besonders betroffen gemacht hat. Wer Zeit seines Lebens nicht „normalgewichtig“ ist und einen ständigen Kampf gegen seine Körperformen ficht, weiß, wie verletzend es ist, wenn Männer einen nicht mehr oder erst gar nicht haben wollen, weil sie eine „schlanke Partnerin“ bevorzugen. Wenn Frauen einen für die Abnahme beglückwünschen und in Frauenrunden über Pfunde der Nachbarin lästern. Da mag die Nadel auf der Waage auch nur minimal neben den sogenannten Idealmaßen liegen, dieser Anspruch wirkt sich auf das gesamte Wesen aus. Es entwickelt sich ein ständig präsentes Gefühl des Nichtgenügens. Eine Akzeptanz der eigenen „anderen“ Körperformen – die im Übrigen bei den meisten Männern sehr viel eher toleriert werden als bei Frauen – genussvolles Umgehen mit Essen ist schier unmöglich. Während Kinder und Mann sich die Lasagne reinschaufeln, soll Frau in Äpfel und Knäckebrot beißen, auch in dieser Familie.

Und auch hier könnte jene Frau ihren Mann überragen. Sie ist klug, ehrgeizig, über die Maßen engagiert und managt ein ganzen Heer. Und doch buckelt sie, unterwirft sich einer patriarchalen gesellschaftlichen Norm, nach der Frau „schön“ im Sinne eines – sich im übrigen wandelnden – sexualisierten Ideals zu sein haben, selbstverständlich für Kinder, die Pflege der Eltern, den Haushalt und das Wohlergehen ihres Mannes und Chefs verantwortlich sind. Natürlich stoßen sogar Ärzte ins gleiche Horn, wenn es um die schlanke Linie geht und all die schlanken Gesellinnen und Gesellen fühlen sich bemüßigt, ihre Sorge über die Gesundheit der Dicken kundzutun. Selten tun sie das, wenn der Herr Papa mal wieder einen Whiskey kippt oder die zwanzigste Zigarette raucht.

Dass dieser Körper, dieses Leben dieser Frau gehört und sie selbst entscheidet, wie und was sie damit macht, kommt niemandem in den Sinn. Diese Frau ist ein autonomes Wesen und keine Service-Agentur. Dass die schlanke, sportliche Tochter ihren Vater an einer Stelle in Schutz nimmt und nicht für die Mutter Partei ergreift, ist unverzeihlich. Man spürt deutlich, dass hier jemand nicht ansatzweise begreift, dass es okay ist, einen anderen Körper zu haben. Man spürt eine Geringschätzung, die sich über den Vater an die Tochter übertragen hat. Das ist tragisch und ungerecht. Den Körper von anderen der Lächerlichkeit preiszugeben, ist übergriffig. Eine Frau dermaßen herabzusetzen und ihre Leistung in keiner Weise zu würdigen und sie dermaßen auszubeuten, ist zum Kotzen.

Ich hätte oft schreien können vor Wut und Entsetzen.

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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Arno Geiger – Das glückliche Geheimnis

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...

Er kann’s, gar keine Frage. Und er kann es gut: Schreiben nämlich. Bisher habe ich von Arno Geiger nur „Der alte König in seinem Exil“ gelesen und war sehr berührt und mitgenommen von der Schilderung der Demenz seines Vaters. Schon da beweist Arno Geiger Empathie und das Auge fürs Detail. All das wird verpackt in einer schönen, eigenen Sprache, mit Sätzen, die ich mir herauspicken, für mein eigenes Leben nutzen kann, die mich begreifen lassen. Er ist unglaublich nahe dran an uns Menschen und erzählt in seinem Buch „Das glückliche Geheimnis“, warum ihm das gelingt.

Arno Geiger – Das glückliche Geheimnis

Hinter diesem „glücklichen Geheimnis“ verbergen sich Touren durch die Altpapier-Container seiner Stadt Wien. Er unternimmt sie über Jahrzehnte, ganze 25 Jahre lang, mit gelegentlichen Pausen und mit sich wandelnder Intention. Er fischt Bücher heraus, darunter welche, die er teuer verkaufen kann, Briefpapier zum Schreiben, Briefmarkensammlungen, Briefkonvolute und Tagebücher fremder Menschen, wertvolle Kunstdrucke und Postkarten. In Jahren, in denen er von wenig Geld lebt, unterstützen die Funde das Portemonnaie und seinen Traum, ein Schriftsteller zu werden. Letzteres, sowohl in monetärer als auch in inhaltlicher Hinsicht. Denn die Briefe und Tagebücher liest er, erfährt Ab- und Hintergründiges, von Schicksalen, Beziehungen und Gaunerstückchen. Ganz nebenbei sind seine, schließlich auf die Morgenstunden verlegten Touren, dann, wenn die Straßen noch leer sind, sein Fitnessprogramm. Er unternimmt sie mit dem Rad und muss sich in die Container hineinhangeln, entwickelt Techniken für seine Suche.

Manch ein Ordnungshüter begegnet ihm dabei, manch Passant macht eine Bemerkung, doch stören tut es niemanden, verboten ist das nicht, was er tut. Dennoch ist ihm das Sammeln gelegentlich peinlich. Es bleibt ein Geheimnis, dass er nur mit seinen diversen Partnerinnen teilt. Nur selten äußert einer mal einen Verdacht hinsichtlich seines Tuns.

Arno Geiger berichtet daneben viel über sich selbst. Wir erfahren von gescheiterten Beziehungen, von dem Weg eines Paares aus Krisen hin zu einer unnachahmlichen Vertrautheit, die auf eben jenen fußt. Wir erfahren von einer Persönlichkeit, die sich an Öffentlichkeit aufreibt, an einem Traum, dessen Verwirklichung er nicht gänzlich selbst in der Hand hat und der sich stellenweise in eben jener Wirklichkeit als schwierig erweist. Wir erfahren außerdem ein bisschen von der Entwicklung eines jungen Mannes zu einem im mittleren Alter, seinen Erfahrungen, Ängsten, Zweifeln und Stärken.

Es ist ein Buch über das Schreiben, über Erfolg und Misserfolg, über die Liebe, über das Kennenlernen von Menschen, das Erfassen dessen, was Menschsein ausmacht. Es ist eine Hommage an das Alltägliche, das Abgründige und Zufällige. Es ist ein Teil einer Biographie eines Autors und es ist ein Bild von uns selbst. Das „glückliche Geheimnis“ ist gelüftet und ich bin froh, eine der Mitwissenden zu sein! Dankeschön!

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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Anna Baar – Nil

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...
Anna Baar – Nil

Eine Geschichtenerfinderin erhält den Auftrag, ihre Fortsetzungsgeschichte für ein Frauenmagazin in der nächsten Ausgabe zu Ende zu bringen. Sie entwirft das Ende und lebt in der Angst, die Geschichte könne Wirklichkeit werden. Sie vernichtet ihre Notizen und fragt sich, was wäre, wenn das, was sie aufschreibt, plötzlich Teil ihres Lebens wird, wenn sie Teil der Geschichte wird, vielleicht schon längst ist? Was ist wirklich, was ist Fiktion? Erinnerungsfetzen, Gegenwart und Fiktion mischen sich. Manchmal weiß man nicht, in welcher Geschichte man sich gerade eigentlich befindet.

In Anna Baars Roman „Nil“ versteckt sich das Krokodil in der Fotobox, statt im Kasperletheater. Und tatsächlich fragt man sich, was in der eigenen Welt ist eine neue, erfundene Geschichte. Woraus bestehen unsere Erinnerungen, sind sie real? Sind sie Fiktion und wann sind sie was?

Ein großartiges Stück Prosa, das viel Spaß gemacht hat.

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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Juli Zeh – Spieltrieb

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...
Juli Zeh – Spieltrieb

Sie hat einen Hang zum Verbotenen, so scheint es. Die Protagonistin Ada ist Schülerin an einem Gymnasium in Bonn. Sie gilt als Außenseiterin, ist intelligent und provokant. Dass sie sich überlegen fühlt, lässt sie ihr Umfeld spüren und legt sich mit dem Geschichtslehrer an. Sie schließt Freundschaft mit Olaf, einem Mitglied der Schülerband. Als sie diesen jedoch bloßstellt, zerbricht das Band zwischen ihnen. In ihrem zweiten Jahr auf dem Gymnasium erscheint ein neuer Mitschüler auf der Schule. Sie schließt sich dem drei Jahre älteren Alev an, bewundert ihn und liest, was er ihr an Lektüren weitergibt. Dazu gehört auch Material zur Spieltheorie, einer mathematische Annahme, bei der Entscheidungsituationen modelliert werden, in denen Teilnehmer miteinander interagieren. Ziel dieser Theorie ist es, Entscheidungen von Personen in Konfliktsituationen vorauszusehen. Ihr Experimentierfeld ist bald abgesteckt. Sie vergehen sich am Deutsch- und Sportlehrer Smutek, der Ada schon eine Weile allein beim Laufen begleitet. Ada hat dessen Frau vor dem Selbstmord aus einem See gerettet und wurde von Smutek anschließend nackt in eine warme Wanne gelegt. Ada verführt Smutek und das wöchentliche Stelldichein wird von Alev fotografisch dokumentiert. Smutek wird von Ada und Alev erpresst. Doch es kommt anders als gedacht.

Böse Bonny and Clyde-Geschichte. Leseempfehlung!

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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Juli Zeh – Nullzeit

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...

Juli Zehs Roman „Nullzeit“ spielt auf der Urlaubsinsel Lanzarote. Berichtet wird einmal aus der Perspektive eines Tauchlehrers und aus der einer Urlauberin, die bei ihm und seiner Frau, die dort seit über einem Jahrzehnt gemeinsam eine Tauchschule mit angeschlossener Pension betreiben, Ferien macht. Die Urlauberin und ihr Mann verlieren sich in zerstörerischen Kämpfen. Der Tauchlehrer ergreift Partei und verliebt sich in die Urlauberin.

Juli Zeh – Nullzeit

Im Verlauf des Romans weichen die beiden Perspektiven – die Erzählung des Tauchlehrers und die Tagebucheintragungen der Urlauberin – immer mehr voneinander ab. Wir wissen nicht mehr, wer von beiden die Wahrheit erzählt.

Glänzend aufgebaut, spannend erzählt. Dicke Leseempfehlung!

Ergänzung und weil‘s mich so oft ärgert: Manch KritikerInnen vergreifen sich an Texten von Juli Zeh und lästern, es handele sich nicht um Literatur. Mir ist das ziemlich schnurz. Als ehemalige Buchhändlerin habe ich immer schon alles gelesen, was mir unter die Finger kam. Es galt, gut ist, was mir gefällt und das änderte sich, je nach Befindlichkeit, Alter und Lektüreerfahrung. Zwar gibt es auch bei mir gewisse Grenzen – wenn eine/r allzu sehr in die Klischee-Kiste greift, zum Beispiel – oder das Buch und ich einfach kein Paar werden wollen, ich mich nicht berührt fühle oder wenn es zu sehr aus der Zeit fällt, also beispielsweise ein Frauenbild wiedergibt, das mir gegen den Strich geht. Aber, wie Arno Geiger betont, man muss „mehr Alltägliches lesen, Zweitrangiges, Vorläufiges, Verworfenes“ und „das Alltägliche und Beiläufige zeigt uns … eher so, wie wir sind, nicht so wie wir gerne wären. Das Raue tritt in den Vordergrund, das unvermittelt Ehrliche, das Verzweifelte, das Niederträchtige, das Zärtliche, vermischt mit Unbeholfenheit“. Das hat mir sehr gefallen.

Juli Zehs Bücher bleiben dicht am Menschen. Ja, auch sie sind komponiert, bewusst konstruiert, auf ein Ziel aus und daher hinkt der Vergleich etwas. Was ich meine ist, es ist unnötig, Geschriebenes stets nur am Erreichen stilistischer Brillanz und Originalität zu messen. Nicht immer erfasst Hochliteratur, was Menschlichkeit ausmacht, verliert sich im intellektuellen Herumspinnen, liebt die Form mehr, als den Inhalt. Ja, Sprache kann LeserInnen Spaß machen. Das Handwerk kann begeistern. Ich schaue einer/m AutorIn gerne beim Jonglieren mit Worten zu. Die Geschichte aber, die erzählt wird, ist mindestens genauso wichtig. Dass mich ein Text im Innersten erreicht und in einen Dialog mit mir tritt. Hochgeistiges lässt viele Menschen zurück und es ist ein Unding, dass sich jene, die sich hier zugehörig fühlen, die die Techniken und Sprache dieser sogenannten Elite beherrschen, über alle anderen erheben. Wo ist ihre Fähigkeit zum Gespräch, zur Weitergabe ihres Wissens, über die üblichen Grenzen hinaus? Warum sehen sie nur Fehler, wo auch Essenz ist? Und warum ist ihre Sprache die alleinseeligmachende?

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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Isabell Bogdan – Laufen

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...
Isabell Bogdan – Laufen

Von einem Tag auf den anderen ist alles anders. Der Lebensgefährte nimmt sich das Leben und da sie nicht verheiratet sind, wird ihr neben dem Partner auch das genommen, das sie an ihn erinnern kann. Das Umfeld, in dem sie gemeinsam lebten, die irdischen Güter, die sie miteinander teilten, denn darauf haben die Verwandten mehr Anrecht als sie. Die Verbindung wird brutal gekappt und ihr vor Augen geführt, dass sie allein, auf sich gestellt bleibt. Aber wie stehen? Wie sich bewegen, wenn der Boden fehlt? Denn der Boden unter den Füßen rutscht und so scheint es nur folgerichtig, dass sie ihn sich zurückerobert, indem sie zu laufen beginnt.

Es ist ein Weglaufen vor der Fassungslosigkeit und Trauer, vor der Wut, die sie empfindet, weil sie von einem auf den anderen Tag nicht mehr zu ihm gehört. Es ist ein auf Erkenntnis zulaufen. Sie erkämpft sich täglich jeden Meter und fühlt geistig, wie körperlich, dass ihre Kraft wächst. Sie lässt beim Laufen ihren Gedanken freien Lauf, stellt sich die Frage nach dem Warum. Wieso hat ihr Geliebter den Freitod gewählt? Inwieweit hätte sie es verhindern können? Wie kann sie, belastet mit dieser Erfahrung wieder ins Leben zurückfinden? Sie schafft es und hat selbst den allergrößten Anteil daran.

Lesempfehlung.

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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Åsa Larsson – Sonnensturm und Weiße Nacht

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...

Die Schriftstellerin und Juristin Åsa Larsson wuchs in Kiruna, der nördlichst gelegenen Stadt Schwedens auf. In ihren Kriminalromanen um die Anwälting Rebecka Martinsson greift sie auf ihre Biographie zurück. Ich habe die beiden ersten Romane der Autorin gelesen, „Sonnensturm“ und „Weiße Nacht“. Sie hängen thematisch zusammen, denn beide bewegen sich im Bereich schwedischer, freikirchlicher Vereinigungen.

Åsa Larsson – Sonnensturm und Weiße Nacht

Im Band „Sonnensturm“ wird der charismatische Leiter einer Freikirche ermordet. Rebecka Martinsson wird von dessen Frau um Unterstützung gebeten und gerät dadurch mitten hinein in die Machenschaften der Kirche und ihrer Führer. In der Vergangenheit war sie selbst ein aktives Mitglied dieser Kirche, wurde von einem leitenden Mitglied geschwängert und trieb das Kind ab. Das Töten des Embryos ist in den Augen der Religionsführer ein Mord, der sie aus der Gemeinschaft ausschließt und das Leben am Ort Ihrer Kindheit unmöglich macht. Sie flieht in die Stadt und verliert gänzlich ihren Glauben. Als sie schließlich zurückkehrt, ist sie nach wie vor nicht bei allen willkommen. Sie findet Zuflucht im Haus ihrer Großmutter, das sie geerbt hat und Zuspruch durch den alten Nachbarn Sivving. Ihre Freundin wird des Mordes angeklagt. Rebekka, die sicher ist, dass sie nicht die Täterin ist, macht sich auf eine gefährliche Spurensuche.

Im zweiten Band „Weiße Nacht“ kehrt Rebekka, seelisch aufgerieben, durch die hinter ihr liegenden Erfahrungen wieder nach Kiruna zurück. Die Kommissarin Anna-Maria Mela beschäftigt sich da bereits mit einem zweiten Mord, den an der Pastorin Mildred. Und auch wenn Rebekka versucht, sich aus allem herauszuhalten, gerät sie auch dieses Mal wieder mitten hinein in den Sog aus Tod und Verderben.

Was mir besonders gut gefällt, ist, dass hier Frauen das Wort haben und den Ton angeben. Sehr schöne, unterhaltsame Krimilektüre!

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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Stefanie H. Martin, Die Liebenden von Bloomsbury – Band 2 – Vanessa Bell und die Bloomsbury-Group

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...

Im Nachwort des Buches „Die Liebenden von Bloomsbury – Vanessa“ über die Malerin Vanessa Bell verrät uns Stefanie H. Martin (Stefanie Hohn), dass es sehr wenig Quellen über diese faszinierende Frau gibt. Sie wurde im Laufe der Lektüre für mich zur eigentlichen Entdeckung aus der Trilogie um die Bloomsbury Group, zumal dieser zweite Band brillant komponiert ist.

Stefanie H. Martin, Die Liebenden von Bloomsbury – Band 2

Während ihre Schwester, Virginia Woolf, es als Schriftstellerin zu Weltruhm brachte, blieb ihr Dasein, obschon eine talentierte, schaffensreiche Malerin und facettenreiche Frau, im Schatten ihrer Lebensgefährten verborgen. Zu vermuten ist, dass ihr freizügiger Lebensstil ihr einen Makel verlieh, den eine patriarchal geprägte Gesellschaft bis hinein in unsere Zeit selten gelten lässt. Darüber hinaus gehörte Vanessa Bell nicht zu den KünstlerInnen, die viel Material über das eigene Leben hinterlassen haben. Einiges lässt sich ihren Briefen entnehmen, anderes den Schilderungen ihrer Schwester, es gibt ein paar spärliche Aufzeichnungen aus ihrer Feder (Sketches in Ink and Pen), außerdem gibt es eine Biographie von Frances Spalding.

Während über Virginia Woolfs Missbrauch in der Kindheit einiges an die Oberfläche drang, weiß man wenig darüber, wie es Vanessa erging. Stefanies Roman füllt diese Lücke. Sie führt aus, dass es auch Vanessa sehr wahrscheinlich ähnlich erging, wie ihrer Schwester. Sie heiratet ein anderes Mitglied aus dem Kreis der Bloomsburys, Clive Bell, mit dem sie zwei Kinder hat. Doch die Ehe ist nicht glücklich und so wenden sich beide Ehepartner anderen Menschen zu. Vanessa genießt die Zweisamkeit mit dem Maler Roger Fry und lebt nach Ende dieser Beziehung mit dem Künstler Duncan Gray zusammen. Dessen Vorliebe gilt allerdings Männern, was dem Zusammenleben der beiden aber keinen Abbruch tut. Vanessa nimmt Duncans Verhältnisse hin und leidet gelegentlich darunter, eine unter Vielen zu sein. Aus der Beziehung wird es einige Zeit später allerdings ein Kind, Angelica, geben, das Clive Bell auf Bitte von Vanessa als seines akzeptiert, um einen Skandal zu vermeiden.

Ohne Vanessa Bells Initiative und die ihres Bruders Toby hätte es die Bloomsbury Group wohl nie gegeben. Ohne ihr künstlerisches Tun möglicherweise manch Bild der anderen Künstler ihres Kreises nicht. Sie ist mindestens als gleichwertig anzusehen und doch gab es gerade mal eine Einzelausstellung mit ihren Werken. Angeblich tat sie sich bei der Entwicklung ihrer Bilder schwerer, als ihre Kollegen. Ich bin jedoch der Ansicht, dass jede Künstlerin, jeder Künstler seine oder ihre eigene Art hat, zu malen und sich auszudrücken. Das gilt sowohl für die Art des Erfassens und Skizzierens wie für die Umsetzung. Vanessa mag sich an anderen Malern gemessen haben.

In einer Zeit, in der gerade mal das Frauenwahlrecht eingeführt wurde, weibliche Studenten kaum Zugang zu Universitäten hatten und weniger Rechte als Männer, hat sie, trotz der widrigen Umstände, vieles bewegt, Initiative, Stärke und herausragendes Talent gezeigt, das leider viel zu wenig gewürdigt wurde. Erfreulich ist zumindest, dass es einige Bildbände mit Abbildungen ihrer Kunstwerke gibt.

Neben Vanessa kommt in diesem Band Virginia wieder zu Wort, die gemeinsam mit ihrem Mann die Hogarth Press betreibt und zwischen Erfolgen, gesellschaftlichen Entwicklungen und Selbstzweifeln zerrieben wird.

Ich konnte das Buch nur schwer aus der Hand legen, eine echte Steigerung zum bereits sehr guten ersten Band. Lesen!

Stefanie H. Martin, Die Liebenden von Bloomsbury – Band 1

Mehr über Stefanie Hohn aka Stefanie H. Martin unter www.zeilenraum.de

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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Sophie Passmann – Alte weiße Männer

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...

Sophie Passmann ist „special“. Ich mag sie. Ich mag ihre Insta-Stories und ihre coole Schnauze. Und ich hatte Freude an ihrem Buch „Alte weiße Männer“.

Sophie Passmann – Alte weiße Männer

Es ist ein Buch über eben jenes Bild des „alten, weißen Mannes“. Wer kennt ihn nicht? Er weiß alles besser, lässt Frauen den Kaffee kochen und beschwert sich, wenn sie die sogenannten „gesellschaftlichen Erwartungen“ nicht erfüllt. Er hat eine feste Vorstellung davon, wie frau auszusehen hat und mokiert sich über solche, die dem „gesellschaftlichen Ideal“ nicht entsprechen. Gendern und Quoten findet er total überflüssig und Frauenrechte für längst etabliert. Und natürlich sind Frauen mit Minirock selbst schuld, wenn sie Übergriffen von Männern ausgesetzt sind. Die Liste lässt sich erweitern. Endlos.

Aber unter all den Männern gibt es doch auch solche, die anders denken. Oder?

Sophie Passmannmacht die Probe aufs Exempel. Streiflichter. Humorvoll. Klug. Eine Spurensuche und ein sehr persönlicher Blick, eine Randomauswahl von Männern, Dokumentation und Kommentar zu ihrer Einstellung zu feministischen Positionen und Männer-Selbstbild.

Very nice!

Ergänzung zu Passmann… der Langhans… anhaltendes Augenrollen. Was für ein selbstgefälliger Idiot!

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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