Ich habe Lydia Sandgrens „Gesammelte Werke“ gern gelesen, obwohl man die Geschichte um das verschwundene Multitalent und Genie Cecilia Berg, den Künstler Gustav Becker und den Möchtegernautor und Verleger Martin Berg mit seinen Kindern Rakel und Elis drastisch hätte kürzen können. Das Buch ist ein fast 900 Seiten dicker Schmöker mit Sogwirkung.
Zwei Kerle, die sich im Leben und im Scheitern üben, lieben dieselbe Frau. Der eine eher auf Abstand und im Geheimen, der andere heiratet sie. Doch die Überfliegerin, die mit dem kleinen Leben nicht zurechtkommt, ständig über soziale Hürden stolpert, hadert ebenfalls mit sich und flieht mit wenigen Worten des Abschieds. Bis ihre Tochter ihr durch die Lektüre eines Buches, das ein Vierter im Bunde schrieb, auf die Spur kommt.
Seine Frau ist gestorben und Antonio Bolivar lebt seitdem allein in einem kleinen Dorf am Amazonas. Als jemand Bücher aus der Stadt mit in die kleine Siedlung bringt, lernt Antonio lesen und freut sich auf immer neues Material, das per Boot bei ihm ankommt.
Dann geschieht etwas Schreckliches: Ein Engländer, der offenbar zu einer Gruppe leichtsinniger Abenteurer gehörte, treibt übel zugerichtet in einem Kanu an. Antonio weiß sofort, was geschehen ist. Ein Ozolot, in dessen Gebiet die Jäger offenbar eingedrungen sind und dessen Kleintiere sie getötet haben, hat sich gerächt. Antonio, der den Dschungel wie seine Westentasche kennt und in freundschaftlicher Beziehung zu den Indios steht, wird gezwungen, gemeinsam mit weiteren Kumpanen auf die Jagd zu gehen. Gewinnt die Natur oder gewinnt der Mensch? Denn darum geht es eigentlich in diesem Buch.
Was für ein tolles, starkes, berührendes und lehrreiches Buch!
Ich habe Linus‘ erstes Coming out als trans Mann damals hier auf Facebook verfolgen können. In seinem Buch schreibt er davon, „wie er der Mann wurde, der er schon immer war“. Auch auf seiner Website Ichbinslinus.de erzählt er über seine Erfahrungen und ist sowohl mit seinem Buch als auch seiner Website ein Rolemodel für alle Männer, denen es ähnlich ging und geht wie ihm.
Linus ist studierter Germanist und Blogger und arbeitet seit 2017 als Buchhändler in einem Berliner Buchladen. Mit 31 Jahren entschloss er sich endlich als Mann zu leben und einen langen, steinigen Weg auf sich zu nehmen. Dass das nicht leicht ist, kann man sich zwar denken, einigermaßen verstehen kann man es aber erst, wenn man Linus zuhört. Neben Hürden, die bei Behörden, bei ÄrztInnen, am Arbeitsplatz und selbst bei der Post zu meistern sind, weil es dauert, bis der alte Name geändert, der Körper angepasst ist, gibt es Anfeindungen, Ausgrenzung und Unverständnis. Manches ist von grundauf böse, gehässig und menschenverachtend, anderes wird unbedacht, in Unkenntnis geäußert und verletzt deswegen nicht weniger. Denn wir leben in einer patriarchen, binär geprägten Gesellschaft, die ein strenges Denkmodell lebt, in der kaum Platz ist für jene, die sich nicht in die altbekannten Muster einordnen lassen. Hilfe ist für trans Menschen nur bedingt vorhanden, wenn sie gestalkt, verunglimpft und beschimpft, vielleicht sogar körperlich angegangen werden. Verletzungen geschehen nahezu täglich.
Neben den dunklen Seiten gibt es aber auch Licht. Und davon erzählt Linus‘ Buch ebenfalls. Welche Freude und zugleich Angst er empfand, als er sich zum ersten Mal seinen Namen auf einen Kaffeebecher schreiben ließ, welchen großartigen Menschen er begegnet, wie sich sein Körper verwandelt und endlich zu einem wird, in dem er sich wohlfühlt. Wir begleiten ihn in seinem Buch durch Hochs und Tiefs und müssen uns an mancher Stelle selbst an die Nase fassen. Dringende Leseempfehlung!
Keigo Higashino wurde 1958 in Osaka geboren und hat Elektrotechnik studiert, bevor er eine Tätigkeit als Ingenieur in einem großen japanischen Elektrokonzern begann. Seine Lust am Schreiben entstand durch die Lektüre von Kriminalromanen. Als er endlich 1985 den begehrten Edogawa-Rampo-Preis gewann, entschloss er sich zu einer Karriere als Schriftsteller und gab seinen Vollzeitjob auf. Richtig begkannt wurde er allerdings erst mit „Das Gesetz der Meisterdetektive“. Mit „Geheimnis“, ein Buch, das auch verfilmt wurde, kam der Durchbruch.
Drei Einbrecher müssen sich verstecken und finden Zuflucht in einem verlassenen Gemischtwarenladen. Wie seltsam aber, dass in seinem Briefkasten Post landet. Und da die drei sonst nichts zu tun haben, lesen sie und tun noch mehr. Was sie schließlich herausfinden ist, dass die Zeit innerhalb des Ladens offenbar einen anderen Takt hat, als überall sonst oder ist das nur eine Illusion? Im Zuge der Geschichte wird das Geheimnis entschlüsselt, werden Fäden gesponnen und das Märchen um Keigo Higashinos „Kleine Wunder um Mitternacht“ findet ein Ende.
Ein netter, kleiner, nicht sehr anspruchsvoller, aber unterhaltsamer Roman.
Ich habe bereits Daniel Schreibers Biographie über Sontag und sein Essay „Zuhause“ sehr geliebt. Auch dieses Buch von Daniel Schreiber mit dem Titel „Allein“ hat mir sehr gefallen.
Wie lebt man als queerer Mann allein in einer Gesellschaft, die auf das Ideal der heterosexuellen, konditionierten Zweisamkeit mit ein bis drei Kindern getrimmt ist und traditionell binäre soziale Modelle bevorzugt? Wie einsam ist man mitten in der Pandemie, einer Zeit in der Schwebe? Was macht uns aus? Muss Leben Sinn haben oder lebt es sich auch ganz gut ohne? Haben Stricken, Häkeln und Gärtnern therapeutischen Wert?
Viele Menschen leben allein, freiwillig oder gezwungener Maßen. Was manchmal Freiheit und Selbstbestimmtheit sein kann, löst zu anderer Zeit einen unstillbar erscheinenden emotionalen Hunger aus, verursacht seelischen Schmerz. Alleinsein ist schambesetzt. Menschen, die alleine leben, fühlen sich oft, als scheiterten sie, weil sie die Gesellschaftsideale nicht erfüllen können oder wollen. Alleinsein wird als Indiz für die eigene Unbedeutsamkeit und fehlende Attraktivität wahrgenommen. Und doch: Alleinleben ist eine Lebensform unter vielen möglichen Optionen. Sich völlig abzuschotten jedoch, macht krank. Menschen sind soziale Wesen, spiegeln und erfahren sich in Anderen, was nicht gegen das Alleinleben spricht. Freundschaften spielen eine wesentliche Rolle bei der Ausrichtung, nicht nur des Lebens als Single. Sie können je nach Konstrukt zu unverbindlich und fragil sein, um Halt und soziale Orientierung zu geben oder sinnstiftend, tröstend und gemeinschaftsbildend wirken.
Schreiber bemüht eigene Erfahrungen und Lektüren, zitiert PhilosophInnen und SoziologInnen, um all die Fragen rund um das Alleinsein, die Einsamkeit, die Liebe, Familie und Freundschaft zu beleuchten. Er laviert sicher, sehr persönlich und offen durch die Minenfelder der Emotionen, Theorien und Erlebnisse, beschreibt Sehnsüchte und Enttäuschungen. Wir haben Teil auch an der Hoffnung, an der Entwicklung hin zu selbstwirksamen Methoden und Erkenntnissen, die uns zeigen, wie ein Leben, mit all seinen Unwägbarkeiten allein oder zu mehreren geführt werden kann und darf.
Just in den Tagen, in denen mein Körper mir sagt, widme Dich mir, tue mir Gutes, denn die Zeiten werden härter, unbarmherzig… die Menschen auch, kam mir Wibke Ladwigs Buch „Heimbürokantine“ ins Haus geflattert.
Es erinnerte mich daran, dass Kreativität und Leben auch in der Küche zuhause sind. Dass genau dort, daheim, eine Zuflucht ist, die warm und heilend sein kann, wenn man sich einlässt, die Uhren auf slow stellt.
Wibke erzählt von Erinnerungen an den Geschmack und die innere Landschaft der Kindheit, dem Hauswirtschaftsunterricht von Schwester Veronika, positiven Veränderungen in der sonst so bedrohlichen Zeit der Pandemie, regelmäßigen Mahlzeiten, Linsen und Stachelbeeren, nach Bärlauch duftenden Wäldern, la France, Nachbarn, Markttagen bunt gemischtem Porzellan… und vor allem von Genuss.
Liebe Wibke – ich LIEBE dieses Buch…!
Lieber Hädecke Verlag, liebe Graffs, alle zusammen… superschön gestaltet! Das macht Spaß! Großartig!
Ich habe Wolfgang Niedeckens mehrteilige Dokumentation „Bob Dylans Amerika“ auf Arte gesehen und mir daraufhin diesen Band aus der KiWi-Musikbibliothek und die Chronicles von Bob Dylan angetan. Auch den Reclam-Band mit Bob Dylan-Texten habe ich mir zugelegt und sie – begeistert – in Teilen in meinen Bildern verarbeitet. Im Plattenschrank meines Mannes steht Dylans Musik.
Ohne Dylan, so sagt Wolfgang Niedecken, sei er nie Musiker geworden. Es gibt zahlreiche Coverversionen von Dylan-Songs, die er veröffentlichte. Schließlich macht er sich als erklärter Verehrer seines Vorbilds auf Spurensuche, reist nach Amerika und besucht Weggefährten, Maler, Musiker, Bewohner einstiger Stationen des Komponisten, Sängers und Nobelpreisträgers für Literatur. Gitarre, Mundharmonika, Orgel und Klavier waren die Instrumente, die er beherrscht und die seine Musik, neben seiner eingängigen Stimme so unverwechselbar machen.
Die Personen, die Niedecken auf seiner Reise begegnen, sind nicht weniger schillernd und interessant, als Dylan selbst. Niedecken ist ihm mehrfach persönlich über die Füße gelaufen und zehrt noch heute davon.
Die Lektüre hat mir sehr viel Spaß gemacht, die Filme auch, das Malen zu den Texten noch mehr und die Musik ruft eine Zeit ins Gedächtnis, die von der Beat-Generation gezeichnet ist. Musik-, Weltgeschichte und Geschichten paaren sich mit den höchst individuellen Erzählungen und Texten dieser beiden Herren.
Die amerikanische Autorin Ursula K. Le Guin schrieb phantastische Literatur, politische Utopien und Essays. Sie starb 2018 in Oregon. Eines ihrer Werke „No Time to Spare“ habe ich nun gelesen. Mich reizte die Tatsache, dass Le Guin es mit 83 Jahren schrieb, es in den Auszügen, die ich las, geradlinig und direkt zur Sache ging.
Nun: Ich werde kein Fan ihrer Kunst. Einige Texte sind ganz gut, zeigen Lebenserfahrung und gute Beobachtungsgabe. Über andere habe ich mich geärgert oder sie nach dem Anlesen überblättert. Im ersten Teil des Buches spricht sie über das Altern. Ein Thema, das mich noch am meisten berührt hat und das sie klar und präzise zu umreißen versteht.
Den zweiten Teil widmet sie ihrer Katze. Man muss wohl KatzenliebhaberIn sein, um das zu mögen. Im dritten Teil soll es um Literatur gehen. Doch weit gefehlt und an Banalität nicht zu überbieten. Gleich im Anschluss fügt sie wieder ein Histörchen übers Kätzchen ein.
Im vierten Teil: Politik und Gesellschaft. Stellenweise sträuben sich mir die Haare, wenn es z.B. über die schnieken Uniformen von Soldaten geht. Ihr Text über Wut ist nett, aber durchsetzt von Gemeinplätzen. Und dann kommt wieder die Katze auf leisen Pfötchen…
Den vierten Teil des Buches habe ich nur noch überflogen. Thinking about what matters?
Die Möglichkeit, dass ich andere Bücher von ihr lese, besteht definitiv nicht.
Taylor Jenkings Reid – The Seven Husbands of Evelyn Hugo
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von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...
Ein alternder Star, der sieben Ehen hinter sich hat, bietet einer unerfahrenen Autorin großzügig die Rechte an ihren Memoiren an. Monique Grant kann zunächst ihr Glück nicht fassen, als man ihr ein Exklusivinterview gewährt.
Doch darum, so erfährt sie schließlich, soll es gar nicht gehen. Statt eines Interviews soll sie eine Biografie schreiben. Evelyn Herrera, die in Hell’s Kitchen in ärmlichen Verhältnissen aufwächst, änderte ihren Namen und erklomm ehrgeizig die Sprossen der Karriereleiter innerhalb der Unterhaltungsindustrie. Sieben Ehemänner darf sie am Ende der Geschichte aufzählen. Doch die Farbige, die in den 1950er Jahren erfolgreich ist, weiß, dass sie in dieser Zeit nicht ohne Segen eines Mannes auskommt. Sie ist unerbittlich ehrgeizig, verbirgt ihre kubanischen Wurzeln und färbt sich die Haare blond.
Es sind nicht die einzigen Lügen, auf denen sie ihr künftiges Leben aufbaut. Denn Evely ist bisexuell. Ihre große Liebe ist eine Frau. Doch Monique stellt, wie alle zuvor, zunächst die Frage, welchen ihrer Ehemänner sie am meisten geliebt habe. Schon früh erfahren wir, dass es die Geliebte gibt. Doch ist das wirklich das einzige Geheimnis, das sie so lange gehütet hat? Und ist das einzig Interessante an Evelyn wirklich, dass sie sieben Ehemänner hatte?
Sprachlich seicht, inhaltlich nicht ohne Klischees und Oberfläche und dennoch eine ansprechende Variante eines Unterhaltungsromans, der einen an Marilyn Monroe, Elisabeth Taylor oder Rita Hayworth denken lässt.
Selbstfürsorge. Ein Thema, das mich seit meinem Klinikaufenthalt beschäftigt.
Ich könnte dieses Wort auch mit „Verantwortung für sein eigenes Wohlbefinden übernehmen“ übersetzen. Und weil das so ist, bedeutet der Ansatz von Svenja Gräfen, dass man ruhig ein wenig über den Tellerrand schauen darf. Denn sie behauptet, dass das Verändern negativer Glaubenssätze nicht aus dem System der Selbstausbeutung hinausführt, sondern einen schlicht nur neu konditioniert und wieder fit macht, um dann wieder daran zu kranken. Da ist durchaus etwas dran, denn manchmal ist man nicht selbst oder das eigene Denkmuster das Problem, sondern das System, in das man sich begibt. Klug also, wer das zu unterscheiden versteht und für sich die Situation ändern kann.
Dennoch läuft sich ihr Buch irgendwann tot, insbesondere wenn es um Aktivismus und Feminismus geht. Eine Leseempfehlung gebe ich trotzdem.
Martins Familie in Stefanie vor Schultes Roman „Junge mit schwarzem Hahn“ kommt vor seinen Augen ums Leben und er in einer fernen Zeit, in einem unwirtlichen Umfeld gerade so über die Runden. Er besitzt nichts außer einem sprechenden Hahn, Freund, Vertrautem und Unterstützer, in dem seine Mitmenschen den Teufel zu erkennen glauben. Martin ist klug und das macht ihn in ihren Augen verdächtig. Reiter tauchen auf, die Kinder stehlen, ein Maler und ein Invalide, die sich des Jungen annehmen. Und schließlich macht sich Martin auf zur Fürstin, um das Schlafspiel zu gewinnen.
Die Geschichte erinnert an ein Märchen, samt rettendem Helden. Schade ist, dass Frauen in dieser Geschichte eigentlich nur als böse Frau, als Anhängsel von Mann oder als giftiges Tratschweib vorkommen. Nun sind Stereotype in Märchen nicht untypisch… Schade fand ich es dennoch.
Die Geschichte ist unterhaltsam und packend geschrieben. Ein Favorit wird das Buch allerdings nicht.
Stefanie H. Martin – Die Liebenden von Bloomsbury – Band 1, Virginia und die neue Zeit
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von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...
So entsteht ein Leseprojekt! Beim letzten stand Susan Sontag auf dem Plan. Diesmal sind es, Dank sei Stefanie Hohn (aka Stefanie H. Martin), Virginia Woolf, Vanessa Bell und Vita Sackville-West.
Stefanie Hohns erstes Buch der Trilogie um die drei Bloomsbury-Frauen heißt „Virginia und die neue Zeit“. Es ist großartig recherchiert, macht von der ersten Seite an Spaß und bringt auch jene auf die Spur dieser faszinierenden Schriftstellerin, die sich bisher nicht trauten.
Mich hat es richtig angefixt, alte Lektüre aus dem Regal zu klauben und mir ein paar neue Schätzchen zu besorgen. Und auf die zwei nächsten Bände, die Ende des Jahres und im Frühjahr des nächsten erscheinen freue ich mich jetzt schon.
Im ersten Band wird die Zeit ab dem Umzug der beiden Stephens-Schwestern nach Bloomsbury, die Entstehung des Bloomsbury-Kreises, Vanessa Stephens Heirat mit Clive Bell und Virginas erste Schaffensphase geschildert. Die für die Zeit eigenwillige, freigeistige und offene Lebensform, Virginias Klugheit und Belesenheit, ihre Ausdrucksstärke, aber auch das Los ihrer Krankheit, Vanessas Kunst, der besagte Künstler- und Philosophenkreis, den sie und ihr Bruder Thoby ins Leben rufen und diverse amouröse Verstrickungen sorgen für reichlich Spannung und Konfliktstoff.
Der Roman fängt auch die Atmosphäre der noch vom viktorianischen Zeitalter geprägten britischen Gesellschaft brillant ein, die einen starken Gegensatz zur Denkungsart der Frauen bildet. Stefanie Hohn findet den richtigen Ton dafür. Er erinnerte mich ein wenig an Jane Austen.
Bücher von Paul Auster sind mir während meines Studiums der Anglistik in Köln intensiver begegnet. Ich glaube, „Stadt aus Glas“ war das erste Buch, das ich während meiner Buchhändlerinnenzeit von ihm las. Inzwischen ist das so lange her, dass es zweifelsohne Sinn ergäbe, mir die New York Trilogie nochmals vorzunehmen.
Das Buch, von dem ich Euch heute erzählen will, ist ebenfalls ein Re-Read. Wie bei vielen Büchern von Auster hat der Protagonist, David Zimmer (im Roman „Mond über Manhattan“ bereits Figur), Erschütterndes zu verarbeiten. Der Universitätsprofessor verliert seine Frau und seine Kinder bei einem Flugzeugabsturz. Er flüchtet sich in Alkohol, die Einsamkeit einer hässlichen Einsiedlerklause und schließlich ins Schreiben über den Stummfilmstar Hector Man. Die Veröffentlichung seines Buches veranlasst die Ehefrau des bislang als verschollen geglaubten Schauspielers Zimmer zu kontaktieren. Sie behauptet Hector Man sei noch am Leben, stehe aber an der Schwelle des Todes und der Autor möge sich beeilen, ihn zu besuchen. Der jedoch verweigert sich und übersetzt lieber die Autobiographie Francois-René de Chateaubriand, „Mémoires d’outre-tombe“, zu der es eine Reihe von Anspielungen in dem Buch gibt. Auch hier vermischen sich Ebenen der Illusion mit der Realität, die wiederum im Roman Austers zur Illusion werden. Eines Abends taucht eine fremde Frau vor seiner Haustür auf, um ihn davon zu überzeugen, seine Meinung noch zu ändern.
Wie Auster ist Zimmer Autor, im selben Jahr geboren. Im Buch wird der fiktive Film „Das Innenleben des Martin Frost“ beschrieben. Auster hat den Film Realität werden lassen, ein Drehbuch geschrieben und Regie geführt. In seinen Büchern tauchen Figuren oft nochmals auf.
Schon in der Stadt aus Glas wechselt der Protagonist seine Identitäten. In 4, 3, 2, 1 erleben wir vier verschiedene Möglichkeiten eines Lebens. Oft sind Austers Figuren Schriftsteller, die im Chaos vergeblich nach Orientierung suchen, weil ein Chaos das nächste gebiert und erneut nach Ordnung verlangt. Ordnung, das ist vornehmlich Sprache, das Sich-Wiederfinden im Erklären, Versprachlichen der Welt, jenseits aller Schicksalsschläge und Schmerzen.
Das Buch ist ein Meisterstück. Was ist wahr, was eine Lüge? Wo beginnt Illusion und wo die Wirklichkeit? Tod und Leben, Fiktion, Traum und Realität, Identität und Zuschreibung – in Austers Händen verwandelt sich das eine in das andere und umgekehrt. Alles ist im Fluss und ändert ständig seine Form. Gestalt gewinnt nur das, was sich beschreiben lässt.
Olivia Laing – The Lonely City, Adventures in the Art of Being Alone
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von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...
Zu diesem Buch mag ich gar nicht so viel sagen, denn ich denke, Ihr solltet es selbst für Euch entdecken.
Was heißt Einsamkeit? Was bedeutet es, nicht in Kontakt oder gerade in Kontakt mit anderen zu sein, mit anderen eine Verbindung aufzubauen und was bedeutet das eine und das andere für unser Leben? Hilft uns Technologie bei der Überwindung von Einsamkeit oder hält sie uns gefangen? Warum übt sie einen Reiz auf uns aus?
Als Olivia Laing nach New York zieht, erlebt sie inmitten einer stark belebten Stadt, was Einsamkeit bedeuten kann. Der Zustand fesselt sie und sie begibt sich auf die Suche, indem sie sich auf die Spuren von Künstlern begibt.
Andy Warhol, David Wojnarowicz, Edward Hopper, Wittgenstein, Rimbaud, Henry Darger u.v.m. finden Beachtung, Aids, Social Media und Queerness sind Themen, denen sie sich widmet.
Ein berührendes, kluges, nachhaltiges Buch ist ihr Buch „The Lonely City, Adventures in the Art of Being Alone“, für das man sich Zeit nehmen muss.
Nina Kunz arbeitet seit 2017 als Kolumnistin und Journalistin für „Das Magazin des Tagesanzeigers“. Ihre Texte erscheinen auch in der NZZ und der ZEIT. 2018 und 2020 wurde sie zur besten Kolumnistin des Jahres gewählt.
Als solche, nämlich als Kolumnen, sollte man diese in diesem Bändchen, „Ich denk, ich denk zuviel“ höchst amüsante Stückchen zu Sinnkrisen, Selbstzweifeln und Sehnsüchten auch lesen. Dann lohnt die leichte, intelligente und erhellende Lektüre, geschrieben von einer Vertreterin der Generation meiner Kinder, die so manches anders sehen als wir.
Martina Borger und Maria Elisabeth Straub – Katzenzungen und Sommer mit Emma
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von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...
Borger und Straub heißt das Autorenpaar, das in „Katzenzungen“ keinen Stein auf dem anderen lässt: Drei Freundinnen verabreden sich zu einem gemeinsamen, mehrtägigen Ausflug nach Amsterdam. Die Ereignisse werden jeweils aus den Perspektiven und in den Worten der Protagonistinnen dargestellt und blättern nach und nach ihre gemeinsame Vergangenheit auf.
Der Ton der so unterschiedlichen Charaktere wird dabei hervorragend getroffen. Die Vergangenheit der Drei hält einiges an Geheimnissen bereit, die sich zuletzt in einem furiosen, zerstörerischen Inferno entladen.
Nach „Sommer mit Emma“ ist es das zweite Buch von Martina Borger und Maria Elisabeth Straub, das ich lese. Auch im Vorgänger werden Fehlschläge, Versäumnisse und Rachegelüste thematisiert, die letztendlich zum Untergang führen.
Nichts für zarte Gemüter, aber so packend, dass man in einem Zug durchliest.