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Eva Menasse – Dunkelblum

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...

Im August 1989 taucht im oberösterreichischen Dunkelblum ein Besucher auf, der Nachfahre eines dort lebenden Mannes war. Eben jener Mann wurde erschossen… oder doch nur verjagt? Auf einer Wiese wird ein Skelett ausgegraben und Bewohner des Städtchens entpuppen sich als Nazis. Ein jeder hat sein Scherflein zur dunklen Vergangenheit beigetragen. Die das Geheimnis enthüllen wollen, sich als junge Menschen oder Zeitzeugen der Verantwortung stellen, sterben oder verschwinden plötzlich.

Eva Menasse – Dunkelblum

Auf Basis der realen Ermordung von Juden in Rechnitz entwickelt Eva Menasse sprachgewaltig eine verzweigte Geschichte über Schweigen, alternative Wahrheitsbildung und subtile wie auch offene Gewalt. Beim Massaker von Rechnitz wurden am 24. und 25. März 1945 vermutlich an die 200 ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter in der Nähe des Schlosses Rechnitz bei Rechnitz im Burgenland ermordet. Das Massaker war eines der Verbrechen kurz vor Kriegsende.

Der Detailreichtum von „Dunkelblum“, das einfließende Lokalkolorit machen es stellenweise schwer, der Geschichte zu folgen. Dennoch eine Empfehlung.

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

Für alle hier besprochenen Bücher gilt: Unterstützt möglichst den lokalen Buchhandel!

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Emilie Pine – Botschaften an mich selbst

„Auch wenn ich keine Angst davor habe, öffentlich zu reden oder als ehrgeizig wahrgenommen zu werden, was beides klassische berufliche Stolpersteine für Frauen sind, falle ich doch einem ähnlich tückischen Problem zum Opfer: Ich gebe meine Macht ab, indem ich ausweiche, indem ich sexistische Bemerkungen nicht thematisiere, verhalte ich mich so, als ob ich keine Feministin wäre. Und, ehrlich gesagt, ich habe es satt, Feministin zu sein. Ich habe es satt, dafür verantwortlich zu sein, Sexismus zu benennen UND zu beheben. Ich habe es satt, dass das so notwendig und so schwierig ist.“

Emilie Pine – Botschaften an mich selbst

Emilie Pines „Botschaften an mich selbst“ sind eine sehr aufrichtige Auseinandersetzung mit sich selbst, sind eine Hoffnung und gelegentlich Spiegel.

Manchmal musste ich die Luft anhalten, das Buch nimmt mich ziemlich mit. Unbedingt: Empfehlung!

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Edgar Selge – Hast Du uns endlich gefunden

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...

Edgar Selges Buch „Hast Du uns endlich gefunden“… ich zögere, denn ich weiß nicht so recht, was ich dazu sagen soll.

Erzählt wird die Geschichte von Edgar, der vom Vater nicht selten gezüchtigt, einmal gar sexuell angegangen wird. Der Vater ist ein Nazi, dem nach dem Krieg die Ausübung seines Berufs als Jurist verboten wird, der aber dennoch, ungeachtet seiner Geschichte, als Leiter eines Gefängnisses jungen Menschen zur Rehabilitation und Ausbildung als Schreiner verhelfen darf. Die gefertigten Möbel landen allesamt in seiner Wohnung, wo sie von den Häftlingen bei Hauskonzerten wiedererkannt werden. Der Vater macht leidenschaftlich Musik, meint, sich im zweifelhaften Licht alternder, ehemals linientreuer Musiker, die ihn offen demütigen, sonnen zu können. In einem anderen Gefängnis, dem er nach dem Krieg vorstand, unterstützte er ehemalige Parteigenossen und verschaffte ihnen Vergünstigungen.

Im Verlauf der Geschichte formt sich das Bild einer Familie und des Aufwachsens eines Jungen im Zwiespalt. Er mäandert zwischen den Anklagen der erwachsenen Brüder gegenüber den Eltern und ihrer Vergangenheit und dem Altnazitum, der Gewaltverherrlichung und -ausbrüchen des Vaters hin und her. Später, als Erwachsener konfrontiert er die Eltern schonungslos mit den Bildern der Vernichtungslager. Als Kind möchte Edgar dazugehören, gesehen werden von diesem Vater und einer desinteressierten Mutter. Gleichzeitig bricht er Regeln, stiehlt, um Filme im Kino sehen zu können und wird bei seinen Lügen ertappt. Edgar leidet, flieht in die Literatur, in Geschichten, ins Erzählen, spürt sein Außenseitertum und kann, selbst Jahrzehnte später, nicht anders, als den Vater zu hassen und gleichzeitig zu lieben. Er träumt wiederholt von seinen Eltern, als sie schon längst tot sind und kämpft mit ihren Geistern. Edgar kommt nicht los.

Trotz der tragischen Story hat mich das Buch nicht wirklich erreicht. Es hatte etwas Aufgesetztes, Schiefes, das ich nicht recht benennen kann. Aber ich bin sicher, es findet seine LeserInnen.

Bildet Euch selbst ein Urteil.

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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Dinçer Güçyeter – Unser Deutschlandmärchen

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...

„Nur die Geschichte kann die Wahrheit sein, nur sie kann diesen Eisberg zersprengen“

„Alles, was bei mir keine Sprache fand, soll auf Euren Zungen Seiten aufschlagen“

Dinçer Güçyeter – Unser Deutschlandmärchen

… das sind nur zwei der Sätze aus Dinçer Güçyeters Buch „Unser Deutschlandmärchen“ die ein Echo in mir verursachen. Was für ein schönes, schmerzliches und echtes Buch das ist! Was für eine außergewöhnliche Form und Vielfalt!

Es ist zugleich eine Ode an die Mutter, als auch die erwachsene Abgrenzung von ihr, die Suche, das Finden eines eigenen Weges, die schonungslose Darstellung zermürbender Erwartungen und Last in Heimat und Fremde, die austauschbar sind, nicht klar benennbar, ein irgendwo dazwischen, lebendig und verwundend, verschwimmend, überlappend und von Menschen erst beseelt oder verpestet. Dinçer schildert all das mit einer brillanten eigenen, unverwechselbaren und brennenden, realen Stimme, die einen nicht mehr loslässt!

Dicke Lektüreempfehlung!

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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Diane Cookson – The New Wilderness

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...

Vor dem Booker-Prize hatte ich noch nie von Diane Cookson gehört. Es wird nicht das letzte Buch sein, das ich von ihr lese.

Das Buch „The New Wilderness“ ist eine Dystopie. In den Städten kann man kaum noch atmen. Die Verhältnisse sind insgesamt prekär und so entschließt sich ein Wissenschaftler zu einem Experiment, zumal seine vierjährige Tochter anderenfalls sterben würde. Gemeinsam mit einer Gruppe von Menschen geht er als Nomade in die Wildnis und probt das Überleben ohne zivilisatorische Hilfsmittel in der Natur. Während seine Tochter zum Teil dieser neuen Umgebung wird, kämpft seine Frau mit den Umständen und geht einen ganz eigenen Weg. Rollen und Rituale formen sich, Bewacher drangsalieren und Ereignisse überschlagen sich. Erzählt wird mit wechselnder Perspektive, unaufgeregt und doch emotional packend.

Empfehlung als gute, anspruchsvolle Unterhaltung!

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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Dave Eggers – The Circle

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...

Mae Holland beginnt durch Vermittlung ihrer Freundin Annie einen Job in einer angesagten Firma, dem „Circle“. Der stylische, hippe Internetkonzern, der sich Google, Apple, Facebook und Twitter einverleibt hat, indem er seine Kunden mit einer einzigen Internetidentität ausstattet, über die einfach alles abgewickelt werden kann, bemächtigt sich sukzessive aller Lebensbereiche. Privatheit wird zunehmend Geschichte, Kindern werden als Babies schonTracking- und Speicherchips eingepflanzt und auch Mae kann sich der Gehirnwäsche des Konzerns nicht entziehen, wird zu dessen unschuldigem Gesicht.Der Kreis soll sich schließen. Auf dem Weg dorthin aber gibt es Opfer…

Dave Eggers „The Circle“ ist eine Dystopie, die es in sich hat und, obschon manchmal schon sehr polemisch, keine Minute langweilig wurde. Das Buch ist kein literarisches Meisterwerk, aber eine spannende, düstere Zukunftsvision.

Empfehlung.

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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Chilly Gonzales – Enya

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...

Ich habe viele seiner Konzerte besucht und bekenne, ich mag Chilly Gonzales und seine Musik. Ein Freund von mir, Pianist seines Zeichens, behauptet, Chilly Gonzales sei zu vernachlässigen und werde überschätzt. Mich interessiert das nicht. Erstens, weil der Mann gar nicht den Anspruch hat, zweitens, weil ich liebe, dass er so frei im Ausdruck ist, sich Schubladen entzieht, so freudvoll und ungezwungen mit Musik umgeht, dass es ansteckt, begeistert, einnimmt. Er tritt in Pantoffeln und Bademantel auf und füllt ganz zu Recht Konzertsäle auf der ganzen Welt. Ich liebe „Room 29“, eine Aufnahme, die er zusammen mit Jarvis Cocker realisiert hat. In diesem Album geht es um das berühmte Hotel Chateau Marmont am Sunset Boulevard und das Zimmer mit der Nummer 29, in dem viele Berühmtheiten nächtigten, soffen, liebten und litten. Es fängt die Menschlichkeit, das Scheitern, den Absturz ein, ist wütend, sanft und klar zugleich. Enya – nun – eine Musikerin, die die Musikgemeinde ebenso spaltet, wie der Autor, der das Buch über sie verfasst. Ist das Kitsch oder ist das Kunst, ist die Frage, die sich Chilly Gonzales nicht stellt! Denn Musik, so meint er, muss keine intellektuellen Ansprüche erfüllen, wenn sie dich berührt.

Dieses Buch ist eine Hommage an den eigenen, jenseits des Konsens existierenden Musikgeschmacks und einfach bezaubernd.

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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Auke Hulst – De Mitsukoshi Troostbaby Company

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...

Der Autor heißt Auke Hulst und sein Buch „De Mitsukoshi Troostbaby Company“. Es ist auf Niederländisch erschienen und es bleibt zu hoffen, dass es eine/n VerlegerIn gibt, der/die dieses Buch der deutschen Leserschaft zugänglich macht.

Auke Hulst - De Mitsukoshi Troostbaby Company

Der erste Satz des Buches verbirgt sich unter einem Strich und lautet, „Ich wünschte, ich könnte alles noch einmal tun“. Ist das nun ein Wunsch, der ausgemerzt gehört? Lesbar bleibt er und damit das Bewusstsein erhalten, dass man sich etwas wünschen kann, der Wunsch vielleicht sogar erfüllt wird, dann aber doch alles anders kommt, als gedacht. Denn, so der Rückschluss aus allem, Leben ist nicht kontrollierbar.

Die Handlung besteht aus zwei Erzählsträngen. Im ersten wird von einem Mann erzählt, der nach einem schrecklichen Verlust, den er selbst noch gar nicht so recht einzuordnen weiß, einen Androiden, ein künstliches Kind adoptiert. Nachdem er und seine ehemalige Freundin ein Kind erwarteten, entschied sich seine Freundin gegen die Empfängnis. Sie ließ das Kind abtreiben. Der Vater akzeptierte und verstand das Ansinnen seiner Partnerin, deren Körper es hätte austragen und gebären müssen, deren Geist sich ihm nicht mehr verbunden sah. Nun ist es die Adoption, mit der er versucht, auf seine Weise seine Trauer zu verarbeiten. Aber kann eine Maschine mit Namen Scottie, der man seine und ihre DNA eingepflanzt hat, einen Menschen ersetzen und einen Verlust heilen? Scottie hat Gefühle, empfindet Freude und Schmerz und doch entdeckt sie eines Tages, dass sie anders ist. Im zweiten Erzählstrang gewinnt der Leser Einblick in ein Buch, dass der Protagonist, Auke van der Hulst – das Alter Ego von Auke Hulst – schreibt. Auch Kaj verliert sein Kind durch Abtreibung. Nur ist es diesmal nicht das Computerkind, das als Heilmittel funktionieren soll, sondern Kaj selbst, der eine Zeitreise unternimmt, um die Vergangenheit zu verändern. Ist das eine Alternative, kann das einen vermeintlichen Fehler korrigieren? Wachsen nicht neue Hürden?

Hulst untersucht Rollen von Vätern, Beziehung undMenschsein, Verlust und Liebe auf höchst spannende, philosophisch anmutende Weise.  Ich habe mich innerhalb dieser 600 Seiten keine einzige Sekunde gelangweilt! Versiert formuliert, vielschichtig, tiefgründig – ein echter Schatz!

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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Anne von Canal – White Out

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ..

Eine E-Mail bringt Hanna aus dem Tritt. Sie, Forscherin bei einer wichtigen Antarktis-Expedition, bei der es um den entscheidenden, letzten Vorstoß und wertvolle Erkenntnisse zum Klima der Vergangenheit geht, erhält die Nachricht von einer Person, die sie mit Amundsen anredet und mitteilt „Scott ist tot, melde dich, Wilson“. Erinnerungen schlagen wie Wellen über ihr zusammen und plötzlich ist die vor Jahren verschwundene Freundin Fido wieder in ihren Gedanken. Langsam und mit zunehmendem Verlust der Kontrolle im ewigen Eis enthüllt sich die Vergangenheit vor den Augen der LeserInnen. In dem zunächst vertraut agierenden Kreis des Polarteams nehmen die Spannungen zu und Hannas Sicherheit gerät gehörig ins Wanken.

Anne von Canal – White Out

Tolles Buch!

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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Zum 100. Todestag des Hermann Harry Schmitz

 von Dirk Jürgensen ...

Klischee, nichts als Klischee vom Humorkongress bis zur Lungenliga.

Hermann Harry Schmitz - Das Buch der Katastrophen

Ich habe keine Lunge mehr. Ich bin eigentlich tot oder aber ein anatomisches Phänomen. Ich muß schon letzteres sein, da mir das Totsein niemand so recht glauben will. (Hermann Harry Schmitz – Der Beginn der Geschichte „Von meiner Lunge“)

Der Deut­sche, die Deutsche selbstver­ständlich auch, hat es schwer mit sich, seinem und ihrem Humor. Das ist schon lange so und hat etwas mit dem Gemüt, der Mentalität zu tun. Wir Deutschen handeln, wenn man uns aktiv oder passiv in nüch­ternem Zustand betrachtet, meist vernünftig und wir fordern ebendieses Ver­halten gern durch lautes Appellieren ein. Humor, aber auch Wut und Schreie verzweifelter Ungerechtigkeit müssen hingegen um Erlaubnis fragen, ob gerade Platz für sie vorhanden sei. Meist ist dies nicht der Fall. Meist werden sie als ungerecht und hart empfunden, selbst wenn sie nur eine ver­ständliche Reaktion sind.

Gottlob – auch dieser Begriff ist höchst diskutabel – ist Vernunft, wie uns die Vernünftigen unter den Philosophen bislang erfolglos erklärten, höchst und zutiefst relativ. Erfahrungen hat da jeder. Denken wir an die Ermahnungen unserer Mütter zurück, doch endlich Vernunft anzunehmen – die einzig gültige, die der Mutter natürlich – und wenigstens sonntags eine vernünftige Hose anzuziehen. Jetzt, endlich jenseits der Pubertät und dem damit verbundenen Ärger, zeigt sich in diesem Konstrukt blanker Humor:

Vernunft, dieses oft als das höchste menschliche Gut bezeichnete Ding, verborgen im Gespinst einer Hose? Selbst der dröge Kant hätte hemmungslos gejauchzt.Vernunft ist nicht erst seit Aristoteles von variablen Prämissen abhängig – von den Prämissen der Herrschenden und deren Meinung. Damals, als wir noch pickelgesichtig um Selbst­bestimmung rangen, war es die Mutter und manchmal der Freund der so viel mehr konnte und durfte als wir selbst.

Manchmal, meist später, wenn einem das Pech der Siedlungsbauweise widerfuhr, waren es die Nachbarn, das Dorf, die gerade gegründete Familie, oft auch die Ökonomie in Form von potentiellen, aktuellen, dann bald doch ihren Laden schließenden Arbeitgebern. Oder es war dieses schlüpfrige Ding Zeitgeist, das uns Rückschritte als „Reform“, Spießertum als „modern“ und bloßen technischen Fortschritt als „Gewinn von Lebens­qualität“ vorgaukelte. Viel Raum zwischen Revolte und Resignation bieten alle Lebenslagen. Viel Raum für Witz, Ironie und Sarkasmus auch.

Oft entstehen Wut und Depression, wenn in allen oder auch nur in Teilen des eigenen Lebens Selbstbestimmung nie wirklich durch­gesetzt, nie zur Selbstverwirklichung reift, die Selbst­ver­wirk­lichung gar nur als Begriff, als Placebo einer Sinnbildung existiert. Ungeschick in der Le­bens­führung, das leider ohne Slapstick daherkommt. Oder doch? Hoffen wir´s? Schließlich macht Slapstick Schadenfreude.

Aber wie verhält es sich mit dieser Schadenfreude?

Haben sie sich dabei auch schon erwischt? Edel ist sie, die Fehlleistungen, Gebrechen oder das Aussehen ins krumme Visier nimmt, ganz bestimmt nicht – aber menschlich. Anders wird es je­doch, wenn wir es schaffen, unser eigenes Scheitern in Humor zu betten. Schadenfreude am eigenen Leben. Vielleicht ist es das, was uns Deutschen so schwer fällt und vielleicht ist es auch der Grund für den Mangel an klugen, lustigen Vorbildern. An Künstlern der Zunft des Komischen. An Köpfen, die es wagen, sich aus engen Vernunftsbandagen herauszuschälen, die sich selbst zu unserem Gespött ma­chen, uns gleichzeitig Entzerrungsspiegel vorhalten, die uns so lächerlich darstellen, wie wir wirklich sind.

Vielleicht ist der Mangel – wie auch dieses elende Jammern über einen doch nur vermeintlichen Mangel –schon wieder ein typisch deutsches Selbstbedienungsklischee. Sehr wahrscheinlich ist es so, denn es gibt keinerlei, geschweige denn repräsentative Statistiken mit humorbeweisenden Pegelwerten unterschiedlicher Nationen. Nicht einmal bundesdeutschlandsweit kann – dem stets schunkelbereiten Rheinländer bereitet dies durchaus Magengrimm – objektiv-quantitativ mehr oder weniger Humor nachgewiesen werden. Weder der seltsame Vorwurf, in einer Spaßgesellschaft zu leben, noch die nervtötende Dauerberieselung mit unlustig hohlen Comedyformaten ist für den Versuch eines Urteils eher kontraproduktiv. Und die Qualität verhält sich ohnehin ähnlich der Vernunft prämissenabhängig und ist in ihrer Ausprägung stets strittig. Doch eines ist hier zur Rettung des Klischees festzuhalten:

In Essen, also Deutschland, fand 2004 ein internationaler Kongress der Humorforscher statt. Wie die dazugehörige Internet-Seite damals verriet, hatte sich kein Werbesponsor für dieses Thema finden lassen.

Viel erfolgreicher in finanziellen Dingen und mit weitaus mehr Witz ausgestattet, war dagegen sicher das Treffen der Lungenliga im natürlich schweizerischen Davos, bei dem sich zahlreiche lustige Ärztevertreter aus aller Welt über die pulmonale Hypertonie auslachten. Gut, Letzteres ist Vermutung, doch ist nicht allein der Vereinsname der „Lungen­liga“ preisverdächtig?

Wo wir gerade bei der Lunge sind, und wo wir gerade beim Humor sind und bei der griesgrämigen Suche nach Vertretern deutscher humoristischer Unvernunft, findet sich hier, für manchen unvermittelt, doch für die meisten nach zu langer Wartezeit, derjenige, um den es hier geht. Um Hermann Harry Schmitz.

Hermann Harry Schmitz (* 12. Juli 1880 in Düsseldorf, † 8.August 1913 in Bad Münster am Stein)

Diesen wahren Sonderling der deutschen Literatur- und Humorgeschichte ist eine vernünftige Würdigung zu gönnen. Dieses als „Dandy vom Rhein“ bezeichnete Gesamtkunstwerk, das anno 2013 ganz bestimmt 133 Jahre alt geworden wäre, wenn es sich nicht schon mit 33 Lenzen sein fragiles Leben genommen hätte, lohnt der Ausgrabung. Warum sollen nur die, die Hermann Harry Schmitz damals kannten, lächelnd, aber entlarvt ins Grab gegangen sein?
 
Ein Interview mit Dr. Michael Matzigkeit kann einige Aspek­te des komischen, ironischen und außerordentlich skurrilen Werkes aufhellen. Immerhin ein Werk und ein Leben, dessen Grotesken, wie dessen Ende stets dem totalen Chaos zuliefen. Ein komi­scher Widersacher des deutschen Klischees war dieser HHS, der nicht nur an ihr, doch vornehmlich an seiner Lunge scheiterte.

„… Ich glaubte eine Form gefunden zu haben, habe mich aber getäuscht“, waren Schmitzens letzte Worte in einem Brief, in dem er Abschied von seinem kurz zuvor telegraphisch genommenen Abschied nahm und sein Leben dann doch der Browning übergab. Er hätte auch die beiden bereits ein Jahr zuvor verfassten letzten Sätze seines Textes „Warum mein Beitrag ungeschrieben bleib“ aus der Düsseldorfer Theaterwoche nehmen können: „Hinderlich wie überall, ist der eigene Todesfall. So blieb mein Beitrag ungeschrieben.

Viele mögen nun fragen, warum hingegen ausgerechnet dieser hier zu lesende Beitrag geschrieben werden musste. Doch Neugierige, die auch damals schon immer im elterlichen Kleiderschrank nach den Weih­nachtsgeschenken stöberten und manchmal auch fündig wurden, Menschen, die sich schon jetzt ver­gnügt vorarbeiten möchten, können sich im Internet unter http://gutenberg.spiegel.de/autoren/schmitz.htm bei Verwendung des eigenen Druckers das Ge­samt­werk zusammenzustellen.

Dem weniger Geizigen bieten die Buchhändler aktuell zwei Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme mit Hermann Harry Schmitz.

Eine einbändige, recht umfassende Sammlung, die aufgrund des Titels „Das Buch der Katastrophen“ nicht mit den namensähnlichen Ausgaben ab 1916 zu verwechseln ist, er­schien 1996 im L+L Verlag Düsseldorf.

Beim Grupello-Verlag Düsseldorf erschien 2000 unter dem Titel „Hermann Harry Schmitz – Ich bin der drittgrößte Mann des Jahrhunderts“ eine von Bernd Kortländer herausgegebene und kommentierte Fragmentensammlung, die dem interessierten Leser, dem eine Reihe von Geschichten bereits bekannt sein sollten, wertvolle Hinweise auf den Menschen Schmitz geben kann. Allein der Kladdentext ist purer göttlicher Kaufanreiz: „Der größte Mann des Jahrhunderts ist Zeppelin und ich bin der drittgrößte. Ich habe das mündlich.“

Zu empfehlen, doch leider nur noch in Antiquariaten zu erhalten, sind folgende Ausgaben:

1988 erschien eine erste Werkausgabe von HHS im Haffmanns Verlag, Zürich, herausgegeben von Bruno Kehrein und Michael Matzigkeit. Eine durchgesehene Neuauflage derselben Herausgeber ver­öffentlichte 1996 der Econ-Verlag, München.

„Wie ich mich entschloß, auf Händen zu gehen“ heißt eine Sammlung von „30 Katastrophengeschich­ten“ die 1989 im Eulenspiegelverlag (Ost-)Berlin erschien.

Sollten Sie gar eine Ausgabe, die zu Lebzeiten von Hermann Harry Schmitz, oder kurz nach seinem Tode erschien, in Händen halten, lassen Sie diese bitte nicht wieder los. Dies sind:

„Der Säugling und andere Tragikomödien“, Ernst Rowohlt Verlag, Leipzig 1911-12, Kurt Wolff Verlag, Leipzig 1913-18 und München 1921-28.

„Buch der Katastrophen“, Kurt Wolff Verlag, Leipzig 1916-18 und München 1922-29.

Abzuraten ist von den titelgleichen Ausgaben dieser Werke aus den Jahren 1940-43, da sie im Geiste dieser zutiefst unwürdigen Zeit zensiert wurden.

Wer nicht lesen möchte, sich einen fernsehlosen Abend oder eine langweilige Autofahrt durch etwas Chaos versüßen möchte, sollte sich das Doppel-CD-„Hörbuch der Katastrophen“ der Hörbuchedition A. Netschajew aus dem pro art tonlabor zulegen.

Genug Gründe gibt uns dieser Hermann Harry Schmitz, auch noch lange nach seinem Tod gesundheitsfördernd zu lachen. Gewissermaßen also eine laute, postmortale Hypertonie.